Wie designen Unternehmen Mode der Plus Size Kategorie beziehungsweise besonders kleine Größen? Welche Herausforderungen gibt es beim Design und wie werden diese bestmöglich gelöst? Wir haben unter anderem bei der Jeansmarke Dawn Denim sowie bei den größeninklusiven Labelgründerinnen Madeleine Alizadeh, Norah Joskowitz, Regina Schmidt und Sabrina Hummel nachgefragt. Sie erklären, wo Modelabels ansetzen können, damit die Produktionskosten von Anfang an gering gehalten werden, und wie wichtig es ist, die eigene Zielgruppe zu verstehen.
In diesem Deep Dive zum Thema größen-inklusive Mode gibt es Input von:
- Céline Wernet, Gründerin der Manufaktur Céline Wernet
- Norah Joskowitz, Gründerin des Labels Valle ō Valle
- Regina Schmidt, Gründerin des Labels Onay
- Sabrina Hummel, Gründerin des Labels Call me Bina
- Madeleine Alizadeh, Gründerin des Labels Dariadéh
- Ines Rust, Creative Director und Geschäftsführerin; Ann-Sophie Herte, Customer Relation beim Label Dawn Denim
- Michaela Leitz, Plus-Size-Fashion-Stylistin & Size-Inclusive-Fashion-Expertin
- Wenn es um Größeninklusion geht, fehlt es der Modeindustrie an Wissen. Designausbildungen orientieren sich oftmals nur an Standardgrößen, die von Größenvermessungen aus den 1960er-Jahren stammen.
- Laut einer globalen Studie aus dem August 2022 belief sich der weltweite Markt für Plus Size Damenbekleidung im Jahr 2021 auf knapp 194 Milliarden US-Dollar belief.
- Marken müssen im besten Fall zusammenarbeiten, um vorhandene Größenmodelle zu hinterfragen, selbst neu zu vermessen und zu gestalten.
- 3D-Tools können helfen, große Körper dreidimensional zu visualisieren, damit Schnitte nicht einfach nur hochgradiert, sondern angepasst werden können.
- Letztlich beinhaltet Größeninklusion auch Teilhabe – denn, je mehr Größen angeboten, werden, desto mehr Menschen können an Mode Spaß haben.
Obwohl der Markt für Plus Size Mode beziehungsweise Petite-Kleidung stetig wächst, scheitern die meisten Modeunternehmen noch immer daran, größeninklusiv zu produzieren. Als Gründe dafür werden oftmals Designherausforderungen und die damit verbundenen Kosten genannt. Doch wie können diese Schwierigkeiten gelöst werden und welche Rolle spielen dabei 3D-Technologien?
Was ist Größeninklusion?
Größeninklusion beinhaltet die Praxis, eine Vielzahl von Körperformen und -größen gleichermaßen zu repräsentieren. In der Mode können wir bislang nicht viel Plus Size bzw. Petite-Kleidung sehen. Wenn es um Kleidung geht, begrenzen die meisten Unternehmen Größen auf 36 bis 42 (S-L) und schließen einen großen Markt von Kund*innen aus, die sich außerhalb jener „standardisierten“ Größen bewegen.
Hinzu kommt, dass die Zahlen von Land zu Zahl unterschiedlich sind. Zum Beispiel sind italienische Größen um drei Werte höher als die Werte in Deutschland; die französischen Werte weichen um einen Größenwert ab. Eine deutsche Größe 38 entspricht somit Größe 44 in Italien und Größe 40 in Frankreich. Um solche Zahlen verständlicher zu machen, stellt die Onlineplattform Good On You eine hilfreiche internationale Größenumrechnungsseite zur Verfügung. Diese sollte jedoch immer mit der eigenen Größentabellen der einzelnen Marken verglichen werden, denn auch hier gibt es von Marke zu Marke Abweichungen.
Historischer Ausflug: Wie entstand die aktuelle Größentabelle?
Die gemeinsame europäische Norm zur Größenkennzeichnung von Kleidungsstücken, früher bekannt als EN 13402, ist eine teilweise übernommene europäische Norm zur Kennzeichnung von Kleidergrößen, die das Auffinden und Auswählen passender Kleidungsstücke erleichtern soll. Die Norm basiert auf in Zentimetern gemessenen Körpermaßen und zielt darauf ab, passende Kleidungsgrößen durch Messen des Körpers mit einem Maßband oder durch Vergleichen mit bereits passender Kleidung zu finden.
Das Problem daran: Die letzten Größenvermessungen in Deutschland sind knapp 60 Jahre her und wurden in den 1960er-Jahren durchgeführt. Es folgten in den vergangenen Jahrzehnten zwar ein paar Reihenmessungen, bei denen festgestellt wurde, dass sowohl Männer als auch Frauen heute durchschnittlich größer sind und dementsprechend größere Größen benötigen, doch die grundlegenden Tabellen blieben unverändert.
Aktuell werden die Konfektionsgrößen in der Regel nach folgender Formel angegeben: Konfektionsgröße = Brustumfang geteilt durch zwei. Bei Frauen werden von diesem Wert noch sechs weitere Zentimeter abgezogen.
Beispielrechnung: Bei einem Brustumfang von 88 cm gilt für Männer: 88 cm / 2 = Männer-Konfektionsgröße 44.
Für Frauen gilt aber Folgendes: 88 cm / 2 = 44 − 6 cm = Frauen-Konfektionsgröße 38.
Da diese Festlegung aber nicht verbindlich ist, variieren die Konfektionsgrößen von Hersteller zu Hersteller.
Es wird Zeit: Der Plus Size Markt wächst
2020 befragte Statista 42 Unternehmen und kam zum folgenden (nicht repräsentativen) Ergebnis: Was Damenoberbekleidung und Plus Size Mode im deutschen Einzelhandel angeht, war die Konfektionsgröße 48 – mit knapp 68 Prozent – am umsatzstärksten, dicht gefolgt von der Größe 46 mit 61 Prozent. Die Größen 44 und 50 lagen bei jeweils 29 und 37 Prozent. (Anm. der Red.: Aktuellere Zahlen konnten wir diesbezüglich für Deutschland nicht finden.)
In Zusammenarbeit mit den Marktforschungsinstituten Cogitaris und Bolz Consumer Insight hat die Plus-Size-Marke sheego im Jahr 2022 1.800 Frauen in Deutschland mit Konfektionsgröße 44+ befragt. 98 Prozent der Frauen wünschen sich eine gute Passform, 97 Prozent einen hohen Tragekomfort und für knapp 72 Prozent der Frauen ist eine spezielle Expertise im Plus Size Segment seitens der Unternehmen wichtig.
Laut einer globalen Studie aus dem August 2022, bei der unter anderem Unternehmen wie Ralph Lauren, Asos Curve und H&M untersucht wurden, konnte festgestellt werden, dass sich der weltweite Markt für Damenbekleidung in großen Größen im Jahr 2021 auf 193,9 Milliarden US-Dollar belief. Die Altersgruppe zwischen 25 und 45 Jahren dominierte den Markt im Jahr 2021.
Der hohe Kostenfaktor als Grund gegen Plus Size- und Petite-Kleidung?
Als wir von Fashion Changers im Oktober auf Instagram über größeninklusive Mode sprachen, drückten viele Unternehmen und Gründer*innen daraufhin ihre Frustration aus. Es sei schwierig, als kleine Marke eine Reihe von Größen herzustellen – jedes Stück und jede Größe müsse sortiert, bemustert und erneut hergestellt werden. Besonders, wenn ein Label einen existenzsichernden Lohn zahlt, summieren sich die Kosten schnell. Der Kostenfaktor wird also häufig als möglicher Grund genannt, nicht größeninklusiv zu produzieren. Was steckt dahinter?
Größeninklusive Produktion kostet Zeit
Einige der von uns befragten Expert*innen können den Zeitmangel als Grund für die mangelnde Inklusion nicht nachvollziehen. Ja, Größeninklusiv zu produzieren nimmt mehr Zeit in Anspruch, kostet aber nicht zwangsläufig mehr Geld. „Ich muss gestehen, je länger ich mich mit diesem Thema auseinandersetze, desto absurder empfinde ich all diese Ausreden”, erklärt Norah Joskowitz, Gründerin des Fair-Fashion-Labels Valle ō Valle.
„Natürlich benötigt es Zeit und Expertise und stellt daher einen Kostenfaktor dar. Doch in welcher Welt leben wir, um zu sagen, dass alles außerhalb von ,Standardgrößen’ wie XS bis L nicht verdient hätte, im Modebereich beachtet zu werden? Ich glaube, viele Labels machen es sich hier zu einfach und arbeiten schlichtweg in dem bereits vorhandenen System. Sie verstehen diese Art von Wandel nicht als ihre Aufgabe. Es gibt viele Möglichkeiten, erste Schritte in Richtung Größeninklusion zu gehen – die Grundvoraussetzung ist jedoch die Bereitschaft. Und wenn wir die Fairness-Frage noch mal hinten anstellen, verpassen viele Labels damit auch einfach eine relevante Zielgruppe.”
Risikofaktor: Overstock
Viele Labels entscheiden sich gegen die größeninklusive Produktion, da es gegebenenfalls zu einer Überproduktion kommen kann: Manche Produkte werden nicht verkauft – es entstehen Kosten, die vor allem kleine Labels nicht immer decken können.
„Die Produktion größerer Größen ist nicht teurer, was sich aber wirtschaftlich auswirkt, ist die Tatsache, dass mehr Größen mehr Overstock erzeugen”, erklärt Madeleine Alizadeh, Gründerin des österreichischen Fair-Fashion-Labels Dariadéh. Sie produziert beispielsweise von XXS bis XXXL. „Wenn ich also nur drei Größen anbiete, kann ich mein Risiko auf drei Größen streuen und relativ sicher sein, dass diese Größen auch verkauft werden. Bei acht Größen, wie bei uns, ist die Gefahr groß, dass man sich mal verschätzt und dann auf Randgrößen sitzen bleibt.”
Auch das nachhaltige Jeanslabel Dawn Denim stimmt diesbezüglich zu. „Besonders im Jeansbereich geht man hier als Brand – und als Einzelhändler – höhere Kosten ein, wenn man mehr Größen anbietet”, erklärt Ines Rust, Creative Director und Geschäftsführerin bei Dawn. „Unsere Größenrange beinhaltete bisher zehn Optionen: Sie startete bei Größe 24 und ging bis Größe 33. Mit der Erweiterung bis Größe 40 bieten wir bei einigen Jeansmodellen nun insgesamt 15 Optionen an. Diese müssen hergestellt, transportiert, gelagert und distribuiert werden.” Da das Label in Vorproduktion geht, um eine gewisse Verfügbarkeit der Größen gewährleisten zu können, stelle es tatsächlich ein wirtschaftliches Risiko dar, eine größere Größenrange zu lagern.
Große Marken müssen bei Plus Size und Petite-Kleidung Vorreiter sein
Bei unserer Recherche (unter anderem auf Business of Fashion und Vogue Business) kam heraus, dass sich vor allem viele kleine Marken wünschen, dass große (Luxus-) Unternehmen mit mehr Ressourcen in die Entwicklung umfangreicherer Größen investieren, damit der Prozess für die Erweiterung von Größen rationalisiert wird. In einigen unserer Gespräche mit kleinen Fair-Fashion-Labels aus der DACH-Region kamen wir zu ähnlichen Resultaten.
„Ich finde, große Brands mit mehr finanziellen Ressourcen müssen in die Vorreiterrolle gehen und Standards in Bezug auf verlässliche Daten und Vermessungen verschiedener Körpergrößen und Körperformen schaffen, auf die dann auch kleine Brands zugreifen können”, berichtet Sabrina Hummel, Gründerin des größenfluiden Fair-Fashion-Labels Call me Bina. Große Brands hätten bereits bestehende und etablierte Prozesse, spezifische Abteilungen für Schnittkonstruktionen, eigene Teams für tiefgründigere Recherchen und mehr Kund*innendaten. „Solange diese Daten fehlen, bleibt es komplex und das Problem wird weiterhin auf die Kund*innen abgewälzt. Mit einer größeren Größe bleibt es frustrierend und schwierig, schöne und passende Kleidung zu finden.”
Würden größere Labels eine Vorreiterrolle einnehmen, müssten kleine Marken im Idealfall nicht so viel für mehrere Musterrunden bezahlen, wenn neue Bewertungsstandards festgelegt werden; Fabriken und Hersteller würden über Vorkenntnisse im Umgang mit unterschiedlichen Größen verfügen, sodass sie nicht bei Null anfangen müssen; und es können neue Technologien entwickelt werden, die bei der Einstufung von Mustern helfen. Der Aufbau starker Beziehungen zu Lieferanten ist hier von entscheidender Bedeutung. „Meiner Meinung nach ist es aber grundsätzlich eine Entscheidung, größeninklusiv zu arbeiten oder nicht – und dann hinter der Entscheidung zu stehen und damit transparent umzugehen”, so Hummel.
Zusammenschluss kleiner Brands oder doch eher neue Standards durch eine neutrale Instanz?
Interessant fände Hummel aber auch die Idee, wenn sich kleine Brands zusammenschließen würden, um neue Standards zu definieren. „Brands könnten sich die verschiedenen Aufgaben aufteilen und beispielsweise vereinbaren, dass jedes Team eine bestimmte Anzahl an Personen vermisst. Dazu müsste man am besten vorher verschiedene Körperformen definieren und kategorisieren und am Ende alle Daten teilen und auswerten. Die Frage ist: Wie viele Personen müssten wir vermessen, um einigermaßen verlässliche Aussagen treffen zu können und die Daten für eine inklusivere Schnittkonstruktion zu verwenden?”
Doch: Sollte nicht eine neutrale Instanz – beispielsweise die Forschung – diesen Part übernehmen und neue Standards festlegen, statt kleine oder große Labels? „Es wäre natürlich toll, wenn Daten für solche Standards unabhängig und in großem Stil erhoben würden”, meint Hummel. „So könnten alle davon profitieren, große wie kleine Brands. Generell könnten sich Brands so auch innerhalb der Größenrange harmonisieren, sodass Kund*innen nicht bei der einen Brand eine Größe 42 tragen, bei der anderen eine 46.”
Passform, Marktdaten, Fitting-Modelle: Das sind die Design-Herausforderungen bei Plus Size Mode und Petite-Kleidung
Wir alle wissen: Kein Körper ist völlig gleich. Kurven sind unterschiedlich, Körperformen variieren. Zwei Frauen können die Größe 4XL haben, jedoch komplett unterschiedliche Proportionen aufweisen. Marken sollten beim Design ihrer Kleidung also mehrere Körpertypen berücksichtigen und gleichzeitig sicherstellen, dass die Stile und Stoffe ihrer Kleidungsstücke für alle Formen und Größen geeignet sind.
Darüber hinaus besteht eine der Herausforderungen bei der Erstellung erweiterter Designs in der Notwendigkeit, neue Muster zu entwickeln – es ist nicht so einfach, mehr oder weniger Stoff zu verwenden, um dasselbe Kleidungsstück in allen Größen herzustellen. Entscheidungen darüber zu treffen, was und wie viel produziert werden soll, kann ebenfalls problematisch sein, teilweise aufgrund des Mangels an verfügbaren Marktdaten.
Die fehlende Designausbildung
Das fehlende Wissen und die Sensibilisierung für Größeninklusion fängt schon während der Ausbildung oder des Studiums an. „Die Modebranche wird sich nicht verändern, wenn wir nicht in jedem Bereich ansetzen”, erklärt Michaela Leitz, Plus-Size-Fashion-Stylistin & Size-Inclusive-Fashion-Expertin. „Das fängt schon bei den Dozenten*innen für Modedesign an, die auch aktiver oder überhaupt das Thema inklusive Mode unterrichten müssen. Denn nach wie vor ist bei vielen Designern*innen, Modelleur*innen, Schneider*innen das Wissen nicht da, wie man größeninklusiv arbeiten kann.”
Céline Wernet weiß, dass die Schnitterstellung und Gradierung von Wäsche nicht zur Standardausbildung gehört. „Die Informationslage ist dünn und wird meines Wissens nach auch nur oberflächlich in entsprechenden Ausbildungen und Studiengängen behandelt. Deshalb ist es sicherlich ein Teil des Risikomanagements eines Labels nicht direkt alle Größen zu produzieren und erstmal mit ,Standardgrößen’ zu testen, ob es einen Market-Fit gibt.”
Die Gradierung kann komplex sein
Die heutigen Standardgrößen wurden vor knapp 60 Jahren entwickelt. Das Problem: Der menschliche Körper hat sich seitdem mehr oder weniger stark verändert. Unsere Recherche zeigt: Marken kämpfen immer noch mit einer mangelnden Entwicklung bei Musterschnitt- und Bewertungssystemen, was es schwieriger macht, effizient größeninklusiv zu produzieren.
Die Produktion benötigt oftmals mehrere Probenahmerunden, um sicherzustellen, dass die beste Passform erreicht wird; Sonderanfertigungen, Vorbestellungen oder kleinere Produktionsläufe können aufgrund der Mindestbestellmengen der Hersteller teuer sein; und alles im eigenen Haus zu entwickeln, ist für viele Marken nicht realistisch. Ein Problem, das nicht nur Plus-Size-Marken kennen: Ähnliche Herausforderungen treten bei der Standardisierung geschlechtsneutraler und Petite-Kleidung auf.
Céline Wernet, Gründerin der gleichnamigen Manufaktur, hat sich auf Lingerie spezialisiert. Sie ist der Meinung, dass die Kosten durchaus entscheidend für junge Labels sind, die nicht mit einem großen finanziellen Polster starten. „Zu den Kosten der Produktentwicklung – unter anderem Materialsourcing, Schnitterstellung, Produktion von Prototypen, Änderungen – kommen zusätzlich die Kosten für die Gradierung hinzu”, erklärt Wernet. Bei BHs könne man hier mit circa 300 Euro pro Größe rechnen. „Oftmals stehen nach dem Probetragen noch mal Änderungen an, denn die Gradierung ist in diesem Fall sehr komplex.”
Man könne bei BHs nicht einfach eine Größe nehmen und die problemlos in allen Größen von 65AAA bis zu 100F durchgradieren. „Die Anforderungen für kleine und große Größen sind zu unterschiedlich und müssen direkt beim Design und der Materialauswahl berücksichtigt werden. Dazu kommen bei externer Produktion oft Mindestabnahmemengen pro Größe, die die Kosten zusätzlich in die Höhe treiben.”
Mit erfahrenen Schnittentwickler*innen arbeiten lohnt sich
Auch Regina Schmidt, Gründerin des größeninklusiven Fair-Fashion-Labels Onay sieht das ähnlich. „Brands, die bisher bis beispielsweise Größe 44 produziert haben, werden erst einmal einen höheren Aufwand durch eine erneute Schnittentwicklung, Prototypanfertigung, Passformkontrollen, erneute Prototypanfertigung und eine erneute Passformkontrolle haben. Dies ist bei Frauen ab Größe 48 notwendig.” Sie könne verstehen, dass viele Brands davon abgeneigt sind, doch für eine*n erfahrene*n Schnittentwickler*in sei dies in der Regel möglich.
Die Argumentation, große Größen würden allein aufgrund des höheren Stoffverbrauchs teurer sein, findet sie zudem diskriminierend. „Um inklusiv zu denken, sollte von vornherein selbstverständlich mit einer Mischkalkulation der Stoffe gerechnet werden. Faktisch gibt es einen geringeren Stoffverbrauch bei einer Größe 36, als bei einer Größe 54 – dabei handelt es sich aber nur um einige Zentimeter.” Bei der Thematik wäre eher ein Umdenken von einer inklusiven Schnittentwicklung notwendig, anstatt diesen Grund als Vorwand zu nehmen, kein größeres Angebot an Größen zu haben.
Vielmehr sieht Schmidt hier ein anderes Problem: Es gilt die neue Zielgruppe zu erreichen, die die Plus Size Mode letztlich auch kauft. „Durch das jahrelange nicht vorhandene Angebot großer Größen gehen viele ab Größe 46 gar nicht mehr in den stationären Handel, sondern bestellen online bei Fast- und Ultra-Fast-Fashion-Unternehmen. Denn diese haben mittlerweile ein vielfältiges und farbenfrohes Angebot für große Größen.”
Fitting nicht unterschätzen
In ihrem Vortrag auf der Fashion Changers Konferenz im November 2022, verdeutlichte Norah Joskowitz von Valle ō Valle, wie wichtig das Fitting ist – besonders bei Plus Size Mode. Je größer der Körper, desto unterschiedlicher können die Proportionen sein.
Auf den sozialen Medien lud sie Menschen, die Plus Size Kleidung tragen, zum Fitting ein – und das nicht nur für ihr eigenes Label Valle ō Valle. Im Gegenteil: Andere interessierte Labels können sich bei Bedarf ebenfalls bei diesen Menschen melden, mit ihnen in den Dialog gehen und von ihnen lernen.
Das Jeanslabel Dawn Denim hat seine acht neuen Größenrangen (Größe 33 bis 40) unter anderem auch mit der Community entwickelt. „Wir haben dazu eine Testimonial-Gruppe gegründet. Diese bestand aus Frauen, die in unserer bisherigen Größenrange nicht abgebildet wurden. Wir haben sie bezüglich ihrer Bedürfnisse befragt, ihre Körper ausgemessen und an ihnen Entwicklungsmuster ausprobiert”, berichtet Ann-Sophie Herte, die sich beim Label um die Kund*innenbeziehung kümmert. „Wir wollten keine eigenständige Kategorie für die neuen Größen anlegen, sondern bereits bestehende Fits und Styles schnitttechnisch so anpassen, dass sie auch in den größeren Größen funktionieren.”
Durch die Zusammenarbeit mit der Community hat Dawn Denim auch Feedback bezüglich Form, Styling, Farbe und Waschung der Jeanshosen bekommen. Denn neben der Gradierung, gab es auch andere Herausforderungen – die Größe und Positionen der Gesäßtaschen zum Beispiel. „Egal bei welcher Jeansgröße, ist die Form, Position und Größe der Tasche eines der wichtigsten Designelemente. Sie sind ausschlaggebend für den Fit. Geschmäcker und Gesäßformen sind unterschiedlich, aber unserer Meinung nach liegt hier – neben Verarbeitung und Material – ein großer Erfolgsfaktor.”
Große Körper dreidimensional visualisieren
Sabrina Hummel vom Label Call me Bina erklärt, dass die Komplexität beim Design von Plus Size Mode darin besteht, dass ein Körper in einer größeren Größe dreidimensionaler ist als in einer kleinen Größe. Zudem sind die Proportionen anders, da Menschen an verschiedenen Körperstellen verschieden zu- oder abnehmen. „Bezüglich der Proportionen ist es wichtig, an die verschiedenen Körperformen zu denken. Brands designen häufig nur für eine Sanduhrfigur, da wird dann zum Beispiel ein Bauch gar nicht mitgedacht. Selbst wenn eine Hose an den Oberschenkeln und Po theoretisch passt, kann die Person sie nicht zumachen, da der Bauch keinen Platz drin hat.”
Es bräuchte dringend verlässliche Daten, auf die man als Brand zurückgreifen könnte – verlässliche Maßtabellen auch für große Größen und verschiedene Körperformen. „Beim größenfluiden Konzept von Call me Bina arbeiten wir unter anderem mit einem verstellbaren Bund an der Hose, der an den Bauchumfang angepasst werden kann. Ich möchte noch betonen, dass größenfluide Mode nicht das Allheilmittel sein kann, um generell das Problem von zu wenig vorhandener größeninklusiver Mode auf dem Markt zu lösen. Denn es trifft schlichtweg nicht jeden Geschmack. Mir ist völlig bewusst, dass auch körperbetonte Schnitte gewünscht werden und nicht alle Lust auf eine größenverstellbare Hose oder weite Schnitte haben.”
Körper verändern sich
Für Regina Schmidt vom Label Onay liegt die Schwierigkeit darin, für verschiedene Altersgruppen zu designen, da der Körper sich im Laufe der Jahre verändert. Sie arbeitet ähnlich wie Sabrina Hummel. „Besonders Hosen bereiten Schwierigkeiten, denn der Taillen- und Hüftumfang verändern sich ab einem gewissen Alter. Somit haben wir uns zunächst auf eine Bundfaltenhose mit Gummibund konzentriert. Dies war zunächst unsere einfachste Lösung.”
Beim Schnitt der Hose und ihres abgewandelten Kimonos habe sie in den Seitennähten nicht einen, sondern zwei Zentimeter Seitennaht als Nahtzugabe eingearbeitet, damit die Kleidungsstücke bei einer Schneiderin bei Bedarf um zwei Zentimeter erweitert werden können. „Unsere Idee für eine Lösung war auch, der Kundin einen Änderungspreisnachlass bei einer Schneiderin ihrer Wahl zu gewähren, falls die Kleidungsstücke nur eine minimale Änderung für eine optimale Passform benötigen. Somit wollten wir Rücksendungen vermeiden.”
Die beste Lösung für Schmidt wäre jedoch eine stationäre Maßanfertigung, bei der die Maße für Brust-, Oberarm-, Taillen- und Hüftumfang sowie die innere Beinlänge vor Ort abgenommen werden. Diese Lösung sei aber teuer. „Eine Maßanfertigung bedeutet auch, den digitalen Schnitt jedesmal anzupassen, nochmals auf Schnittpapier auszudrucken und eine Einzelfertigung bei einer Manufaktur in Auftrag zu geben”, so Schmidt. Einzelanfertigungen werden zudem mit einem Aufschlag berechnet. „Das würde die Kleidungsstücke noch hochpreisiger machen als sie es jetzt schon sind.”
Und was ist mit Petite-Kleidung?
Wenn man von Größeninklusion spricht, denken viele vermutlich zunächst an große Größen. Doch auch besonders kleine Größen werden oft von den Unternehmen vergessen. Céline Wernet berichtet, dass im Lingerie-Bereich auch Frauen mit kleinen Cups (AAA, AA, A) oft wenig bis gar keine Auswahl haben – erst recht nicht in ansprechenden Modellen: „In diesen Kategorien lassen sich oftmals nur eintönige Bustiers und Sport-BHs finden anstelle von schönen, sexy Schalen-Cups mit Spitze.”
Wernet nennt die Auswahl beim Unterwäsche-Hersteller Hunkemöller als Beispiel. „Heute finde ich im Hunkemöller-Onlineshop 291 BHs in Größe 75B. Nur noch 69 in 70A. Und nur noch 6 in 70AA. Auch stilistisch bewegen wir uns immer weiter weg von aufregenden BHs hin zu langweiligen Standardschnitten ohne jegliche Verzierung.”
Unterschiedliche Bedürfnisse verstehen
Als Marke müsse man vor allem die unterschiedlichen Bedürfnisse unterschiedlicher Größen und Körper verstehen. „Große Größen benötigen in meinem Fall vor allem Support und Stabilität – die Passform ist also entscheidend”, erklärt Céline Wernet, die Lingerie nach Maß herstellt. „Hier kann Verstellbarkeit sehr helfen, speziell beim Unterbrustband und den Trägern. Die Individualisierbarkeit am Endprodukt ist sehr wichtig, wenn man ein ,Standardprodukt’ auf sehr persönliche Bedürfnisse anpassen können möchte. Natürlich ist auch Maßanfertigung eine mögliche Lösung. Das ist wiederum kostspielig aufgrund des Zeitaufwandes und muss gleichzeitig mit einer Zahlungsbereitschaft der Kund*innen einhergehen.”
Bei Maßanfertigung sei es grundsätzlich wichtig, dass die Maße korrekt genommen werden. „Das stellt bereits eine erste Herausforderung dar – wie vermesse ich eine Brust richtig? Den von den Kund*innen gegebenen Maßen müssen wir dann im Zweifel vertrauen, wenn wir die betroffene Person nicht kennen. Das heißt, es ist hilfreich, wenn man die Maße entweder direkt selbst nimmt oder wenn man ausführlich erklärt, wie es funktioniert.” Auf Basis der Maße sortiert Wernet die Person dann in die eigene Größentabelle ein. „Wir haben durchaus mit Größenkategorien, unterstützen aber bei der Einsortierung, welche aufgrund der Kreuzgrößen auch etwas komplizierter sein kann.”
Gleiche Auswahl für alle
Kund*innen wollen vor allem eines: Auswahl. Und so geht es auch Plus-Size-Kund*innen, die oftmals jedoch nur begrenzte Einkaufsmöglichkeiten haben. Allzu oft müssen sie begrenzte Sortimente durchforsten, die eine enge Sichtweise darauf widerspiegeln, wie sie sich kleiden sollten. Das meiste, was sie in Mainstream-Marketingkampagnen, auf den Laufstegen und in den Läden sehen, wird selten in Größe 4XL oder größer produziert.
Um jedoch nicht auf Größen sitzenzubleiben, Overstock zu generieren und die eigene (oder die neue) Zielgruppe besser kennenzulernen, hat Norah Joskowitz von Valle ō Valle hier einen einfachen Tipp: „Der erste und wichtigste Schritt ist der Dialog mit Menschen, die Plus Size Mode tragen. Es ist wichtig, als Label ein Gefühl dafür zu bekommen. Durch den Dialog kann viel Verständnis und Motivation entstehen und das erleichtert wiederum weitere Schritte. Außerdem würde ich auf die Bildsprache achten und unbedingt immer schauen, ob jede Größe wirklich nötig ist. Stichwort: Größensatz hinterfragen, Größen zusammenfassen, überspringen und dafür erweitern.”
Michaela Leitz, die sich selbst als „Frau mit großer Größe” bezeichnet, hat klare Wünsche: „Unternehmen sollten sich ruhig trauen, gleiche Mode für uns zu designen. Wir sind es so leid, Kleidung mit Blumenmustern, Trapezform oder Aufschriften zu tragen! Das Wichtigste: Labels sollten uns fragen, was wir tragen wollen. Wir sind froh, wenn uns jemand zuhört und wirklich etwas verändern möchte. Wir sind tatsächlich sehr treue Kund*innen – sobald uns eine Marke gefällt und passt, wird sie uns so schnell nicht mehr los.”
Wie kann 3D-Technologie bei Größeninklusion helfen?
Viele Unternehmen haben begonnen, das mobile 3D-Körperscannen zu erforschen, um ihren Kund*innen beim Online-Einkauf eine perfekte Passform zu bieten. Diese Technologie ermöglicht es Kund*innen, sich selbst mit ihren Smartphones zu scannen und dann anhand ihrer Körpermaße personalisierte Größenempfehlungen abzugeben. Ein Nebeneffekt: Anstatt eine lineare, nicht datengesteuerte Bewertungsmethode anzuwenden, können Marken die Größenstandards basierend auf den tatsächlichen Körperformen und -metriken ihrer Kund*innen langfristig optimieren.
3D-Modedesign-Softwares können auch genutzt werden, um Kleidungsstückmuster auf 3D-Avataren zu simulieren. Dieser Prozess ermöglicht es Marken, die Größe einfacher zu erweitern – ein Prozess, der oft durch die Muster- und Herstellungskosten erschwert wird, die mit der Entwicklung von Bekleidungsprodukten verbunden sind. Die Digitalisierung des technischen Designvorgangs trägt nicht nur dazu bei, eine bessere Passform für Kund*innen zu gewährleisten, sondern reduziert auch Verschwendung im Musterprozess, Rücksendungen und den CO₂-Fußabdruck.
Regina Schmidt von Onay nutzt bereits das 3D-Tool CLO-3D, um Avatare mit eigenen Maßtabellen erstellen zu lassen und so schon virtuelle Passformkontrollen durchführen zu können. „Natürlich muss man dafür intern eine Person haben, die sich gut mit dem Programm auskennt. Aber so lassen sich Ressourcen und Zeit sparen und man kann sich langsam an die Thematik herantasten.”
Ein anderes Beispiel: Mit der KI-Technologie BEAWEAR können Nutzer*innen ihren Körper individuell in 3D vermessen – aus den Daten wird ein eigener „digitaler Twin“ erstellt. Der Twin wird dann gewissermaßen zum Shopping-Buddy, mit dem Kund*innen sicherstellen können, ob ein potenzielles, neues Lieblingsteil auch wirklich passt. Ähnlich funktioniert auch Presize, was Kund*innen ermöglicht, ihre Körpermaße – und so auch ihre perfekte Konfektionsgröße – über das Smartphone zu ermitteln.
Eine Frage der Teilhabe
Kund*innen in großen Größen stehen vor vielen Hindernissen, wenn es darum geht, Plus Size Kleidung zu finden, die ihnen gut passt. Und doch sind Menschen, die große oder besonders kleine Größen tragen, besonders daran interessiert, Kleidung zu finden, die ihrer Körperform passen. Diese Art von Konsumierenden kann nicht länger als Nischengruppe betrachtet werden. Marken müssen sich des Wachstumspotenzials dieses Marktes bewusst werden und Kleidung entwerfen, die sowohl Bedürfnisse abdeckt und modisch ist.
Aus Kund*innensicht ist die Passform ein wichtiges Kriterium für die Markentreue. Labels sollten sich die Zeit nehmen und Kund*innenfeedback bewusst abfragen und zur Kenntnis nehmen. Letztlich beinhaltet die Frage der Größeninklusion auch die Frage der Teilhabe und ob Labels diese anbieten oder nicht.
Titelbild: © Valle ō Valle