Zwischen Schätzung und Realität: Wie viel Mode wird wirklich pro Jahr produziert?

Zwischen 80 und 150 Milliarden Kleidungsstücke pro Jahr – genauere Zahlen zur weltweiten Produktion von Kleidung sind nur schwer zu finden. Warum machen so viele Unternehmen ein Geheimnis aus ihren Produktionsmengen? Wir haben genauer nachgefragt und 15 Fair-Fashion-Marken im DACH-Raum kontaktiert. Die Ergebnisse ihrer Recherche präsentieren wir hier.

Wie viel Mode wird pro Jahr produziert?

Zwischen 80 und 150 Milliarden Kleidungsstücke pro Jahr – genauere Zahlen zur weltweiten Produktion von Kleidung sind nur schwer zu finden. Warum machen so viele Unternehmen ein Geheimnis aus ihren Produktionsmengen? Wir haben genauer nachgefragt und 15 Fair-Fashion-Marken im DACH-Raum kontaktiert. Die Ergebnisse einer Recherche.

Take-Aways
  • Mangelnde Transparenz: Die Modeindustrie hinkt anderen Branchen, wie der Automobilindustrie bei der Veröffentlichung ihrer Produktionszahlen deutlich hinterher. Die OR Foundation startete im November 2023 eine Initiative, die Modeunternehmen dazu auffordert, ihre Produktionszahlen öffentlich zu machen. Auch Vogue Business erfragte Ende 2023, die konkreten Produktionsmengen von 20 Modeunternehmen. Die zurückhaltende Reaktion der Industrie zeigt, dass viele Unternehmen zögern, solche Daten offenzulegen.
  • Offenheit ist selten, aber vorhanden: Einige Marken haben uns gegenüber offen ihre Produktionszahlen kommuniziert. Transparenz in der Modeindustrie ist also möglich, aber (noch) nicht die Norm. Die meisten Unternehmen halten diese Informationen nicht öffentlich zugänglich, weder auf ihren Websites noch in Jahresberichten.
  • Wachstum der Zertifizierungsstellen und -einrichtungen: Sowohl beim Global Organic Textile Standard (GOTS) als auch bei OEKO-TEX® wächst die Anzahl zertifizierter Einrichtungen und zugelassener Zertifizierungsstellen. Aber auch hier bleibt die Offenlegung konkreter Produktionsvolumen ein kritischer Punkt. GOTS etwa macht keine öffentlich zugänglichen Angaben über die Anzahl der jährlich produzierten zertifizierten Artikel.

Im Jahr 2014 veröffentlichte das Beratungsunternehmen McKinsey & Co eine Schätzung, die aufhorchen ließ: 100 Milliarden Kleidungsstücke sollen damals weltweit produziert worden sein. Diese Zahl hat sich seither in den Diskussionen rund um die Modeindustrie festgesetzt. Sowohl die Europäische Union als auch diverse NGOs und Fachkreise nehmen auf sie Bezug. Aktuellste Schätzungen gehen sogar von einer noch größeren Spanne aus: Zwischen 80 und 150 Milliarden Kleidungsstücke sollen jährlich weltweit hergestellt werden.

Die enorme Spannbreite von 70 Milliarden Kleidungsstücken verdeutlicht nicht nur die Schwierigkeit, exakte Produktionszahlen in einem so dynamischen und global verzweigten Sektor wie der Textilproduktion zu erfassen, sondern auch deren immenses Volumen und die damit verbundenen Herausforderungen für Umwelt und Gesellschaft. Zudem wirft sie vor allem eine Frage auf: Warum gibt es keine präzisen Angaben zur Anzahl der hergestellten Kleidungsstücke?

Zum Vergleich: In der Automobilbranche sind die Produktionszahlen viel genauer bekannt. Beispielsweise hat die BMW Group im letzten Jahr weltweit 2.399.636 Fahrzeuge der Marken BMW, MINI und Rolls-Royce ausgeliefert. Die Mercedes-Benz Group berichtete von der Herstellung von rund 2,5 Millionen Fahrzeugen im Jahr 2022 und Audi produzierte rund 1,17 Millionen Pkw. 

Diese präzisen Angaben stehen im starken Kontrast zur Modeindustrie, wo solche detaillierten Daten selten öffentlich gemacht werden. Dieser Mangel an Transparenz kann verschiedene Ursachen haben: Wettbewerbsschutz, Komplexität und Dynamik der Lieferketten, Sensibilität der Geschäftsinformationen und strategische Unternehmensentscheidungen. Hinzu kommt, dass die Modeindustrie eine viel höhere Frequenz an Produktwechseln aufweist als die Automobilindustrie, was die Datenerfassung und -veröffentlichung weiter erschwert. 

Ein weiterer, vielleicht etwas spekulativer Grund könnte darin liegen, dass Mode im Vergleich zur Automobilindustrie nicht in gleichem Maße mit Innovation und Wert assoziiert wird. Wenn beispielsweise Volkswagen in Wolfsburg Fahrzeuge herstellt, dient dies auch als Aushängeschild für „Produktion Made in Germany“ und stärkt den Produktionsstandort Deutschland. Die Veröffentlichung von Produktionszahlen kann also Teil des Markenimages sein und als Indikator für Qualität und Innovationskraft genutzt werden. In der Modebranche scheint die Verknüpfung zwischen Produktionsstandort, Innovationskraft und Markenwert jedoch weniger ausgeprägt zu sein.

Die Diskrepanz zwischen den verfügbaren Daten in verschiedenen Branchen verdeutlicht, dass in der Modeindustrie großer Nachholbedarf besteht, wenn es darum geht, Produktionszahlen offenzulegen und damit auch die resultierenden ökologischen und sozialen Auswirkungen zu kommunizieren.

Growth oder Degrowth?

In diesem Zusammenhang untersucht der Fashion Revolution Transparency Index 2023 auch die Veröffentlichung von Produktionsvolumen in der Modeindustrie. Demnach geben lediglich 12 Prozent der untersuchten 250 Modeunternehmen die Menge ihrer jährlich produzierten Produkte an. Zum Vergleich: Im Jahr 2022 waren es immerhin noch 15 Prozent

2023 wurde zum ersten Mal untersucht, ob Marken sich zum Konzept der „Degrowth“ bekennen, also der gezielten Reduzierung sowohl der Produktion als auch des Konsums, in diesem Fall neuer Kleidungsstücke. Das Ergebnis offenbart, dass 99 Prozent der Modeunternehmen sich nicht öffentlich dazu verpflichten, die Menge der neu produzierten Kleidungsstücke zu reduzieren. Nur ein winziger Bruchteil, nämlich lediglich ein Prozent, äußert ein klares Bekenntnis zum Konzept des „Degrowth“

Dessen Umsetzung kann durch verschiedene Ansätze erfolgen: die Fokussierung auf Langlebigkeit und Qualität, die Förderung der Kreislaufwirtschaft durch Reparatur- und Recyclingdienste oder die Entwicklung von Geschäftsmodellen, die nicht ausschließlich auf dem Verkauf physischer Produkte basieren. 

Dr. Maike Gossen, Post-Doc am Fachgebiet „Arbeitslehre/Ökonomie und Nachhaltiger Konsum“ an der Technischen Universität Berlin, zeigt sich von diesen Ergebnissen wenig überrascht: „Suffizienz-orientierte Geschäftsmodelle fokussieren auf echte Bedürfnisse und streben nach Qualität und Langlebigkeit in der Mode, weg vom reinen Wachstumsdenken.“ In den aktuellen wachstumsorientierten Wirtschaftsstrukturen und angesichts des Drucks, den kurzfristigen Shareholder Value zu maximieren, seien diese Unternehmen tendenziell benachteiligt. „Die Unvereinbarkeit von Gewinnmaximierung mit der Förderung eines suffizienzorientierten Lebensstils kann außerdem zu einem Wertekonflikt im Unternehmen führen.“ 

Suffizienzorientierte Unternehmen würden mit diesem Konflikt auf unterschiedliche Weise umgehen: Entweder sie diversifizieren und dematerialisieren ihr Geschäftsmodell und bieten zusätzliche Dienstleistungen wie Miet- oder Reparaturmodelle an, um Einnahmen zu erzielen, die nicht aus dem reinen Produktverkauf stammen. Oder sie setzen auf temporäres Unternehmenswachstum in der Annahme, dass der temporäre Anstieg der Umsatzzahlen zu einem Rückgang des Marktanteils nicht-nachhaltiger Unternehmen führen wird. „Ob sich diese Strategien bewähren und profitabel sind, ist noch umstritten“, so Maike Gossen.

Ein hypothetisches Beispiel dafür: Wenn Avocadostore, ein Online-Marktplatz für nachhaltigere Produkte, ähnlich schnell wachsen würde wie Zalando, ein Riese im konventionellen Online-Modehandel, könnte dies theoretisch den Marktanteil nicht-nachhaltiger Mode verringern. Allerdings ist es eine komplexe Herausforderung, die Wachstumsraten direkt miteinander zu vergleichen, da die Geschäftsmodelle, Zielgruppen und Marktdynamiken sehr unterschiedlich sind. Das Beispiel zeigt jedoch, dass suffizienzorientierte Unternehmen innovative Wege finden müssen, um in einem von Wachstum dominierten Markt nachhaltige Alternativen attraktiv zu machen und gleichzeitig ihre eigenen Werte zu wahren.

„Suffizienz-orientierte Geschäftsmodelle fokussieren auf echte Bedürfnisse und streben nach Qualität und Langlebigkeit in der Mode, weg vom reinen Wachstumsdenken.“

Kaum eine Marke kommuniziert die eigenen Produktionsmengen

Die NGO OR Foundation forderte Ende 2023 Modemarken auf, ihre Produktionszahlen zu offenbaren. Einige Labels sind der Aufforderung bereits nachgekommen: Die aus den USA stammende und auf Upcycling spezialisierte Marke Collina Strada hat beispielsweise ihre Produktionszahl für das Jahr 2022 mit 20.000 Stücken angegeben. Das schwedische Label Asket produzierte 231.383 Artikel, die britischen Unternehmen Finisterre 450.643 und Lucy & Yak sogar 760.951. Organic Basics aus Dänemark gab eine Zahl von 182.714 Artikeln in 2022 an. 

Der chinesische Ultra-Fast-Fashion-Gigant Shein behauptet, neue Modelle zunächst in kleinen Mengen von 100 bis 200 Stücken auf den Markt zu bringen, macht jedoch keine Angaben zu seinen Gesamtproduktionszahlen. Tatsächlich führt Shein täglich eine beeindruckende Anzahl neuer Produkte in ihren Online-Shop ein. Laut einer Analyse, die auf der Webseite von The Business of Fashion veröffentlicht wurde, stellte Shein von Januar bis Anfang April 2022 täglich tausende neue Artikel vor. Shein bringe zudem weitaus mehr Kleidung auf den Markt als seine Konkurrenten H&M, Zara und Boohoo. Hier ein Vergleich der Anzahl neuer Kleidungsstücke, die in den USA täglich zwischen Januar und April 2022 hinzugefügt wurden:

  • H&M Gruppe: 4.414
  • Zara: 6.849
  • Boohoo: 18.343
  • Shein: 314.877

Diese Praxis steht im Gegensatz zu dem von Shein behaupteten Ansatz, kleine Mengen zu produzieren, und wirft berechtigte Fragen hinsichtlich des tatsächlichen Engagements des Unternehmens für Nachhaltigkeit auf. Die enorme Menge an täglich eingeführten Produkten deutet darauf hin, dass Sheins Geschäftsmodell weit von einer Reduzierung der Produktion entfernt ist. Dieses Beispiel zeigt, wie wichtig es ist, Aussagen großer Unternehmen mit Blick auf Greenwashing kritisch zu hinterfragen.

Zusätzlich zu den Diskussionen um Produktionsmengen und Nachhaltigkeitsansätze hat Shein im Jahr 2022 Aufmerksamkeit erregt, indem das Unternehmen der OR Foundation 15 Millionen US-Dollar spendete. Diese bemerkenswerte finanzielle Unterstützung für eine Organisation, die sich für mehr Transparenz und Verantwortung in der Modeindustrie einsetzt, könnte als positiver Schritt gesehen werden. Aber: Eine solche Spende muss man auch vor dem Hintergrund der riesigen Produktionsmengen von Shein und der fehlenden Offenlegung von Gesamtproduktionszahlen betrachten. Die Diskrepanz zwischen dem angeblichen Ansatz, kleine Mengen zu produzieren, und der Realität der täglich eingeführten tausenden neuen Artikel, lässt Fragen zur Authentizität des Engagements von Shein für nachhaltigere Praktiken aufkommen. Die Spende könnte daher auch als Greenwashing gesehen werden.

Vogue Business unternahm Ende 2023 ebenfalls den Versuch, 20 Modeunternehmen gezielt nach ihren Produktionsmengen der Jahre 2021, 2022 und 2023 zu befragen. Die Rückmeldungen waren spärlich. Kontaktiert wurden große Namen wie H&M, Prada, Kering – dem Eigentümer von Marken wie Gucci, Balenciaga und Bottega Veneta – sowie VF Corporation und Fast Retailing. Alle lehnten es ab, Produktionsdaten preiszugeben. Einige beriefen sich auf Wettbewerbsgründe, andere, wie der Konzern LVMH, klassifizierten die Zahlen als „vertrauliche und strategische Informationen“ ein. Auch Unternehmen wie Asos, Gap, Mango, Nike, Marks & Spencer, Burberry, Patagonia, Ralph Lauren, Calvin Klein und Chanel gaben keine Zahlen heraus. Das französische Luxushaus Chloé veröffentlichte ebenfalls keine Gesamtproduktionszahlen, verwies jedoch auf seine Umweltberichte, die immerhin das Gewicht aller eingekauften Materialien aufführen.

Adidas hingegen machte seine Produktionszahlen öffentlich und berichtete von 1.018.000.000 Artikeln im Jahr 2022 in den Bereichen Schuhe, Bekleidung, Ausrüstung und Accessoires, wobei unklar bleibt, ob dies Lizenzprodukte einschließt. Der spanische Konzern Inditex, zu dem etwa Zara und Bershka gehören, teilte sein Produktionsvolumen nach Gewicht mit (621.244 Tonnen im Jahr 2022), gab aber keine Auskunft über die Stückzahl der Kleidung. 

Unsere Umfrage in der DACH-Region: So viel produzieren Fair-Fashion-Labels wirklich

Inspiriert von diesen Recherchen haben wir 15 Fair-Fashion-Marken im deutschsprachigen Raum kontaktiert, um herauszufinden, ob diese Daten zu ihrem jeweiligen Produktionsvolumen offenlegen. Unsere Anfrage umfasste sowohl große etablierte Unternehmen als auch kleinere Labels. 

Um die Produktionszahlen vergleichen zu können,  muss man die Größe der befragten Unternehmen und ihre Produktionsvolumen berücksichtigen. Für einen Überblick haben wir die Informationen über Gründungsjahr, Mitarbeiter*innenanzahl und Größe alphabetisch geordnet:

  • Dariadéh (Österreich): Gegründet 2018, ist Dariadéh ein junges und kleines Unternehmen, das sich mit einem kleinen Team von sieben Personen für nachhaltige und ethisch produzierte Mode engagiert.
  • Dawn Denim (Deutschland, Vietnam): Seit 2016 auf dem Markt, betreibt Dawn Denim eine eigene Fabrik in Vietnam und zählt zu den mittelständischen Unternehmen in der Branche, spezialisiert auf faire und nachhaltige Jeans.
  • Fejn Jewelry (Deutschland): Das 2019 gegründete Schmucklabel Fejn Jewelry beschäftigt sieben Mitarbeitende und verwendet für alle seine Schmuckstücke hochwertige Edelmetalle ausschließlich aus Recyclingquellen.
  • Hessnatur (Deutschland): Hessnatur wurde 1976 gegründet. Mit 360 Beschäftigten ist es ein großes Unternehmen, das ein breites Sortiment an ökologisch und fair produzierten Textilien anbietet.
  • Jan ‘n June (Deutschland): Das 2014 gegründete Hamburger Label mit einem kleinen Team gehört zu den kleinen bis mittelständischen Unternehmen, die sich für nachhaltiges und transparentes Design einsetzen.
  • Lanius (Deutschland): Seit 1999 auf dem Markt, hat sich Lanius mit 34 Mitarbeitenden zu einem mittelständischen Unternehmen entwickelt, das sich auf die Produktion von GOTS-zertifizierter Kleidung fokussiert.
  • Salzwasser (Deutschland): Als junges Unternehmen, das 2019 gegründet wurde, konzentriert sich Salzwasser mit einem kleinen Kernteam von vier Personen auf nachhaltige Accessoires und verfolgt einen lokal orientierten Ansatz.
  • Story of Mine (Deutschland): Gegründet im Jahr 2018, arbeitet das kleine Unternehmen mit aktuell 3 Mitarbeitenden, um nachhaltige Mode anzubieten, die sowohl umweltfreundlich als auch ethisch hergestellt wird.
  • Vaude (Deutschland): 1974 gegründet, ist Vaude ein Hersteller von Bergsportausrüstung und Outdoor-Bekleidung. Als großes Unternehmen beschäftigt Vaude mittlerweile etwa 500 Mitarbeitende allein am Hauptsitz in Tettnang, Deutschland.
  • Wildling Shoes (Deutschland): Mit der Gründung im Jahr 2015 hat sich Wildling Shoes mit über 100 Mitarbeitenden zu einem mittelständischen Betrieb entwickelt, spezialisiert auf die Produktion minimalistischer Schuhe, die das Barfußgehen imitieren.

Auf die Frage, wie viele Artikel pro Jahr produziert werden, bekamen wir folgende Antworten (Tabelle ist alphabetisch geordnet):

Auf unsere direkte Anfrage hin haben wir tatsächlich transparentes Feedback und konkrete Zahlen erhalten. Auf den Websites der Unternehmen oder in ihren Jahresberichten sind diese Informationen aktuell aber nicht öffentlich zugänglich.

Im Zuge unserer Recherche haben wir von einigen Marken, darunter Mela, Erlich Textil, Folkdays und Armedangels, bislang keine Antwort auf unsere Anfragen erhalten. Lovjoi hat uns mitgeteilt, dass aktuell keine Kapazitäten bestehen, unsere Fragen zu beantworten. (Anm. d. Red.: Sollten wir nach Redaktionsschluss eine Antwort erhalten, werden wir die Informationen in einem Update dieses Artikels nachtragen.)

Update 24.07.2024: Das Schmucklabel Fejn Jewelry hat uns die Informationen nachträglich zur Verfügung gestellt.

So viele zertifizierte Modeartikel werden jährlich produziert

Nicht nur die Produktionsmengen von Modeunternehmen, auch die jährliche Zahl zertifizierter Kleidungsstücke ist Teil dieser Recherche. Dem Jahresbericht 2022 des Global Organic Textile Standard (GOTS) sind folgende Informationen zu entnehmen :

  • Die Anzahl der zertifizierten Einrichtungen weltweit verzeichnete ein Wachstum von zehn Prozent, von 12.338 im Jahr 2021 auf 13.549 im Jahr 2022.
  • GOTS hat sechs neue Zertifizierungsstellen zugelassen, womit sich die Gesamtzahl auf 24 erhöht.
  • GOTS-zertifizierte Einrichtungen sind nun in 84 Ländern weltweit vertreten, was einem Anstieg von fünf Prozent entspricht.

Interessanterweise macht GOTS keine öffentlichen Angaben darüber, wie viele GOTS-zertifizierte Artikel jährlich produziert werden. Gründer dafür nannte Juliane Ziegler, GOTS-Repräsentantin in der DACH-Region, auch auf direkte Nachfrage nicht. Diese Zurückhaltung wirkt etwas widersprüchlich, bedenkt man, dass GOTS auch für Transparenz und Verantwortlichkeit in der Textilindustrie steht. Sie lässt Raum für Spekulationen darüber, wie die Balance zwischen dem Schutz der Unternehmensdaten und dem Streben nach Transparenz gehandhabt wird.

Im Gegensatz dazu steht die klare Kommunikationslinie – auch auf direkte Anfrage hin – von Fairtrade: Im Jahr 2022 wurden 15.216.340 Textilien mit dem Fairtrade-Siegel verkauft

Für OEKO-TEX®  haben wir Zahlen zur Größenordnung gefunden (ähnlich wie bei GOTS), jedoch keine konkreten Produktionsvolumen. Die Anzahl der von OEKO-TEX® ausgestellten Zertifikate und Labels für verschiedene Standards hat sich im Laufe des letzten Jahres deutlich erhöht. Hier eine kurze Zusammenfassung:

  • Beim OEKO-TEX® STANDARD 100, der die Schadstofffreiheit in Textilien zertifiziert, stieg die Zahl der Zertifikate von 27.428 im Jahr 2021/2022 auf 30.981 im Jahr 2022/2023. Das entspricht einem Wachstum von 13 Prozent.
  • Die OEKO-TEX® MADE IN GREEN-Zertifikate, die sowohl umweltfreundliche Produktionsprozesse als auch sozialverträgliche Arbeitsbedingungen bescheinigen, wuchsen um 52 Prozent von 7.198 auf 10.975.
  • Für den OEKO-TEX® LEATHER STANDARD, der ähnliche Kriterien für Lederprodukte setzt, gab es eine moderate Zunahme von acht Prozent, von 87 auf 94 Zertifikate.
  • Die OEKO-TEX® STeP Zertifikate, welche nachhaltige und sozialverantwortliche Produktionsstätten auszeichnen, verzeichneten einen Anstieg um 34 Prozent von 356 auf 478.
  • Das OEKO-TEX® ECO PASSPORT Label, das umweltfreundliche Chemikalien, Farbstoffe und Hilfsmittel in der Textil- und Lederindustrie zertifiziert, stieg um 24 Prozent von 1.015 auf 1.258.
  • Insgesamt sehen wir einen Anstieg der gesamten ausgestellten Zertifikate und Labels um 21 Prozent, von 36.084 auf 43.786.

Ein vergleichsweise junges Siegel ist der Grüne Knopf, der seit 2019 durch das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung vergeben wird und sich trotz globaler Krisen wie der Corona-Pandemie etabliert hat. Die Resonanz auf das Siegel zeigt sich deutlich in den Verkaufszahlen: Auf der Webseite steht, dass bis Mitte 2022 über 260 Millionen Artikel mit dem Grünen Knopf verkauft wurden. Eine konkrete Anzahl der tatsächlich produzierten Artikel gibt es aber auch hier nicht. Aktuell führen mehr als 80 Unternehmen, darunter bekannte Marken wie Hessnatur, Vaude und Armedangels, Produkte, die mit dem Grünen Knopf zertifiziert sind (Stand: November 2023). Auch große Einzelhändler wie Lidl haben inzwischen Produkte im Angebot, die den Anforderungen des Grünen Knopfs gerecht werden. Dies verdeutlicht, dass Nachhaltigkeit zunehmend auch im Massenmarkt an Bedeutung gewinnt, allerdings nicht ohne Kontroversen. Lidl zum Beispiel zog kürzlich aufgrund von Menschenrechtsbedenken zertifizierte Produkte aus Myanmar zurück – ein Schritt, der die Komplexität von Textilsiegeln und das Spannungsfeld von wirtschaftlichen Interessen und ethischen Standards illustriert. 

Selektive Transparenz?

Die Art und Weise, wie Zertifizierungsorganisationen wie der Grüne Knopf Daten veröffentlichen, zeigt auf, dass Transparenz in verschiedenen Schattierungen existiert. Während diese Organisationen detaillierte Informationen über die Verbreitung und die Gesamtanzahl ihrer Zertifikate bereitstellen, halten sie sich mit der Herausgabe von exakten Produktionszahlen der zertifizierten Artikel zurück. Sie bieten somit Transparenz in Bezug auf die Skalierung und die Reichweite ihrer Zertifizierung, doch die spezifischen Daten zu den hergestellten Mengen, die für ein umfassendes Verständnis von Transparenz entscheidend sind, werden nicht immer offengelegt.

Die Daten, die wir von den Marken selbst erhalten, sind das Ergebnis direkter Anfragen und nicht immer öffentlich zugänglich. Während manche Unternehmen ihre Produktionszahlen bereitwillig teilen, halten sich andere zurück. So ergibt sich ein Bild selektiver Transparenz, bei dem erneut Einblick in einige Aspekte der Produktion gewährt wird, die Gesamtproduktionsmengen jedoch oft im Dunkeln bleiben.

Die von den Zertifizierungsstellen veröffentlichten Informationen sind zwar nach außen hin transparenter, da sie zumindest einige Daten proaktiv und öffentlich zugänglich machen. Aber wenn in Zukunft nicht  alle Akteure der Branche ihre konkreten Produktionsmengen öffentlich machen, erhalten wir auch weiterhin nur einen begrenzten Einblick in das wahre Ausmaß der Textilproduktion und ihrer Auswirkungen. Es ist entscheidend, diese Informationslücke zu schließen, um nicht nur Verbraucher*innen zu ermöglichen, informierte Entscheidungen zu treffen, sondern auch um sicherzustellen, dass politische Maßnahmen präzise und zielgerichtet gestaltet werden können. So kann ein nachhaltiger und verantwortungsbewusster Wandel in der Modeindustrie effektiver vorangetrieben werden.

Was wir mit der Veröffentlichung von Zahlen erreichen können

Auf die zentrale Frage, wie Produktionsmengen öffentlich gemacht werden können, gibt es mehrere Antworten. Erstens bedarf es einer stärkeren gesellschaftlichen und politischen Bewegung, die aktiv nach Transparenz verlangt und Unternehmen dazu anhält, ihre Produktionsdaten zu veröffentlichen. Parallel dazu könnten gesetzliche Vorschriften eine solche Offenlegung zur Pflicht machen, ähnlich wie bei Umwelt- oder Sozialberichten in anderen Branchen. Drittens  könnte die Etablierung von Branchenstandards durch führende Modeverbände einen weiteren Anreiz für Unternehmen bieten, sich an Transparenzmaßnahmen zu beteiligen.

Die Verfügbarkeit dieser Daten würde es nicht nur ermöglichen, dass Kund*inne wirklich informierte Entscheidungen treffen, sondern auch, dass Forschende die ökologischen und sozialen Auswirkungen der Modeindustrie genauer analysieren können. Auf dieser Basis könnten politische Entscheidungsträger*innen gezieltere Maßnahmen zur Regulierung und Förderung nachhaltiger Praktiken entwickeln.

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