Jede Saison gibt es gefühlt ein neues veganes Leder oder ein neues natürliches Gerbeverfahren. Wie komplex eigentlich die Verarbeitungsprozesse bei Leder und Lederimitaten sind und woran man nachhaltiges Leder erkennt, darüber haben sich unsere Autorinnen Franziska Schmid und Franziska Uhl unterhalten. Franziska Uhl ist Textilingenieurin und Materialexpertin und lässt sich in diesem Fall von Franziska Schmid ausfragen. Denn Franziska Schmid hat in ihrer langjährigen Laufbahn als Bloggerin schon viele Trends in der fairen-veganen Mode kommen und gehen sehen. Doch die Frage nach einer möglichst nachhaltigen Lederalternative treibt sie bis heute um.
Können wir Leder und veganes „Leder“ überhaupt miteinander vergleichen?
Franziska Schmid: „Ich beschäftige mich beruflich und privat schon lange mit fairer und veganer Mode. Gerade im Materialbereich für Schuhe und Taschen hat sich in den letzten Jahren sehr viel getan und zahlreiche neuartige Stoffe wie ‚Leder‘ aus Apfel, Ananas, Pilzen oder Kombucha wurden entwickelt und auch im Labor wird an der Herstellung von Lederimitaten gearbeitet.
Was mir dabei allerdings schwer fällt: diese unterschiedlichen Stoffe auf ihre Nachhaltigkeit hin zu beurteilen – ist Apfelleder oder Pilzleder wirklich so natürlich, wie der Name vermuten lässt? Veganes Material wird zudem oft als nachhaltig deklariert, dabei gehen die Begriffe vegan und nachhaltig nicht automatisch Hand in Hand. Ich frage mich darüber hinaus, welches vegane ‚Leder‘ ist gleichzeitig umweltfreundlich und nach dem Tragen kreislauffähig?
Und zu Leder habe ich ebenfalls Fragen: Es muss vor dem Verarbeiten und späterem Tragen ja behandelt werden, damit der natürliche Prozess der Verwesung verhindert wird. Wie umweltfreundlich ist der denn wirklich, denn oft lese ich im Kontext faire Mode die Bezeichnung ‚pflanzliche Gerbung‘. Ist denn ein Schuh aus Leder nach dem Tragen komplett biologisch abbaubar oder kann dieser sogar wieder in den Kreislauf zurückgeführt werden? Was meiner Meinung nach hier oft komplett ignoriert wird: der ethische Aspekt, der mit dem Tragen von Leder einhergeht.
Wie du siehst, jede Menge Fragezeichen und keine Antworten. Da kannst hoffentlich du helfen. Für den Einstieg fangen wir am besten mal mit dieser Frage an: Kann man Leder und veganes ‚Leder‘ überhaupt miteinander vergleichen?”
Franziska Uhl: „Alternativen zu Leder bestehen meist aus mehreren verschiedenen Komponenten. Als Basis braucht es ein Trägergewebe oder Vlies. Die Struktur eines solchen Vlieses kannst du dir wie die eines Papiertaschentuchs vorstellen. Ein Trägergewebe wäre zum Beispiel das Material, das man für Stoffschuhe verwenden kann: einfach ein dicht gewebter Stoff. Das Trägergewebe oder das Vlies werden mit weiteren Komponenten beschichtet, um die Haptik und Eigenschaften von Leder weitgehend zu imitieren.
Diese Imitate bestehen aus mindestens zwei Komponenten und enthalten im Grundmaterial und/oder in der Beschichtung üblicherweise mindestens eine synthetische Komponente. Meist sind die synthetischen Komponenten notwendig, um die natürliche Komponente zu stabilisieren, oder um die Verarbeitung entsprechend der qualitativen Anforderungen überhaupt zu ermöglichen.
Ich weiß ehrlich nicht so recht, ob ein direkter Vergleich von veganem ‚Leder‘ mit Leder sinnvoll ist. Mit Lederimitaten wird für den Anwendungsbereich von Leder eine Alternative geschaffen. Sie bespielen also den gleichen textilen Produktbereich. In ihrer Herstellung und Struktur sind sie aber, bis dato, grundlegend verschieden.
Es gibt spannende Projekte aus dem Labor, die in der Materialübersicht grün geschrieben sind. Diese Materialien scheinen die Welt der Lederimitate neu zu erfinden, weil sie durch Zellwachstum und nicht durch das Beschichten von textilen Flächen entstehen. Auf diese Materialien ist das ‚bis dato‘ bezogen, denn da gilt es den Markt in den nächsten Jahren gespannt zu verfolgen.”
Franziska Schmid: „Aber wie kann man denn am Ende überhaupt eine Aussage darüber treffen, wie Leder im Gegensatz zu veganem ‚Leder‘ abschneidet? Und was mich natürlich besonders interessiert: Welches Lederimitat ist denn empfehlenswert im Sinne der Nachhaltigkeit?”
Franziska Uhl: „Zu diesem Thema fallen mir drei Oberbegriffe ein, an die ich bei so einem Vergleich denken würde: Kreislauffähigkeit, Beschaffenheit und Langlebigkeit.
Leder vs. veganes Leder: Kreislauffähigkeit, Beschaffenheit und Langlebigkeit
Franziska Uhl: Allgemein kann gesagt werden, dass natürlich gegerbtes Leder in der Regel in seiner Grundform biologisch abbaubar ist. Die Kreislauffähigkeit kann hier aber auch durch weitere Verfahrensschritte, Färbe- und Ausrüstungsprozesse beeinträchtigt werden. Eine pauschale Antwort fällt also hier ebenfalls schwer, gerade bezogen auf deine Frage vom Anfang, ob ein Lederschuh nach dem Tragen biologisch abbaubar ist. Das hängt vom Material der Sohle ab, vom verwendeten Futter, von der Färbung, wenn denn eine vorgenommen wurde, und ob das Material zudem wasserabweisend gemacht wurde.
Mit Chrom gegerbtes Leder ist nicht biologisch abbaubar und muss speziell entsorgt werden. Vegane Lederimitate sind Materialgemische und in der Regel ebenfalls nicht biologisch abbaubar. Aber hier gilt es von Material zu Material zu unterscheiden (siehe Abbildung 1).
Die Beschaffenheit, also der Griff und das Aussehen variieren sehr stark. Synthetisches Kunstleder schafft es nicht selten, täuschend echt auszusehen. Wenn man auf die natürlich basierten Imitate blickt, dann ist der Griff und die Oberfläche oft doch sehr unterschiedlich im Vergleich zum tierischen Ursprungsprodukt.
Lederimitate aus dem Labor, die durch die Züchtung von Zellkulturen entstehen, sehen, zumindest auf Produktbildern, dem tierischen Leder sehr ähnlich. Wie aber bereits erwähnt, ist in diesem Bereich noch viel Entwicklung und Steigerung der Wirtschaftlichkeit notwendig, um diese Produkte bis zur Marktreife zu produzieren.
Die Entwicklung von chromfrei gegerbtem Leder steht noch vor großen Herausforderungen
Franziska Uhl: Um die Langlebigkeit eines Leders sowie Lederimitats zu betrachten, sind vor allem Parameter, wie die Reißfestigkeit und Hydrophobie, also eine wasserabweisende Eigenschaft, wichtig. Da wird es nun etwas komplex:
Vergleicht man unter dem Aspekt Reißfestigkeit beispielsweise chromfrei und chromgegerbtes Leder, ist das chromgegerbte Leder der ökologischen Alternative überlegen. Dasselbe gilt für eine wasserabweisende Ausrüstung, die bei chromgegerbtem Leder einfach zu bewerkstelligen ist, und bei chromfrei gegerbtem Leder, mit gleichem Qualitätsanspruch, praktisch unmöglich ist. In diesem Punkt sieht die Industrie, die sich mit der Entwicklung von chromfrei gegerbten Leder auseinandersetzt, noch vor großen Herausforderungen. Außerdem kommt es hier auch auf die Art der pflanzlichen Gerbung an. Eine vielversprechende natürliche Gerbung ist beispielsweise die der Firma wet-green®, die mit ihrem Olivenleder den Qualitätsansprüchen der Industrie gerecht werden. Lederprodukte von manch anderen natürlichen Gerb-Methoden sind in ihren Eigenschaften leider lange nicht so stark, wie das toxische chromgegerbte Pendant. In diesem Fall müsste man eine umfassende Testreihe aller auf dem Markt bestehenden Produkte durchführen. Was ich mit diesem Exkurs sagen will: Selbst beim Vergleich von verschiedenen Gerbverfahren von Leder ist es unmöglich, eine pauschale Antwort geben zu können.
Die Reißfestigkeit von Lederimitaten zu beurteilen ist dann noch viel schwieriger, weil es eben von den verwendeten Rohstoffen, dem Herstellungsprozess und der Verwendung der Technologien abhängt, wie die Rohstoffe miteinander verfestigt werden.
Ein Lederimitat ist dann wasserabweisend, wenn es mit den entsprechenden synthetischen Materialien beschichtet wird. Bei manchen Alternativen, wie beispielsweise bei Korkleder, kann das Material eine natürliche wasserabweisende Eigenschaft aufweisen. Allgemein ist hier anzumerken, dass gerade die nachhaltig gehandelten, natürlich basierten Lederalternativen noch sehr jung in ihrer Entwicklung sind und in der technologischen Weiterentwicklung oft noch Luft nach oben ist. Außerdem beobachte ich immer wieder, wie innovativ angepriesene Materialien dann doch nach einem halben Jahr wieder vom Markt genommen werden, weil es ein unerwartetes Problem gab. Eine Antwort auf ‘Welches vegane Leder kann ich denn jetzt kaufen, damit es mir auch lange hält und damit nachhaltig ist?‘ kann ich so leider nicht geben. In diesem Fall hole ich immer Erfahrungswerte von anderen Menschen ein, die das Teil vielleicht schon länger haben, und mir glaubhaft sagen können, ob es was taugt oder nicht. Denn nachhaltige Materialien sind eben vor allem Materialien, deren Nutzungsdauer den Ressourcen-Input in der Herstellung rechtfertigen.”
Franziska Schmid: „Wow, das ist ja eindeutig hochkomplex. Daraus nehme ich jetzt für mich mit, dass die Tragedauer, also die Verbrauchsökologie eine wichtige Rolle bei der Nachhaltigskeitsfrage spielt. Nochmal zur Gerbung: Ich lese bei Herstellern in der fairen Mode immer von der natürlichen und pflanzlichen Gerbung. Aber welche Prozesse stehen denn noch vor der Gerbung des Leders?“
Der Verarbeitungsprozess von Leder geht weit über die pflanzliche Gerbung hinaus
Franziska Uhl: „Da kommt es jetzt an sich wieder auf den Hersteller an. Es ist wichtig zu erwähnen, dass es um das eigentliche Gerbeverfahren herum noch zig andere Schritte gibt, die einen hohen Wasser- und Energieverbrauch haben. In der Abbildung 2 ist mal der allgemeine Lederverarbeitungsprozess aufgeführt.
Hier ist aber auch wieder anzumerken, dass es eben auch auf den Produzenten ankommt, inwiefern er die Prozesse optimiert hat und das Abwasser aufbereitet. Es kommt auf die Art der pflanzlichen Gerbung an, wie viel Chemie und Wasser es in der Nachgerbung noch benötigt. Und es kommt auf das Unternehmen an, ob es schillernde Farben fordert oder doch lieber naturbelassenes Material verarbeiten will und so weiter und so fort.
Wie energie- und ressourcenaufwendig sind natürliche und synthetische Lederalternativen?
Franziska Uhl: Und um wieder den Bogen zum Vergleich von Leder und veganem ‚Leder‘ zu spannen: Für mich ist auch noch nicht geklärt, wie energieaufwendig natürliche und synthetische Lederalternativen tatsächlich sind. Da drückt man ja auch nicht einfach auf einen Knopf und das Lederimitat kommt aus der Maschine. Wie energie- und ressourcenaufwendig sind die verwendeten Grundkomponenten?
Viele der Lederalternativen sind auch gefärbt oder in einer anderen Art und Weise veredelt. Rohmaterialien lassen sich auch nicht ohne Kerosin aus anderen Kontinenten nach Europa fliegen und wie rechnet sich da eigentlich der Energieinput im Vergleich mit der Länge der Nutzungsdauer? Ich bin angehende Ingenieurin und ohne transparente Rechnungen urteile ich ungern. In diesem Fall ist mir da zu wenig Transparenz auf dem Markt. Bei diesem Punkt ist es wiederum so wichtig zu verstehen, wie essenziell eine Maximierung der Nutzungsdauer ist. Dass kein Material besser oder schlechter ist, solange es nicht auch eine lange Lebensdauer hat und lange Zeit getragen wird. Dazu gehört gerade bei Leder sowie Lederimitaten eine anständige Pflege und Wertschätzung.”
Franziska Schmid: „Gibt es so gesehen überhaupt ein Material, das wirklich nachhaltig ist?”
Franziska Uhl: „Die Frage der Nachhaltigkeit ist in der Textilindustrie eine unwahrscheinlich komplexe, auf die es keine einfache Antwort gibt. Nachhaltige Materialien sind Materialien, deren Nutzungsdauer den Ressourceninput in der Herstellung rechtfertigt. Durch die Bemühung, die Nutzungsdauer der Produkte zu verlängern, geht im besten Fall auch eine Senkung des Konsumniveaus einher – und das ist nachhaltig. Also länger tragen und weniger kaufen.
Betrachten wir die veganen Materialien auf dem Markt, dann gibt es nicht das nachhaltige Material. Jedes Material hat individuell gesehen seine Vorteile und Schwachstellen. Für einen tieferen Einblick in das Thema ‚Nachhaltigkeit‘ von textilen Materialien empfehle ich den Artikel ‘Was ist den überhaupt noch guten Gewissens tragbar?‘”
Franziska Schmid: „Vielen lieben Dank für deine Erläuterungen. Auch wenn die Frage nach Nachhaltigkeit in der Textilindustrie – wie du sagst – eine komplexe ist, hast du mir viele Einblicke geben können. Während Leder und Lederimitate ohnehin nicht so einfach miteinander verglichen werden können, fehlt mir allerdings beim Leder das Einbeziehen der ‚Vorgeschichte‘. Der Ressourcenverbrauch sowie die Belastung der Umwelt durch Tierhaltung sind nicht unerheblich. Genau wie das vegane Material nicht auf Knopfdruck aus einer Maschine kommt, wird auch die tierische ‚Rohhaut‘ nicht ohne Auswirkungen auf die Umwelt „hergestellt“.
Denn diese Herstellung passiert nur durch das Halten und am Ende Töten eines Tieres. Auch dieser ethische Aspekt fehlt meist, wenn es um Leder geht. Die Betrachtung von Leder in der fairen Mode sollte nicht außer Acht gelassen werden, denn allein bei den Themen Herkunft, Herstellungsbedingungen und ob es sich wirklich – wie oft behauptet – um ein Abfallprodukt handelt, gibt es jede Menge Gesprächsbedarf. Beim Kauf von Schuhen auf Langlebigkeit sowie Kreislauffähigkeit zu achten, macht meiner Meinung nach immer Sinn – egal, um welches Material es sich handelt. Dank der Aufschlüsselung in der Abbildung bin ich nun schlauer, welches vegane ‚Leder‘ biologisch abbaubar oder recyclebar ist. Ich bin gespannt, welche Entwicklungen es in den nächsten Jahren noch geben wird – hier gibt es auf jeden Fall noch viel Potenzial.”
Wie handhabt ihr die Leder-Frage für euch? Und gibt es vegane Lederimitate, die euch überzeugen?
Titelbild: Julia Cheperis via Unsplash