Die Anthroposophie wird oft als eine Lehre über verborgene, geistige Realitäten dargestellt – eine spirituelle Gesellschaft, bei der das Menschenwohl an erster Stelle steht. Doch dahinter versteckt sich eine gefährliche quasi-religiöse Bewegung, die häufig als irrational und wissenschaftsfeindlich verstanden wird.
Wir widmen uns dem Thema Anthroposophie in einer dreiteiligen Serie und erklären, wie tief sie in Okkultismus und Rassismus verwurzelt ist, welche anthroposophischen Unternehmen es gibt und ob wir jetzt alle Demeter-Produkte boykottieren müssen. Außerdem beschäftigen wir uns mit Impfskepsis und Verschwörungserzählungen.
Aber der Reihe nach: Im Auftakt zu dieser Reihe schauen wir uns erst einmal an, was Anthroposophie eigentlich ist und was ihr Gründer Rudolf Steiner für Ansichten vertreten hat.
Anthroposophie bedeutet grob übersetzt „Weisheit vom Menschen“ (gr. ánthropos = Mensch + sophía = Weisheit). Es handelt sich also um eine Weltanschauung, in der der Mensch dezidiert im Mittelpunkt der Betrachtung steht.
Am ehesten bringen die meisten Menschen diesen Begriff vermutlich mit Waldorfschulen und Jugendlichen, die ihren Namen tanzen können, in Verbindung. Das ist nicht falsch, aber nur eine mögliche praktische Ausgestaltung der Anthroposophie.
Rudolf Steiner: Begründer der Anthroposophie
Die Anthroposophie geht auf einen einzigen Gründer zurück: Rudolf Steiner (1861-1925). Bei ihm müssen wir einen Moment verweilen – denn wenn wir uns ihn nicht ein wenig genauer anschauen, haben wir keine Chance, die Anthroposophie und ihre Kritik zu verstehen.
Steiner wird 1861 in Kraljevec (damals Ungarn, jetzt Kroatien) geboren. Sein Vater ist einfacher Bahnbeamter, seine Mutter Hausfrau. Er wird katholisch getauft, allerdings spielt Religiosität in der Familie eine untergeordnete Rolle. Er beginnt schon früh, sich für Esoterik zu interessieren und berichtet später rückblickend, er habe bereits im Alter von sieben Jahren seine erste Erfahrung mit Hellsichtigkeit gemacht. Nach bestandener Realschul-Matura mit Auszeichnung schreibt er sich mithilfe eines Stipendiums an der Technischen Hochschule Wien für Mathematik im Hauptfach ein.
Er bricht das Studium nach acht Semestern ohne Abschluss ab und widmet sich in den folgenden Jahren überwiegend publizistischen Tätigkeiten: Er schreibt Lexika-Artikel, ist Redakteur der „Deutschen Wochenschrift“ und gibt ab 1882 die naturwissenschaftlichen Schriften von Goethe heraus. Er fällt durch ungenaue und unpünktliche Arbeit auf.
1891 will Rudolf Steiner promovieren und reicht seine Dissertation mit dem Titel „Die Grundfrage der Erkenntnistheorie, mit besonderer Rücksicht auf Fichte’s Wissenschaftslehre: Prolegomena zur Verständigung des philosophierenden Bewußtseins mit sich selbst“ an der philosophischen Fakultät der Universität Rostock ein. Diese Arbeit ist sowohl voller fachlicher und sachlicher Fehler als auch argumentativer Lücken. Unter anderem kritisiert er Kant, ohne ihn richtig verstanden zu haben und definiert Begriffe nicht, sodass der Interpretationsspielraum seiner Aussagen weit bleibt – ein Thema, auf das wir zurückkommen werden. Von wissenschaftlicher Genauigkeit ist seine Arbeit weit entfernt. Er erhält die schlechteste Note und besteht gerade so.
Das hält ihn nicht davon ab, eine weitere größere philosophische Schrift anzufertigen, die wahrscheinlich zur Habilitation führen sollte: In der „Philosophie der Freiheit“ erarbeitet Steiner einen Freiheitsbegriff, der für seine spätere Theoriebildung zentral werden wird. Auch diese Arbeit wird von der Fachwelt scharf kritisiert und abgelehnt.
Der Lehrer und Autor André Sebastiani spricht in seinem Buch „Anthroposophie. Eine kurze Kritik“ von einer „hohlen Freiheitsrhetorik“ und hat auch für das restliche Schaffen Steiners auf philosophischem Gebiet wenig schmeichelhafte Worte übrig: „Seine ‚philosophischen‘ Schriften arbeiten mit unklaren Begriffen, sind logisch inkonsistent und fallen weit hinter den Errungenschaften der Aufklärung zurück. Ihr Mangel zeigt sich auch im Scheitern am eigenen Anspruch (z.B. ‚naturwissenschaftlicher Betrachtungen’), sie sind gekennzeichnet durch überhebliche Geschwätzigkeit. Das führt im Ergebnis dazu, dass man alles und nichts aus diesen Werken herauslesen kann.“
Steiner selbst sah das anders – und erhob auch später den Anspruch der Wissenschaftlichkeit: Seine Anthroposophie bezeichnete er als „Geisteswissenschaft“. Diese allerdings hat mit unserem heutigen Verständnis von Wissenschaft wenig zu tun.
Anthroposophie – eine Mischung aus Esoterik und Naturwissenschaft
Steiner entwickelt die Anthroposophie aus der Theosophie nach den Lehren der Okkultistin Helena Blavatsky. Ihre Theosophie ist aus Elementen der europäischen, russischen, indischen und tibetischen Mystik, verschiedenen Religionen und Philosophien zusammengesetzt (Synkretismus) und zielt darauf ab, durch esoterisches Erkennen, Schulung und dem Studium buddhistischer und hinduistischer Texte zu einer höheren „Wahrheit” zu gelangen. Viele Elemente – wie die Karma-Lehre – wird Steiner später aufgreifen. Gleichzeitig wird er unter anderem von der zeitgenössischen Naturwissenschaft (zum Beispiel von Ernst Haeckel) beeinflusst.
1902 tritt Rudolf Steiner in die (unter anderem von Blavatsky 1875 gegründete) Theosophische Gesellschaft ein. Hier sollen spiritistische Phänomene wissenschaftlich erforscht werden – so die Idee von Blavatsky und den Co-Gründern Henry Olcott und William Judge. Steiner verlässt die Organisation bereits einige Jahre später, um 1912 in Köln seine eigene Anthroposophische Gesellschaft zu gründen. Der Grund ist unter anderem die Benennung des indischen Philosophen und Theosophen Jiddu Krishnamurti zum „Weltenlehrer” und Leitfigur der theosophischen Gemeinschaft – für Steiner, in dessen Glaubenssystem (ein weißer) Christus den zentralen Platz einnimmt, nicht akzeptabel.
Steiner entwickelt die Theosophie weiter: Er streicht heraus, verwirft, entwirft neu – und packt zum Hinduismus und Buddhismus eine ordentliche Prise Goethe, deutschen Nationalismus und Idealismus dazu. Das Christentum überhöht er über alle anderen Religionen – etwas, das in der Theosophie so nicht vorkommt.
- Die Anthroposophie ist eine okkulte Weltanschauung, die von einer „geistigen“ Welt zusätzlich zur materiellen Welt ausgeht. Genauer: Sie geht davon aus, dass die Welt materialisierter Geist ist.
- Menschen können die geistige Welt und ihre Wahrheiten erkennen – durch Schulung, die zu „geistiger Erkenntnis“ (das meint Steiner mit „Geisteswissenschaft“) führt.
- Nur wenigen Auserwählten ist es vergönnt, geistige Erkenntnis zu erlangen und göttliche Wahrheiten zu schauen.
- Die Schulung erfolgt durch eine*n Lehrer*in, der*die bereits zur Erkenntnis gelangt ist – sie*er gibt die Wahrheiten an den*die Schüler*in weiter.
- Die geistigen Erkenntnisse lassen sich in die Praxis umsetzen, zum Beispiel in Waldorfschulen, Banken, Unternehmen.
Bereits bei der Begriffsbezeichnung gibt es Uneinigkeiten. Der gebräuchlichste Begriff im Zusammenhang mit Anthroposophie ist „Weltanschauung“ – auch Anthroposoph*innen selbst bevorzugen diese Bezeichnung. Es gibt allerdings Stimmen (vor allem von Kritiker*innen), die der Ansicht sind, bei der Anthroposophie handle es sich genau genommen um eine Religion.
Kennzeichnende Elemente sind laut Sebastiani unter anderem folgende:
- Es gibt einen Religionsstifter und -verkünder (Steiner), der seinen Jüngern seine geheime Lehre mitgeteilt hat, von der nur er (und in der Folge seine Schüler*innen) Kenntnis hat.
- Die Lehre nimmt Bezug auf Übersinnliches und kennt Engel, Dämonen, Geister und Erzengel.
- Gute (Engel) und böse (Dämonen) Kräfte bekämpfen sich.
- Den Rahmen bildet eine Erzählung, die die Entstehung des (modernen) Menschen erklärt und eine Antwort auf die Frage nach dem Sinn gibt (Steinersche Evolutionslehre).
- Es gibt religiöse Handlungen (Gebete).
- Es gibt eine Institutionalisierung des Glaubens (von Steiner gegründete Christengemeinschaft).
Steiner selbst verwehrte sich gegen das Religions-Etikett, wenngleich er anerkannte, dass seine Anthroposophie religiöse Elemente beinhalte. „Nur“ eine weitere Religion zu begründen, war ihm allerdings zu wenig: Die Anthroposophie sollte das Gemeinsame aller Religionen vereinen und demzufolge über allen bisherigen Religionen stehen.
Werden wir ein wenig konkreter. Es würde zu weit führen, alle Elemente des reichlich verwirrenden Steinerschen Gedankengebäudes hier auszubreiten, daher beschränken wir uns auf einige wesentliche Schlaglichter.
Mensch, Gesellschaft und die Entwicklung der Waldorfpädagogik
Nach Steiners Hüllenanthropologie besteht der Mensch auf der aktuellen Entwicklungsstufe aus vier Wesensgliedern – dem physischen Leib, dem Ätherleib, dem Astralleib und dem Ich. Eigentlich sind es sieben Glieder – Geistselbst, Lebensgeist und Geistesmensch sind allerdings derzeit noch nicht ausgebildet. Während der physische Leib von Geburt an vorhanden ist, entwickeln sich Ätherleib und Astralleib erst während der Kindheit beziehungsweise der Pubertät.
Das hat unter anderem Auswirkungen auf die Gestaltung des Unterrichts an Waldorfschulen. Die erste Waldorfschule wurde 1919 gegründet, von dem Zigarettenfabrikanten Emil Molt, der von Steiner begeistert war und ihm die Ausgestaltung des Lehrplans und Kollegiums überließ. Wohlgemerkt: Steiner hatte keine pädagogische Ausbildung.
An Waldorfschulen wird Kindern bis sieben Jahren keine bildliche Vorstellungskraft attestiert, darum ist der Unterricht auf Nachahmung ausgelegt – eigenständiges Denken, so die Idee, könnte die Schüler*innen überfordern. Erst ab 14 Jahren entwickelt sich nach Steiner zusammen mit dem Astralleib auch das begriffliche Denken. Vorher sollen Unterrichtsinhalte vorwiegend bildlich vermittelt werden, was häufig dazu führt, dass naturwissenschaftliche Erklärungen zugunsten bildlicher Anschauung ins Hintertreffen geraten.
Zusätzlich zu den (derzeit) vier Wesensgliedern des Menschen gibt es drei seelische Grundfunktionen: Denken, Fühlen, Wollen. Das Denken ist im Kopf angesiedelt, das Fühlen in der Region des Herzens und das Wollen im unteren Bereich des Körpers. Denken und Wollen stehen in einem Spannungsverhältnis zueinander, das durch das Fühlen ausgeglichen werden muss, damit das Gesamtsystem im Gleichgewichtig bleibt.
Weil bei Steiner alles mit allem zusammenhängt, findet sich diese menschliche Dreigliedrigkeit auch in der gesellschaftlichen Ordnung wieder. Der Staat sei ein dreigliedriger Organismus, der den drei seelischen Funktionen des Menschen entspreche. Den drei Gliedern werden jeweils unterschiedliche Eigenschaften und Werte zugeordnet.
- Wirtschaftsleben = Fühlen, Seelenleben, Brüderlichkeit
- Öffentliches Recht / Politik = Wollen, physischer Leib, Gleichheit
- Geistiges Leben = Denken, Ich-Wesenheit, Freiheit
Steiner entwickelte die Theorie des dreigliedrigen Staates nach dem Ersten Weltkrieg und versuchte, eine Alternative zu Kapitalismus und Sozialismus zu entwerfen: Die Wirtschaft sollte beispielsweise in genossenschaftlicher Art organisiert werden – Preis, Lohn, Produktion und Verkauf sollten von Konsument*innen und Produzent*innen gemeinsam bestimmt werden. Staat, Parteien und Gewerkschaften hätten wenig Mitspracherecht und die*der Einzelne sich dem System unterzuordnen.
Die Oberhand bei allem hätte die politische Sphäre, die der Philosophenherrschaft bei Platon ähnelt: Eine kleine Riege Auserwählter, welche die „objektiven“ Wahrheiten geschaut hat, lenkt die Geschicke. Demokratische Bestrebungen lehnte Steiner ab – seine Zeit sei viel zu „demokratienärrisch“ geworden.
Steiners Anthroposophie unterscheidet zwischen „Rassen“
Die Anthroposophie beschreibt der Religionswissenschaftler Helmut Zander als „evolutionäre Vergeistigungsgeschichte“: Die Menschheit ist aus dem Geistigen in die Materie (den Körper) gefallen und arbeitet gegenwärtig daran, wieder in den Zustand des Geistigen zurückzukehren. Der Weg dorthin läuft für das Individuum durch Wiedergeburten und für die Menschheit durch eine fortschreitende Evolutionsgeschichte.
Nach Steiner gibt es sieben Menschheitsepochen – wir befinden uns gerade in der fünften Epoche, die von 1413 bis 3563 reicht. Es ist die Germanisch-Angelsächsische Epoche und wer hier stutzig wird, zögert zu Recht: Eng verbunden mit der Epochen-Aufteilung ist Steiners Vorstellungen von menschlichen „Rassen“ – von denen die höchste die „weiße Rasse“ bildet.
Steiner spricht insgesamt von fünf „Rassen“:
- „Weiße“ (Europäer*innen)
- „Gelbe“ (Mongol*innen)
- „Braune“ (Malai*innen)
- „Schwarze“ (N-Wort)
- „Rote“ (I-Wort)
Im Verlauf der Menschheitsgeschichte schreitet die Entwicklung der Menschen immer weiter fort, sodass jede folgende „Rasse“ die Höherentwicklung der vorherigen darstellt. Einige „Rassen“ (zum Beispiel Indigene) sind „degeneriert“ und dazu bestimmt, aussterben.
Jeder „Rasse“ schreibt Steiner bestimmte Charaktereigenschaften zu, die zur Hierarchisierung dienen: Schwarze seien demnach besonders kindlich und triebhaft, weiße Europäer*innen hingegen besonders in der Lage, geistige Schau und intellektuelle Arbeit zu betreiben. Als Konsequenz ist es die „weiße Rasse“, die das Fortschreiten der Menschheit in der Evolutionsgeschichte garantiert.
Die anthroposophische Karma-Lehre ist problematisch
Nach Steiner werden Menschen nach ihrem Tod wiedergeboren – wo und in welcher Position, hängt davon ab, ob sie ihr vorheriges Leben im Einklang mit ihrer karmischen Bestimmung (Schicksal) geführt haben oder nicht. Wurde die karmische Bestimmung erfüllt, wartet als Belohnung eine höhere Entwicklungsstufe im nächsten Leben – das ist gut für das Individuum, aber auch für die gesamte Menschheit: So kann die*der Einzelne nämlich zum Fortschreiten der menschlichen Evolution beitragen.
Es braucht nicht viel Gehirnakrobatik, um das problematische Potenzial daran zu erkennen. Und tatsächlich: Wer in diesem Leben mit einer Behinderung geboren wird, ist nach der anthroposophischen Karma-Lehre selbst schuld. Im früheren Leben war diese Person im Falle einer geistigen Behinderung beispielsweise ein*e Lügner*in. Wer in prekäre Umstände im Globalen Süden hineingeboren wird, hat in seiner*ihrer vorherigen Existenz ebenfalls etwas falsch gemacht. Krankheit, Genozid, Folter: Nach der Steinerschen Karma-Lehre hat das alles nicht nur einen Sinn, sondern wurde von den Betroffenen gewissermaßen provoziert. Schlussendlich wird davon ausgegangen, jedes Kind suche sich die Eltern selbst aus – was zunächst schmeichelhaft klingt, wird spätestens dann zynisch, wenn es um Themen wie Kindesmissbrauch geht.
Linearer Erkenntnisgewinn und Dogmatismus spielen in der Steinerschen Anthroposophie eine entscheidende Rolle
Die Anthroposophie basiert auf einer linearen Lehrer*in-Schüler*in-Beziehung, die sie immun gegen Kritik von außen macht: Vermeintlich „objektive“ geschaute Wahrheiten können weder argumentativ begründet noch evidenzbasiert nachvollzogen werden – die Menschen haben entweder Zugang zu ihnen oder sie haben ihn nicht.
Den Zugang erwirbt die*der Schüler*in, indem den Worten der lehrenden Person bedingungs- und kritiklos gefolgt wird: In Waldorfschulen gibt es in den ersten Jahrgängen beispielsweise keine Bücher, damit das Wissen direkt durch die Lehrperson in die Schüler*innen „fließen“ kann.
Die Steinersche „Geisteswissenschaft“ steht somit dem heutigen (und auch zeitgenössischen) Verständnis von Wissenschaft entgegen, indem sie vermeintliche Wahrheiten absolut setzt und auf das Prozesshafte der vorübergehenden Erkenntnis, einem Kernelement der Wissenschaft, verzichtet. Stattdessen gibt es wenige Auserwählte, die über mehr und vermeintlich besseres Wissen verfügen als der Rest – eine Einladung für den so oft in Anthroposophie-Kreisen beobachteten Elitarismus.
Das Ganze beinhaltet außerdem ein erkenntnistheoretisches Problem: Die Kette der Lehrer*innen muss einen Anfang haben (Steiner) – was aber, wenn dort Erkenntnis-Fehler passieren oder auf dem Stille-Post-ähnlichen Weg Informationen verloren gegangen oder falsch gedeutet worden sind? Steiner selbst wollte von solchen Überlegungen nichts wissen: „Schon der Einwand: Ich kann auch irren, ist störender Unglaube. Er zeigt, dass der Mensch kein Vertrauen hat in die Kraft des Wahren“, schreibt er in „Theosophie. Einführung in übersinnliche Weltanschauung und Menschenbestimmung“.
Das Christentum als zentrale Säule
Christliche Vorstellungen nehmen einen zentralen Platz in der Anthroposophie ein. Institutionalisiert sind sie in der von Steiner gegründeten Christengemeinschaft, die sich selbst als Kirche versteht, allerdings zu anderen Kirchen tiefe theologische Differenzen aufweist. Es gibt katholische Traditionen wie die Taufe, Firmung, Trauung, Priesterweihe und Letzte Ölung – allerdings beispielsweise keine Beichte, da nach anthroposophischer Vorstellung der Mensch selbst bereits göttlich ist und keinen externen Gott für die Abnahme seiner Sünden braucht. Im Sinne der Karma-Lehre geht es um Selbsterlösung und Selbstverantwortlichkeit.
Nach Steiner sollen alle „Rassen“ in ein paar tausend Jahren im Verlauf der Vergeistigungsgeschichte obsolet werden und in einer großen „brüderlichen“ Menschheit aufgehen. Die Aufgabe von Christus ist, diese Zusammenführung zu leisten, indem er den Menschen ihre universelle Gleichheit offenbart. Wer allerdings nicht an Christus als den ultimativen Heilsbringer glaubt, verweigert sich diesem Fortschritt. Das gilt also für alle anderen Religionen, besonders aber für das Judentum, das Steiner für etwas „Wertloses auf dieser Erde“ und durch das Christentum zu überwinden hält.
Steiners Rassismus: „kein Betriebsunfall“
Von Anthroposoph*innen werden gerne zwei Argumente angebracht, die beweisen sollen, dass Steiner nicht rassistisch und sogar anti-rassistisch eingestellt war:
- Es handelt sich nur um einzelne Textstellen, die in dem Gesamtwerk Steiners eine geringe Rolle einnehmen.
- Steiner war „ein Kind seiner Zeit“.
Beide Argumente werden von den meisten nicht-anthroposophischen Kritiker*innen zurückgewiesen. Denn auch wenn es sich bei den rassistischen und antisemitischen Stellen nur um einzelne Passagen handelt, sind sie doch fest in das Theoriefundament Steiners eingebaut – zweifelt mensch die „Rassen“-Lehre an, fällt das gesamte Gebäude in sich zusammen: Dann gibt es keine fortschreitende Evolution des Menschen durch Kulturepochen und auch der Gedanke an Wiedergeburt ergibt in diesem Kontext nur noch wenig Sinn. Darüber hinaus stellt sich die Frage, inwiefern eine Theorie, die vermeintliche „Rassen“ explizit voraussetzt, am Ende antirassistisch sein soll.
In seiner Vehemenz war Steiner sicher nicht gleichauf mit seinen rassistischen und antisemitischen Zeitgenossen. Allerdings hat er sich die Mühe gemacht, seine Vorstellungen von der Überlegenheit der „weißen Rasse“ umfassend esoterisch zu begründen – und bis zum Ende seines Lebens an dieser Idee festgehalten. In seinem Buch „Die Anthroposophie“ geht Helmut Zander, Religionshistoriker und Sozialwissenschaftler, deshalb davon aus, Rassismus sei „kein Betriebsunfall in seinem Denken“.
Nationalsozialisten unterstützten anthroposophische Projekte
Der Umstand, dass die Nationalsozialisten 1935 die Anthroposophische Gesellschaft verboten hatten, wird gerne als Beweis dafür herangezogen, dass Anthroposoph*innen vor allem Opfer des Nationalsozialismus, aber keine Mitläufer und schon gar keine Täter*innen waren. Schaut mensch etwas genauer hin, zeichnet sich allerdings ein anderes Bild. Es gab Opfer – aber es gab auch: Parteimitglieder, Mitläufer, Beifall, SS-Mitglieder.
- Das grundlegende Problem: Nationalsozialistische und anthroposophische Vorstellung von der Heimat / dem Boden und der landwirtschaftlichen Selbstversorger-Hof-Idylle als kleinste völkische Reproduktionseinheit lagen nicht weit auseinander. „Landwirtschaft und Nationalsozialismus: Das ist ein Kapitel mit tiefbraunen Furchen.“, schreibt Helmut Zander in seinem Buch „Die Anthroposophie“.
- Steiner selbst war Okkultist und Nationalist. Letzteres wurde auch vom Vorstand der Anthroposophischen Gesellschaft angeführt, um das Verbot abzuwehren: In einem Brief an Adolf Hitler wurde die arische Abstammung Steiners betont und beteuert, mit Jüdinnen*Juden nichts zu tun zu haben.
- Steiners Sekretär und Vorstandsmitglied der Anthroposophischen Gesellschaft Guenther Wachsmuth gab 1933 gegenüber der dänischen „Extrabladet“ bekannt: „Ich äußere mich ungern über Politik. Aber es soll kein Geheimnis sein, daß wir mit Sympathie auf das schauen, was zur Zeit in Deutschland geschieht.“
- Die Anthroposophische Gesellschaft wurde nicht aufgrund ideologischer Differenzen verboten, sondern weil die Nationalsozialisten okkulte Organisationen generell als staatsfeindlich einstuften. Eine These: Sie standen in Konkurrenz zur eigenen Ideologie.
Doch auch das Verbot von 1935 hielt zahlreiche dem Okkulten zugewandte NS-Größen nicht davon ab, anthroposophische Projekte wohlwollend zu unterstützen. Dazu zählten unter anderem „Rudolf Heß, Hitlers Stellvertreter, dessen Stab immer wieder Position bezog zugunsten der anthroposophischen Sache, ferner Otto Ohlendorf, SS-Führer mit persönlichem Interesse an der Anthroposophie, und Alfred Baeumler im Amt Rosenberg, der sich als überparteilicher Begutachter von Steiners Lehren. Dazu kam der Landwirtschaftsminister, Reichsbauernführer und Mitbegründer des SS-Rasse- und Siedlungshauptamtes Richard Walther Darre, der sich vom Skeptiker zu einem engagierten Befürworter der biologisch-dynamischen Wirtschaftsweise entwickelte und sich nach 1945 eingehend mit Steiners esoterischen Erörterungen beschäftigte.“
Anthroposophische Gesellschaft: Nach rechts offen
Bis heute tun sich die Anthroposophische Gesellschaft und mit ihr zahlreiche überzeugte Anthroposoph*innen schwer, historisch-kritisch mit diesem Erbe umzugehen. Ähnliches gilt für den Rassismus und Antisemitismus Rudolf Steiners – beides wird oft ignoriert, schön interpretiert oder verleugnet.
Auf der Webseite des Goethenaum, der Zeitschrift der Anthroposophischen Gesellschaft, ist nach wie vor von versuchter Diskreditierung der Anthroposophie die Rede. Vorsichtig wird immerhin zugestanden, dass es im Werk Steiners „Textstellen gibt, die nach heutigem Verständnis diskriminierend wirken“. Das Wort „Rassismus“ wird vermieden, genauso wie die prominente Rolle der „Rassen“-Theorie im Steinerschen Denken. Die Formulierungen des Gründers seien, so der Vorstand der Anthroposophischen Gesellschaft, „zeitgebunden“ zu verstehen.
Zwar gibt es eine ausdrückliche Distanzierung von rechten Ideologien und Organisationen. Offensive Selbstkritik findet allerdings nicht statt, wenn es heißt: „Anthroposophie lebt von der geistigen Freiheit und von der geistigen Vielfalt – das schließt Rassismus per se aus.“ Wie wir gesehen haben, ist genau das zumindest im zugrunde liegenden Theoriegebäude nicht der Fall.
André Sebastiani meint: „Doch wer nicht versteht, dass die antiwestlichen, romantischen, irrationalen, verschwörungstheoretischen, völkerpsychologischen, deutschnationalen, antisemitischen und rassistischen Vorstellungen Steiners und seiner Anhänger nach rechts (zumindest) offen sind, sondern nur behauptet, das sei alles ganz anders gemeint, kann de facto politisch nicht auf Rechtsradikale reagieren, geschweige denn sich glaubhaft abgrenzen.”
Wo genau die Schnittstellen zwischen Teilnehmer*innen an Anti-Corona-Demonstrationen, Impfskeptiker*innen, Reichsbürgern und Anthroposophie liegen und warum es der Anthroposophie so schwerfällt, sich nach rechts abzugrenzen, untersuchen wir im zweiten Teil dieser Reihe.
Eine Antwort auf „Anthroposophie: Wie Rudolf Steiner heute noch die Ökoszene prägt“
Dieser Artikel hat mich sehr beeindruckt. Ich fand in den Unterlagen meiner Grossmutter selbst geschriebene Mitschriften aus einem Vortrag von Rudolf Steiner in Dornach 1923 https://www.mooswelt.com/post/der-sulphurisierungsprozess
Darin sind mitunter wirre Theorien beschrieben. Ihr Artikel relativiert wirre Beschreibungen und ich würde sie gerne verlinken. Liebe Grüsse Christiane