Nur wenn man sich zu 100 Prozent vegan ernährt, ausschließlich Secondhand trägt, kein Auto fährt, nie reist, keinen Plastikmüll verursacht und nur Bio einkauft, nur dann darf man sich dem Klimaaktivismus anschließen – ansonsten ist alles Heuchelei und kann nicht ernst genommen werden.
So oder so ähnlich lassen sich die Totschlagargumente der Kritiker*innen an Greta Thunberg, Luisa Neubauer, Fridays for Future- und Umwelt-Aktivist*innen zusammenfassen.
Das Phänomen: „Insbesondere Personen, die sich für Klimaschutz und Nachhaltigkeit einsetzen, wird genau auf die Finger geschaut”, wie Maria Pelteki auf Watson.de schreibt. Ute vom nachhaltigen Reiseblog bravebird erklärt: „Tierschutz-Organisationen, Schauspieler, Autoren – alle, die sich für etwas Positives und Gutes einsetzen, stehen unter besonderer Beobachtung.”
Diese Problematik wurde zuletzt in der Talkshow 3 nach 9 am 23. August 2019 deutlich: In der Diskussionsrunde erklärt Klimaaktivistin Luisa Neubauer, wie sie zu Fridays for Future gekommen ist und warum sie jeden Freitag fürs Klima auf die Straße geht. Tagesschau-Sprecherin Susanne Daubner kritisiert die Jugendbewegung daraufhin dafür, selber nicht konsequent genug zu sein. Dafür, dass Demonstrant*innen selbst Plastikflaschen benutzen und liegen lassen sollen, viel Fast Fashion tragen würden und Vielflieger*innen seien: „Ich finde, da sollten die Jugendlichen dann auch konsequent sein. Auf die Straße gehen ist das eine, aber dann muss ich auch Vorbild sein, indem wie ich selber lebe.”
Klimaaktivismus ist also nur in vollkommener Perfektion möglich?
Luisa Neubauers Antwort: „Natürlich ist es wichtig, wenn Menschen für sich darauf achten, dass sie ökologisch sind. Das nimmt keinen Menschen aus und da sind auch wir junge Generationen in der Pflicht […], aber Menschen sollten doch in der Lage sein und legitimiert sein, sich politisch auszudrücken, politisch laut zu werden und Forderungen für ihre eigene Zukunft zu stellen, auch ohne die perfekten Klimaschützer zu sein. Denn das geht einfach nicht.“
Von Klimaaktivist*innen wird Perfektion in Sachen Nachhaltigkeit erwartet, was schlicht nicht realistisch ist, aber oft als Argument gegen die wissenschaftlich fundierten Forderungen von Fridays for Future verwendet.
Man kann Teil des Systems sein und trotzdem das System kritisieren
Auf nicht-ökologische Verhaltensweisen aufmerksam zu machen, ist berechtigt. Konstruktives Feedback lautet hier das Schlagwort, sowie sich vor der Kritik erst einmal an die eigene Nase zu fassen. Und natürlich ist es wichtig, unsere eigene, persönliche Lebensweise regelmäßig in Frage zu stellen, sich zu überlegen, wie jede*r den eigenen ökologischen Fußabdruck verringern kann, wie wir im Alltag Plastik vermeiden, statt Flugzeug öfter die Bahn nehmen können, wie das Jet-Set-Leben der Reichen oder Fast Fashion unser Klima killt. Doch die meisten Kritikpunkte an Klimaaktivist*innen sind überzogen und lenken von der eigentlichen Problematik ab.
Denn hier liegt der Knackpunkt: Klimaaktivist*innen für ihre individuellen Entscheidungen zu kritisieren, geht komplett am Kern der Klimadebatte vorbei: Wir werden den Klimawandel nicht mit individuellen Maßnahmen stoppen. Als Beispiel: Gerade mal 100 Firmen sind für 71 Prozent der klimaschädlichen CO2-Emissionen verantwortlich, darunter Öl- und Gasriesen wie ExxonMobile, BP und Shell (Quelle) und diese gilt es in die Mangel zu nehmen.
Man kann Teil des Systems sein und trotzdem das System kritisieren. Ansonsten könnten Eltern das Schulsystem nicht in Frage stellen, ohne ihre Kinder aus der Schule zu nehmen (wie in einem Leserbrief im Boston Globe beschrieben), oder Arbeitnehmer*innen nicht ihren Arbeitgeber*innen Forderungen stellen, ohne erst einmal zu kündigen.
System Change Not Climate Change
Und noch einmal, damit es auch auf jeden Fall klar wird: Ja, wir sollten uns jeden Tag für ein ökologisch bewussteres Leben einsetzen, unsere eigene klimaschädliche Lebensweise regelmäßig reflektieren und Alternativen finden, die jede*r Einzelne zumindest Schritt für Schritt umsetzen kann. Doch individuelle Unzulänglichkeiten zu nutzen, um wissenschaftlich bedeutsame Argumente der Klimadebatte nichtig zu machen, entlarvt nur die eigene Unsicherheit, Unwissenheit, Unlogik oder Verweigerung gegenüber der wissenschaftlichen Faktenlage.
Die Debatte um den Klimaschutz dreht es sich um ein kollektives Problem, das gemeinsam und auf großer Ebene gelöst werden muss. Es können also auch Menschen demonstrieren und aktiv werden, die nicht Zero Waste leben, die regelmäßig Autofahren oder reisen. Ein Systemwandel, zum Beispiel durch eine bessere Infrastruktur oder eine Energiewende, würde automatisch ein nachhaltigeres Leben ermöglichen. Es geht bei den Demonstrationen um genau diesen Systemwandel und darum, die Politik dazu zu bringen, auf die Wissenschaftler*innen und Expert*innen zu hören.
Und wie so schön auf YouTube unter dem 3 nach 9 Video kommentiert wurde: Wenn Kritiker*innen die Maßstäbe an sich selbst anlegen würden, die sie an die Fridays for Future-Anhänger*innen anlegen, dann müsste wohl keiner mehr protestieren.
Bis dahin ziehen wir weiterhin zusammen regelmäßig auf die Straßen.
Was denkt ihr: Wie perfekt müssen Klimaaktivist*innen sein?
Fotos: (c) Jesse Abrams