Aktuell findet einer der größten Aufstände der Frauen* gegen das unterdrückerische islamistische Regime in Iran statt. Auf den Straßen wird lauthals: JIN JîYAN AZADî geschrien. Das ist Kurdisch und bedeutet: Frau, Leben, Freiheit (Anmerkung der Redaktion: Dieser Text steht ebenfalls auf der Illustration des Titelbildes).
Auslöser ist der Mord an Jina Mahsa Amini, einer 22-jährigen Kurdin aus Saqqez, die am 16. September 2022 den schweren Misshandlungen der iranischen Sittenpolizei in Teheran erlag, nachdem sie zuvor ins Koma gefallen war. Berichten zufolge wollte sie lediglich Verwandtschaft in der Hauptstadt besuchen, als sie und ihr Bruder in Teherans Straßen von der Gasht-e Ershad angehalten wurden: Jina Mahsa Aminis Kopftuch säße nicht „angemessen” und sie würde auf die Polizeiwache für eine „Umerziehungsmaßnahme” mitgenommen werden. „Umerziehungsmaßnahmen” und Belehrungen bedeuten häufig: Schläge, Peitschenhiebe und/oder Haftstrafe.
„Jina“ ist kurdisch und bedeutet Leben – auf ihrem Grabstein steht geschrieben „Dein Name wird ein Symbol werden“. Auf Worte folgen Taten. In kürzester Zeit breiten sich Proteste im Land aus, von der kurdischen Provinz Iran bis in den Kern der Hauptstadt Teheran über das ganze Land. Wer einen noch besseren Überblick über die Kurd*innenfrage in Bezug auf den Aufstand in Iran bekommen möchte, sollte sich diesen Artikel durchlesen.
Jina Mahsa Amini war von Mehrfachdiskriminierung betroffen. Wie auch viele weitere ethnische und nationale, religiöse Minderheiten als auch queere, nicht-binäre und trans Personen im Iran, die unter den Repressionen des islamistisch ideologischen Terror-Regimes leben – welche nur allzu häufig erwähnen, dass der Zwangshijab ein zentraler Bestandteil ihrer Theokratie sei.
Wenige Monate zuvor
Zu verstehen gilt, dass die islamische Republik Iran in den letzten Monaten den Druck auf Frauen* massiv erhöhte. So gab es eine stärkere Präsenz der Sittenpolizei in Großstädten. Es kursieren vermehrt Videos, in denen Frauen* auf der öffentlichen Straße geschlagen oder in Vans geprügelt wurden. Und es stehen anscheinend neue Gesetzesentwürfe für eine islamische Kleiderordnung bevor, welche Frauen* betrifft.
Am 12. Juli 2022, dem Tag des Hijabs, bereiteten sich viele Frauen* auf ihren Protest vor und den Zwangshijab an diesem Datum abzulegen. Es kam zu dutzenden Verhaftungen. Später folgte die Demütigung vor laufender Kamera. Das Regime zwang Frauen*, sich im öffentlichen Fernsehen zu entschuldigen und ihre Fehler einzugestehen, gezeichnet von blauen Flecken, die nur schwer zu kaschieren waren.
Vor ein paar Jahren entstand übrigens eine App Namens Gershad, welche Frauen* helfen soll, sich sicherer durch die Stadt zu bewegen. Menschen können die Vans der Sittenpolizei auf einer Map anpinnen und somit Frauen* vorwarnen.
All diese Ereignisse und Verletzungen der letzten Monate, der letzten Jahre sind ein Grund dafür, weswegen sich die Proteste aktuell explosionsartig verbreiten und eine stärkere Wucht tragen als zuvor. Die Frauen* sind wütend und müde, die Unterdrückung durch das Mullah-Regime zieht sich bereits durch Generationen. Enough is enough.
Die Flamme der Hoffnung
2022: Frauen* verbrennen ihre Kopftücher auf offener Straße und schneiden ihre Haare ab, als Symbol für den Tod Jina Mahsa Aminis. Die genau deswegen sterben musste – wegen eines nicht korrekt sitzenden Kopftuches, weil sie Kurdin war und eine Frau.
Menschen vereinen sich auf der Straße, meist jünger als in ihren Dreißigern, unabhängig von ihrer ethnischen, nationalen Herkunft, unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit. Denn obwohl der Iran das Land mit der höchsten Anzahl an nicht gläubigen Muslim*innen ist, können wir sicher sein, dass einige gläubige Muslim*innen mit protestieren, die die Auslegung des im Iran geführten Islams nach der Scharia nicht oder nicht mehr unterstützen können und wollen. Der Zusammenhalt der Menschen ist in den letzten Tagen größer denn je geworden und wächst mit jedem Tag.
Die Geschehnisse der November-Proteste 2019 dürfen sich nicht wiederholen. Auch bekannt als blutiger November, als das iranische Regime einen Internet-Shutdown verhängte und im Stillschweigen der Welt 1.500 Menschen bei den Aufständen im Land umbrachte.
Jina Mahsa Amini war eine Tote zu viel, ein Leben zu viel, welches das Regime auf grauenhafte, brutale Weise genommen hat. Trotz der auch in diesem Jahr nicht ausbleibenden, verhängten Internet-Shutdowns, riskieren Menschen ihr Leben und versammeln sich täglich, um lautstark für ihre Rechte zu kämpfen, ziehen durch die Straßen und fordern: Gleichberechtigung, Selbstbestimmung und das Ende des iranischen Mullah-Regimes. Menschenrechtsorganisationen berichten von über mehr als 1.200 Inhaftierungen, darunter auch viele Aktivist*innen und 76 Tote durch Sicherheitsbehörden. Schulen, Universitäten, Krankenhäuser, Künstler*innen, Sportler*innen und viele mehr rufen dazu auf, sich den Protestierenden anzuschließen.
Menschen im Iran berichteten mir, dass sie noch nie so viel Hoffnung gespürt haben wie in den letzten Tagen. Hoffnung auf eine neue Ära. Hoffnung auf ein Ende der jahrzehntelangen Unterdrückung.
Wie kann ich aus Deutschland helfen und mich solidarisch zeigen?
Petitionen
Die Petition “Solidarität mit den Protestierenden im Iran” fordert von Bundeskanzler Olaf Scholz und der Bundesregierung einen sofortigen Abschiebestopp in den Iran, die Einfrierung der Konten iranischer Regimeanhänger*innen, konsequente Identifizierung der Verbrecher*innen des Regimes und die Erlassung von Haftbefehlen sowie die Einbestellung des iranischen Botschafters.
Schreibt Bundesabgeordneten
Zusätzlich könnt ihr über abgeordnetenwatch.de Bundestagsabgeordneten schreiben. Eure Forderungen könnten wie folgt aussehen:
- Beziehungen zum iranischen Regime einstellen
- Konten der Regimeanhänger*innen als auch der Revolutionsgarde
einfrieren - Identifizierung und Haftstrafen der in Deutschland lebenden
Geheimdienstmitarbeitenden - Abschiebestopp Geflüchteter aus dem Iran
- Menschenrechte vor Atomabkommen
Spenden
Durch Sanktionen, die auf dem Iran liegen, gibt es keine Möglichkeit, auf einfachem Wege Geld zu spenden, welches den Protestierenden in Iran direkt helfen würde. Leider gibt es auch keine NGOs, die im Iran tätig sind.
Geht auf Demonstrationen
Geht auf Demonstrationen! In Berlin ist in Mitten der Proteste das Kollektiv Woman*-Life-Freedom entstanden. Sie vernetzen sich und organisieren Demonstrationen. Wenn ihr selbst aktiv helfen möchtet, könnt ihr sie via Instagram oder Telegram kontaktieren. Demnächst wird es eine Möglichkeit geben, ihre Arbeit finanziell zu unterstützen. Auf ihrer Instagram Page findet ihr auch Termine für kommende Demonstrationen, wie etwa am 01. Oktober in Berlin.
Teilt Berichte
Durch die andauernden Internet-Shutdowns gelangen Videos und Informationen schwer nach außen. Teilt Berichte, Demonstrationen, Videos. Ihr könnt dabei folgende Hashtags verwenden:
#mahsaamini
#zhinaamini
#iranprotest
#opiran
#internetshutdown
Snowflake
Snowflake ist eine Browser-Erweiterung und hilft den Menschen im Iran mit einem Internetzugang. Eine Anleitung dazu findet ihr hier.
Bleibt informiert
Unterstützt Aktivist*innen und Journalist*innen. Viele von ihnen sind selbst im Iran sozialisiert und berichten auf Deutsch, Englisch und persischer Sprache. Ich empfehle euch:
Eine unabhängige, journalistische, mit Fakten gefüllte Einsicht in den Iran könnt ihr auch auf “Perspektive Iran” finden. Brandaktuelle Artikel über die politische Lage, aber auch über Kultur und Exil.
Hintergrundwissen, politisches Zeitgeschehen und eine Menge Bücher
Falls ihr in Berlin lebt oder zu Besuch seid, schaut in der Hedayat Buchhandlung in der Kantstraße 76 in Charlottenburg vorbei. Dort findet ihr Literatur auf Englisch, Deutsch und Persisch. Von Romanen bis hin zu politischer Lektüre. Gegründet von dem leider in diesem Jahr verstorbenen Exil-Iraner und einem der bedeutendsten zeitgenössischen Autoren, Abbas Maroufi. Er sagte einmal in einem Interview:
„Man kann seinen Baum nicht in den Boden pflanzen, den er nicht hat. Wir Exilanten legen die Wurzel des Baumes unserer Werke ins Wasser, um ihn eines Tages in unseren Boden zu pflanzen.“
Titelbild: (c) Illustration von Ramin Safarabadi. Dort steht auf Kurdisch geschrieben: Frau Leben Freiheit.
Roxana Safarabadi (sie/ihr) ist freischaffende Schauspielerin, Autorin und sitzt in der Redaktion von DRAMA – Magazin für Szenische Literatur.
In ihren künstlerischen, meist dokumentarischen Arbeiten, setzt sie sich mit Themen wie gender, sex und race auseinander. Im Frühjahr 2022 bekam sie eine Förderung vom Fonds Darstellende Künste e.V. für ihre Recherche in der sie unterschiedliche Arten von Protestbewegungen untersucht.
Autorinnenfoto: (c) Rindert Sikkema