Was ist eigentlich noch guten Gewissens tragbar?

Es gibt Fragen, die man einer*m Textiler*in einfach nicht stellen darf, weil man nur eine vage oder nicht zufriedenstellende Antwort darauf bekommen wird. Das sind aber meist genau die Fragen, die viele von euch gerne klar beantwortet hätten – und da gehört die Frage „Was ist eigentlich noch tragbar?“ sicher dazu.

Ich versuche euch jetzt also die Gedankengänge einer Textiltechnologin näher zu bringen, die die Fragen „Was ist jetzt eigentlich das nachhaltigste Textil?“, „Was kann ich noch guten Gewissens tragen?“ und „Was ist denn überhaupt noch tragbar?“ so zu beantworten versucht, dass es am Ende irgendwie Sinn macht.

Zunächst einmal müssen wir uns um das Wort „Nachhaltigkeit“ kümmern. Was ist das eigentlich? Was bedeutet Nachhaltigkeit im Jahr 2019 noch, wo es doch von der Marketingmaschinerie mit Füßen getreten wird und man ungefähr Alles und Nichts damit aussagen kann.

Wenn ich mir jetzt also ein Textil anschaue, nehmen wir als Beispiel ein weißes Bio-Baumwoll-T-Shirt mit 20% recyceltem Baumwoll-Anteil, und ich frage mich „Wie nachhaltig ist dieses T-Shirt?“, dann ist das gar nicht mal so einfach zu beantworten.

Willkommen im „Wie nachhaltig ist dieses T-Shirt?“-Gedankenkarussell!

Um euch zu zeigen, warum es mir so schwer fällt, eine so profan scheinende Frage zu beantworten, nehme ich euch auf einen Spaziergang durch mein Hirn mit:

„Bio-Baumwolle. Die ist also nicht genmodifiziert. Der*die Färber*in hat gute Arbeit geleistet, Bio-Baumwolle ist nämlich gar nicht so leicht zu färben, weil sich jede Partie anders verhält. Ist eben Bio und da ist nicht jede Faser gleich. Oh, und außerdem hat der*die Stricker*in hoffentlich nicht allzu viele Schwierigkeiten gehabt. Bio-Baumwolle kann, je nach Herkunft, klimatischen Verhältnissen und Qualität, bei der Verarbeitung schneller reißen. Bio bedeutet nämlich nicht gleich hochwertig – da kommt es jetzt auf das Unternehmen an, ob es qualitativ minderwertige oder hochwertige Bio-Baumwolle gekauft hat.

Der recycelte Anteil macht die Beurteilung nicht leichter. Recycelte Baumwolle ist meist Baumwolle aus geschredderten Textilien. Das bedeutet kurze Fasern, bei denen es kaum möglich ist, sie in ein anständiges Garn zu verspinnen. Diese recycelten Fasern beizumischen, setzt die Qualität des Produktes definitiv herab. Das ist, als würde man versuchen mit kurzen und langen Fäden eine anständige Kordel zu drehen. Jedes Kind weiß, dass das weniger Spaß macht, als die Kordel nur mit langen Fäden zu drehen, und dass das Ergebnis mit den kurzen Fäden nicht sonderlich stabil sein wird.

Wenn wir jetzt also – dank Recycling-Baumwolle – ein eher nicht so stabiles Garn haben, und wenn das Unternehmen dann auch noch eine eher minderwertige Bio-Baumwolle eingekauft hat, dann können sich auch schneller mal Löcher bilden, weil es eben mehr Dick- und Dünnstellen im Garn gibt oder weil das T-Shirt nach einer bestimmten Anzahl an Waschgängen der Beanspruchung nicht standhält.

Ist das jetzt gebrauchsökologisch betrachtet nachhaltig, wenn ich zwar Bio-Baumwolle mit recycelter Faser habe, das T-Shirt aber schneller ein Loch bekommt und ich so schneller ein neues brauche – wie steht da der Ressourceninput im Verhältnis zum Nutzen?

Wenn ich also anstelle der recycelten Baumwolle auf teure, hochwertige Baumwolle setze und hier Elasthan reinmische, dann wäre die Nutzungsdauer länger, was aus gebrauchsökologischer Sicht wiederum „nachhaltiger“ wäre.

Aber…wenn ich jetzt Elasthan verwende, ist die Materialmischung nicht gebrauchsökologisch nachhaltig, weil Elasthan eine erdölbasierte Chemiefaser ist, die in der Waschmaschine Mikroplastik verliert. Außerdem gibt es hier Abzüge in Punkto Entsorgungsökologie, weil meine Elasthan-/Baumwollmischung nicht biologisch abbaubar und somit nicht kreislauffähig ist. Und überhaupt: Warum denn überhaupt Baumwolle, ist Baumwolle als Faser an sich wirklich zukunftsorientiert? Das sollte ich als Ingenieurin jetzt mal für das jeweilige Produkt durchkalkulieren, Waschproben machen und am Ende alles miteinander vergleichen…“

Und so weiter und so fort.

(Diese Gedanken basieren auf meinen persönlichen Erfahrungen in der Industrie und auf Forschungsergebnissen des Lehr- und Forschungszentrums Reutlingen.)

Welche Materialien sind eigentlich wirklich nachhaltig? Foto: (c) Unsplash / Mel Poole

Ihr seht schon, wir sind bei Problem Nummer eins angelangt. Und dieses Problem ist wirklich auf alle Aspekte in der Textilindustrie übertragbar. Es ist schwer zu pauschalisieren, aber nicht selten steht man vor dem Dilemma, was in Bezug auf Nachhaltigkeit im technologischen/gebrauchsökologischen Sinn, im produktionsökologischen Sinn und/oder im entsorgungsökologischen Sinn am sinnvollsten ist.

Und was mit der Humanökologie?

Wenn ich die oben genannten Aspekte in meinem Hirn durchgespielt habe, kommt der emotionale Part hinzu. Denn mein Kleidungsstück soll ja auch humanökologisch nachhaltig sein. Damit sind die altbekannten Sozialstandards gemeint, die alle Stationen des Wertschöpfungsprozesses abdecken sollen. Mittlerweile gehört für mich auch die vegane Diskussion dazu. So ist beispielsweise aus textiltechnologischer Sicht Wolle die hundertprozentig perfekte Wunderfaser. Durch ihren unethischen Fasergewinn ist sie für mich aber definitiv mit einer emotionaler Diskussion verbunden.

Puh, jetzt ist der erste Teil meines Gedankengangs zum Thema „Wie nachhaltig oder tragbar ist das T-Shirt eigentlich?“ abgeschlossen. Das Problem ist, dass viele nur bis zur Produktion denken. Sagen wir mal, wir haben ein T-Shirt, das alle oben genannten Kriterien erfüllt und wir waschen es viel zu oft mit einem konventionellen Waschmittel, stecken es danach noch in den Trockner – oder noch schlimmer, wir ziehen es nur fünf Mal an –, dann haben wir es erfolgreich geschafft, aus dem super grünen Textil, eine ganz schöne Ressourcenfalle zu machen.

Okay, CUT, zurück zum Anfang.

„Humanity has the ability to make development sustainable – to ensure that it meets the needs of the present without compromising the ability of future generations to meet their own needs.” (Hardtke/Prehn 2001, S. 58)

Es gibt zig verschiedene Definitionen von Nachhaltigkeit, aber diese gefällt mir am besten, weil es danach fragt, wie wir konsumieren können, sodass es auch noch in Zukunft möglich ist, auf diesem Planeten zu leben. Und da komme ich jetzt „leider” mit einer Aussage, die ihr vielleicht schon öfter gehört habt.

Tragbar ist das, was so lange getragen wird, bis es in seine Einzelteile zerfällt, und wenn man diese Einzelteile dann auch noch in Putzlappen umfunktioniert. Wir können uns noch so oft über die nachhaltigste Faser oder den nachhaltigsten Färbeprozess unterhalten. Solange wir nicht sparsamer mit unseren Ressourcen umgehen und gedankenlos konsumieren, ist kein Textil hundertprozentig nachhaltig oder tragbar. Das heißt: Wenn wir weiter so konsumieren wie bisher, ist viel „Nachhaltigkeit“ im Textilbereich einfach nur großer Mist. Wenn aber Forschung und Innovation Hand in Hand mit Konsumreduktion und einem bewussteren Konsumverhalten gehen, Firmen ihr Qualitätsmanagement ernst nehmen und dabei auch auf die humanökologischen Auswirkungen Rücksicht genommen wird, dann macht es Spaß eine Antwort auf die Frage „Was ist eigentlich noch tragbar?“ zu finden.

Und was ist jetzt überhaupt noch tragbar?

Zurück zur Wertschätzung von Kleidung

Und das ist jetzt wiederum eine Antwort, die vielen von euch wahrscheinlich schon auf die Nerven geht. Aber wir haben heutzutage ein ganz großes Problem mit diesem Begriff. Wir müssen wieder Wertschätzung finden – für die Menschen hinter dem Produkt, für den Entstehungsprozess und für das Produkt an sich. Wir müssen bereitwillig mehr Geld für eine menschliche Produktion zahlen wollen und öfter Oma mal beim Socken stopfen zuschauen. Unser Konsum ist in den letzten Jahren exponentiell explodiert – und das ist weder tragbar noch nachhaltig.

Verlängerung der Nutzungsdauer von Kleidung

Ich will nicht mit irgendwelchen Studien um mich werfen, aber wir tragen unsere Kleidung viel zu kurz, werden sie viel zu schnell los oder ersetzten sie durch Neues. Gehen wir mal davon aus, dass alleine die Produktion eines Baumwoll-T-Shirts, das ca. 240-250 Gramm wiegt, einen Ressourcenverbrauch von 1,73 Tonnen mit sich bringt, dann ist es eigentlich schon peinlich, dass unsere Gesellschaft es heutzutage bewiesener Maßen nicht schafft, das Shirt öfter als zehn Mal im Schnitt zu tragen. Wir müssen wieder anfangen, unsere Kleidung so lange zu tragen, bis sie wirklich ausgedient hat, und nicht nur solange sie trendy ist. Und wenn ihr da keine Lust drauf habt, ist vielleicht ein Kleiderverleih, eine Kleidertauschparty oder der Secondhand-Store eures Vertrauens die richtige Adresse (das Secondhand-Thema ist, für alle, die jetzt kritisch die Stirn runzeln, auch ein Thema für sich – würde hier aber den Rahmen sprengen ). Hauptsach dem Produkt wird eine angemessene Nutzungsdauer ermöglicht.

Die ultimative Faserfrage

Müsste ich mich jetzt für eine Faser entscheiden, würde ich wahrscheinlich Lyocell nennen. Dabei handelt es sich um eine regenerative Cellulosefaser. Und wer genau wissen will, was hinter diesem langen Wort steckt, darf gerne hier mal vorbeischauen. Grob gesagt, ist Lyocell eine Chemiefaser auf Basis eines natürlichen Rohstoffs, der Cellulose, die aus Holz gewonnen wird. Meine Entscheidung liegt vor allem darin begründet, dass bei dieser Faser sowohl der Flächenbedarf als auch der Wasserverbrauch massiv geringer ist als bei Baumwolle. Im allgemeinen Vergleich von der Umweltbelastung pro Tonne Faser schlägt Lyocell sowohl Baumwolle als auch Polyester und Polypropylen, also all die Fasern, die aktuell den weltweiten Faserverbrauch größtenteils ausmachen (vgl. Statistiken der Firma Lenzing, Folien 21-23). Die technologischen Eigenschaften von Lyocell sind toll und das Tragegefühl unschlagbar.

Und wenn jetzt immer noch unklar ist, was ich mit den letzten 1400 Wörtern sagen wollte:

Es gibt nicht die eine Antwort auf die Frage. Es gibt viele und im Endeffekt kommt es auf jede*n Einzelne*n von uns an. Wenn du etwas Neues kaufst, dann ist es tragbar, wenn du es wirklich brauchst und wenn deine Art der Nutzung dem Textil und der investierten Zeit, Arbeit und Ressource gerecht werden. Sprich, wenn die Verringerung des Konsumniveaus und die Verlängerung der Nutzungsdauer Hand in Hand gehen.

Titlbild: (c) Andreea Pop via Unsplash

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4 Antworten auf „Was ist eigentlich noch guten Gewissens tragbar?“

Wie flauschig machen sich Moral und Gewissen bemerkbar? Ist nicht-zirkuläre oder toxisch produzierte Mode körperlich zu ertragen? Mir gefällt Deine Konsequenz darin, den Musterfall der persönlichen Verantwortung in der Kaufentscheidung ethisch korrekt bis ins klitzekleine Detail weiterzudenken und mit den ökologischen Fußabdrücken der anderen beteiligten Käufer und Produzenten aufzusummieren, auch wenn dies zeitweise ins Paradoxe führt. Werden die zusätzlichen Komponenten Bequemlichkeit, geringere Kaufkraft ärmerer Leute, Stress, Hektik, Rasanz, Professionalität der Werbung sowie Mitläufertum miteinbezogen, lassen sich zuwenige Kunden auf ein derartig überkomplexes Entscheidungs-Karussell ein. Hier sollen die Regierungen und Firmen nachhaltige Angebote erleichtern. Zeit, dass die Mode der veganen Avantgarde aus dem Nischendasein der von Trendsettern entdeckten Marktlücken hervortritt und für einen breiteren Kundenstamm zugänglich gemacht wird. Die vegane Schnittmenge der beispielsweise 46 mehr oder weniger fairen Labels in https://label-online.de/suche/f0/sector%253ABekleidung%2Bund%2BSchuhe/ und deren akribische Qualitätskontrolle durch gegen Greenwashing immune Institutionen beschäftigt hoffentlich irgendwann sogar die PR-Abteilung von Großunternehmen, denn nachhaltig muß sich wirklich jeder leisten können. Wenn die komplette Wirtschaft nicht nachhaltig wird, haben wir keine Chance. Allein in https://de.wikipedia.org/wiki/Naturfaser werden ca. 200 Naturfasersorten genannt… https://sensiblochamaeleon.blogspot.com/2019/01/materialien-fur-eine-nachhaltige.html versucht, die wesentlichen materialien aufzulisten. Die blitzschnell erfinderische und ach so verrückte Mode reagiert wie ein feinsinniger Seismograph auf turbulente Umweltkatastrophen und desaströse gesellschaftliche Tendenzen in verzweifelter Ironie. Vor Jahren Paranoia Chic und Stealthwear, im Großmarkt versteckte http://urbancamouflage.de/ Camouflage Artists. Datenträger, Hosenträger, intelligentes Gewebe, flexibles Solarzellengewebe bald mit Photosynthese? Kleidung aus Plastikmüll boomt seit einigen Jahren. Nun der neuste Schrei: Sweatshirts, Jacken und Taschen aus upgecyceltem Malervlies, das aus geschredderten Altkleidern hergestellt wurde. Das Karussell dreht sich nach dezentem Energieverlust schwungvoll weiter.

Ich verstehe deine Punkte und ich denke, es ist klar, dass dieses Thema mit einem Artikel nicht besprochen ist – dafür ist das Ganze zu Komplex!
Der Gedankenanstoß für meine Kernaussage war vor allem der, dass wir bei dem aktuellen Konsumniveau den Markt bspw. ressourcenbedingt nie mit Naturfasern decken könnten, das ginge nur mit einer parallelen Reduktion des Konsums.
Und gerade bei deinem letzten Aufgeführten Punkt bin ich total bei dir, denn der Recycling Trend ist in meinen Augen auch sehr oft ein marketingtechnisches Tool, Probleme last minute zu beheben, anstatt die ganze Problematik “Textilmüll” an sich zu hinterfragen.
Dass alle an einem Strang ziehen müssen, da stimme ich dir natürlich auch vollkommen zu, denn die Verantwortung auf den Konsumenten alleine abzuwiegeln ist definitiv, wie oben gesagt, keine Lösung.
Ich danke dir auf jeden Fall sehr für deine Gedankengänge! Genau so macht die Arbeit an solchen Artikeln Spaß

Viele Grüße

Franziska

Vielen Dank über diese tolle Übersicht. Ich freue mich immer, wenn ich Beiträge über Nachhaltigkeit lese. Ich finde, dass nachhaltige Produkte nicht nur natürliche Ressourcen schont, sondern bewahrt die Umwelt auch vor schädlichen Einträgen. Deswegen meine Mutter sucht immer nachhaltige Garne, weil sie sich perfekt zum Häkeln oder Stricken mit kleinem Geldbeutel eignet. Und auf der Suche einem Garn-Shop bin ich auf dieser Seite gelandet: https://www.natur-garn.shop/garn