Ich starre auf den Warenkorb. Die Eins im rechteckigen kleinen Kästchen über dem Cart-Symbol starrt zurück. Kaufen oder nicht kaufen? Um die Antwort auf diese Frage schleiche ich seit drei Monaten herum. Habe seitdem den Tab immer wieder geschlossen, nur um ihn am nächsten Tag wieder zu öffnen und mich mit demselben Dilemma konfrontiert zu sehen: Eigentlich brauche ich keinen neuen Mantel. Also, nicht unbedingt. Nicht im Sinne von lebensnotwendig. Aber ich will ihn.
Ich schiebe die Argumente Pro und Contra zum dreißigsten Mal in meinem Kopf hin und her, bevor ich dann doch endlich auf Bestellen klicke, meine Daten eingebe und voller Vorfreude den Tab ein letztes Mal schließe. Gewonnen haben das faire Label, der klassische Schnitt, mein Wissen um die Hochwertigkeit (ergo Langlebigkeit) des Produkts und meine Vorliebe für die Farbe Olivgrün.
Natürlich hat auch die CO2-Bilanz in meiner Abwägung eine große Rolle gespielt. Vor jedem Kauf steht auf der Checkliste der abzuarbeitenden Fragen diese ganz oben: Wie lange werde ich das Produkt benutzen bzw. das Kleidungsstück vermutlich anziehen? Ich denke an aufgewendete Emissionen und weiß: Wahrscheinlich wäre ein Second-Hand-Kauf im Kontext des CO2-Ausstoßes die beste Wahl gewesen.
Woran ich immer noch viel zu selten denke, ist dieselbe Ressource, die mir morgens in der Küche und unter der Dusche beim Wachwerden hilft und aus der mein Körper zu mehr als der Hälfte besteht: Wasser. Das soll sich nun ändern.
In diesem Artikel schauen wir uns drei Ebenen des weltweiten Wasserverbrauchs an. Wir werden sehen, dass der Zugang zu sicherer Wasser-Infrastruktur nach wie vor nicht selbstverständlich ist, wie Konzerne und Investoren mit dem blauen Gold Milliarden verdienen wollen und was das alles eigentlich mit unserem Alltag zu tun hat.
Kämpfen um das nasse Gut
Alle Menschen haben das Recht auf sauberes (Trink-)Wasser. Das ist seit 2010 von der UN in einer Resolution verabschiedet und seitdem in einigen nationalen Gesetzen verankert worden. Doch Wasser ist ein kostbares Gut: Die Weltbevölkerung steigt und damit ihr Wasserverbrauch. Hat er sich in den vergangenen 100 Jahren versechsfacht, steigt er jetzt konstant um etwa ein Prozent pro Jahr. Gleichzeitig steht, unter anderem durch die zunehmende Verschmutzung und die Klimakrise, immer weniger sauberes Wasser zur Verfügung. Das wirft eine Vielzahl von Fragen und Problemen in Bezug auf Ernährungssicherheit, Gesundheit, Energieversorgung, wirtschaftliche Umstände und Ökosysteme auf.
Insgesamt leben 2020 nach Angaben von Unicef rund 785 Millionen Menschen ohne Zugang zu sicherem Trinkwasser (Trinkwasser auf dem Grundstück, frei von Kontamination und bei Bedarf jederzeit verfügbar). 2,2 Milliarden Menschen haben nur unregelmäßig Zugang zu sauberem Wasser. Noch mehr Menschen (3,6 Milliarden) leben in Gebieten, die mindestens einmal pro Monat „extrem wasserarm“ sind.
Mehr als die Hälfte der Menschen auf dem Planeten (4,2 Milliarden) hat keine sichere Sanitärversorgung (hygienische Toiletten, von denen das Abwasser sicher behandelt und entsorgt wird), 3 Milliarden Menschen können sich nicht regelmäßig die Hände mit Wasser und Seife waschen. Für mindestens jeden dritten Menschen ist Wasserknappheit demnach heute schon ein dringendes Problem – und die Chancen, dass sich die Situation verbessert, stehen – vor allem aufgrund der Klimakrise – nicht überall gut.
Es ist wahrscheinlich, konstatiert die UNESCO, dass die Fortschritte in Bezug auf sichere Wasserversorgung und Sanitärversorgung verlangsamt oder sogar umgekehrt werden, wenn wir nicht die entsprechenden Sicherheitsmaßnahmen ergreifen. Das beträfe auch die Ausrottung und Kontrolle von Krankheiten. Die Verbreitung von Infektionskrankheiten wird (wenig überraschend) derzeit als das größte globale Risiko bewertet – Lebensmittel- und Wasserkrisen liegen seit Jahren ebenfalls in den Top 5 (2021 auf dem 5. Platz) des Global Risks Report. Der Knackpunkt: Es gebe genügend Süßwasser, um alle Menschen auf dem Planeten zu versorgen – es sei nur sehr ungleich verteilt, so Dietrich Borchardt, Wasserexperte vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung in der taz.
Spekulation und Privatisierung von Wasser
Der Verteilungskampf könnte sich in naher Zukunft noch verschärfen. Die Chicago Mercantile Exchange (CME) macht Ende 2020 vor, was auf uns zukommt. Sie eröffnete als weltweit erste Börse die Spekulation auf Wasser. Wie bei Gold oder Wolle können Anleger:innen nun auf das immer kostbarer werdende Gut wetten – vierteljährlich werden für rund 12,3 Millionen Liter sogenannte „Futures“ (Terminabsprachen für Verkäufe an einem bestimmten Tag zu einem festgelegten Preis) eingerichtet. Indirekt wird allerdings schon länger auf das blaue Gold spekuliert. Mit dem Wissen, dass sauberes und sicheres Wasser in Zeiten der Klimakrise immer rarer werden wird, investieren auch Privatanleger:innen seit Jahren in Infrastruktur-Unternehmen und private Wasserversorger. Die Wasserversorgung gilt spätestens mit der Gründung des Pictet-Wasser-Fonds im Jahr 2000 als Spekulationsobjekt, nun also auch der Rohstoff selbst.
Die Wasser-Futures an der Börse wurden eigentlich eingeführt, um den kalifornischen Landwirt:innen, die sehr viel Wasser verbrauchen und gleichzeitig oft mit Dürren konfrontiert werden, Planungssicherheit zu geben. Praktisch gesehen, meinen Kritiker:innen, habe man damit einem inhumanen Handel Tür und Tor geöffnet, der nicht zu kontrollieren sei.
Pedro Arrojo-Agudo, UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Trinkwasser und sichere Sanitäranlagen, warnt vor einer Spekulationsblase, die ähnliche Folgen haben könnte wie die Lebensmittelspekulations-Krise im Jahr 2008. In dieser wurden unter anderem die Preise für Getreide wie Mais, Reis und Weizen in die Höhe getrieben und insgesamt ein Anstieg der globalen Lebensmittelpreise um 83% von 2005 bis 2008 produziert.
Diese Spekulationen stehen für Beobachter:innen – zusammen mit anderen Faktoren – im direkten Zusammenhang mit einem Anstieg der hungernden Bevölkerung um 40 Millionen von 2007 bis 2008. Als Reaktion darauf verhängte die EU-Kommission 2014 (großzügige) Regeln, die es Hedgefonds und Banken zukünftig erschweren sollten, auf Lebensmittel (die manchmal schon verwettet wurden, bevor die Samen überhaupt gepflanzt waren) zu spekulieren.
Vermutlich würden auch heute die kleinen Farmer:innen, von denen an der Chicagoer Börse offiziell die Rede ist, weniger von der Spekulation auf Wasser profitieren als Großkonzerne und vor allem: Hedgefonds und Banken. Das grundlegende Menschenrecht auf Wasser sei durch diesen Börsengang angegriffen worden, so Arrojo-Agudo.
So ganz unerwartet kam diese Entwicklung allerdings nicht – sie ist vielmehr die Kirsche auf der vergifteten Sahnetorte der Neoliberalismus. Seit Jahren finden Auseinandersetzungen bezüglich des Handels mit Wasser und der Privatisierung der lebensnotwendigen Ressource statt – wobei das Wasser als Menschenrecht immer wieder, vor allem von der Zivilbevölkerung, vehement (und oft erfolgreich) verteidigt wurde.
Eine Übersicht über die Kämpfe gegen die Privatisierung von Wasser
- Bolivien: 2000 löste die Privatisierung der Wasserversorgung in der Stadt Cochabamba den „Wasserkrieg“ aus, der mit einem Sieg für die mehrheitlich Indigenen Aktivist:innen endete. Die Privatisierung wurde rückgängig gemacht.
- Berlin: 1999 wurden die Berliner Stadtwerke teilprivatisiert – die Bevölkerung stimmte 2011 im Volksentscheid mit 98 Prozent gegen die Privatisierung. Seit 2014 befindet sich die Wasserversorgung wieder in öffentlicher Hand.
- Italien: Bei einem Referendum im Jahr 2011 stimmte die Mehrheit der Bevölkerung gegen eine Privatisierung der Wasserversorgung.
- Europäische Union: 2013 war eine europäische Bürger:innen-Initiative zur Verhinderung einer Wasserprivatisierung in der EU erfolgreich.
Die öffentliche Aufmerksamkeit für Wasser ist groß – und berechtigt: Je knapper die Ressource wird, desto verlockender wirkt es auf Firmen und Spekulant:innen, die mit dem Rohstoff steigende Gewinne erwirtschaften wollen.
Was mit „Privatisierung“ gemeint ist
Léo Heller ist Sonderberichterstatter über das Menschenrecht auf sauberes Trinkwasser und Sanitärversorgung bei der UN und schreibt in seinem neuen Bericht im Juli 2020: „Die Bereitstellung von Wasser- und Abwasserversorgung war eine Aufgabe, die in erster Linie von Regierungen und den von ihnen kontrollierten öffentlichen Einrichtungen wahrgenommen wurde. Seit den 1980er Jahren hat jedoch die Privatisierung zugenommen, die von internationalen Finanzinstitutionen aktiv gefördert wurde.“
Heller betont, dass es – entgegen der Meinung selbst einiger Menschenrechtler:innen – sehr wohl einen großen Unterschied mache, wer das Wasser anbiete, das aus den heimischen Leitungen gesprudelt kommt. Die Prozesse, die der Bereitstellung von Wasser- und Sanitärdienstleistungen zugrunde liegen, seien nicht neutral und würden das soziale, politische und wirtschaftliche Umfeld prägen – was auch Auswirkungen auf die Einhaltung der Menschenrechte habe.
„Privatisierung“ kann in sehr unterschiedlichen Kontexten gebraucht werden. Léo Heller verwendet den Begriff in einer weiten Bedeutung und beschreibt damit „verschiedene Formen […], mit denen die öffentliche Hand die Leistungserbringung an private Akteure delegiert, und den Begriff nicht auf den Verkauf von Vermögenswerten beschränkt.“ Diese Definition übernehme ich für diesen Artikel.
Es gibt sehr unterschiedliche Formen von Wasserprivatisierung. Eine Auswahl:
- Die vollständige Veräußerung: Alle Vermögenswerte werden von einem öffentlichen auf ein privates Unternehmen übertragen. Das Privatunternehmen übernimmt die Verantwortung für Investition, Betrieb und Instandhaltung und wird dafür bezahlt.
- Die Vergabe von Teilen oder des gesamten Wasserkreislaufs an private Akteur:innen für einen festgelegten Zeitraum (meist 20-30 Jahre). Die Regierung bleibt dabei immer der Eigentümer.
- Bei Joint Ventures sind entweder ein privates und ein öffentliches Unternehmen gemeinsam Eigentümer eines Unternehmens oder es wird ein wesentlicher Teil eines öffentlichen Versorgungsunternehmens an der Börse verkauft.
- Es gibt auch die Möglichkeit, dass bestimmte Dienste für einen bestimmten Zeitraum an einen privaten Anbieter verpachtet werden. Bei “Build-Operate-Transfer”-Verträgen baut das Unternehmen eine Infrastruktur, betreibt sie für einen bestimmten Zeitraum und überträgt sie dann wieder an die öffentliche Hand.
Weil es so viele verschiedene Formen der Privatisierung gibt, ist nicht leicht zu überblicken, welche Situation wir wo (beispielsweise vor der eigenen Haustür) vorliegen haben. In Deutschland herrscht derzeit ein differenziertes Bild: Es gibt private Wasserversorger, Kombinationen aus öffentlicher Hand und privaten Unternehmen und einen Teil, der nach wie vor öffentlich organisiert ist. In Prozent sieht das bezogen auf das Wasseraufkommen so aus: Im Jahr 2017 kommen die öffentlich-rechtlichen Organisationsformen auf 43%, die privatrechtlichen auf 57% – wobei unter die privatrechtlichen Formen auch Kooperationen mit Kommunen zählen. Diese halten in den meisten Fällen die Mehrheit der Anteile.
Generell zeichnet sich hierzulande gerade ein Trend zur Rekommunalisierung ab – doch der Kampf ist hart, wie das populäre Beispiel Stuttgart zeigt: Seit Jahren streitet sich die Stadt mit dem privaten Versorger EnBW über die Rückkaufsumme der Wasserversorgung, nachdem diese 2002 für zehn Jahre an das Unternehmen übertragen worden war.
Wer wo und wie Zugang zu sauberem und sicherem Wasser hat, ist allerdings weder in ein- und derselben Stadt noch international betrachtet ein Zufall.
Selbes Wasser-Recht für alle?
In den USA, einem der reichsten Länder der Welt und einem der Länder mit der am besten ausgebauten Wasser- und Sanitärversorgung, leben mehr als zwei Millionen Menschen ohne ausreichenden Zugang zu sicherem Wasser. Es handelt sich um die verletzlichsten Mitglieder der Gesellschaft: um die Armen in ländlichen Gebieten, um BIPoC, Immigrant:innen und Mitglieder der First Nations.
Die Navajo Nation umfasst Gebiete in den US-Bundesstaaten Arizona, Utah und New Mexiko. Hier leben (je nach Quelle) zwischen 15% und 40% der Bevölkerung ohne Zugang zu sicherem Wasser. Die Menschen müssen weite Strecken zurücklegen und sind unter Umständen stundenlang unterwegs, um ihre Wasservorräte an Tankstellen und anderen öffentlichen Orten aufzufüllen. Die Nation verwaltet sich selbst, wird von Verhandlungen mit den Bundesstaaten über den Zugang zu sauberem Wasser (beispielsweise aus den Flüssen) aber regelmäßig ausgeschlossen und führt einen Rechtsstreit nach dem anderen, um den Anteil der Indigenen am vorhandenen Wasser zu sichern. Behördliche Skurrilitäten (von der Regierung zur Verfügung gestellte Gelder müssen in einer gewissen Frist ausgegeben werden) erschweren den Ausbau einer zuverlässigen Wasserinfrastruktur im Gebiet. Ein großes Problem: In der gesamten Region steigen die Krebsfälle, berichten Betroffene. Sie vermuten: Das wenige Wasser, das zur Verfügung steht, ist durch den exzessiven Uran-Bergbau seit Ende des 2. Weltkrieges bis in die Mitte der 80er Jahre kontaminiert. Die Menschen geben das Wasser ihren Tieren, die sie später essen. Mittlerweile sind die Indigenen dazu übergegangen, sich selbst zu organisieren.
Der wichtigste Indikator für den Status der Wasser- und Sanitärversorgung einer Gemeinde, schreiben die Autor:innen des Berichts „Closing the Water Access Gap in the United States“, sei die Race: BIPoC-Gemeinden hätten häufiger keinen Zugang zu Wasser als weiße Gemeinden, für First Nations sei die Ungleichheit besonders extrem. Haushalte von First Nations haben gegenüber weißen Haushalten eine 19-fach höhere Wahrscheinlichkeit, nicht mit Sanitäranlagen ausgestattet zu sein. Bei Haushalten von Latinx und Schwarzen liegt die Wahrscheinlichkeit doppelt so hoch wie bei weißen Haushalten.
Diese Umstände werden als Umweltrassismus bezeichnet: BIPoC sind lokal wie global am stärksten von gesundheitsgefährdenden Infrastrukturen und der zunehmenden Klimakrise betroffen. Sie leben öfter in der Nähe von Giftmülldeponien, an Hauptverkehrsstraßen und eben viel öfter ohne angemessenen Zugang zu sicherem Wasser. Prominente Beispiele für Umweltrassismus in den USA sind unter anderem die Wasserkrise in der US-amerikanischen Stadt Flint, die bis heute nicht abschließend aufgearbeitet ist, sowie die Auseinandersetzung um den Bau der Dakota Access Pipeline, die mitten durch Indigenes Territorium gebaut werden soll. Auch wenn derart drastische Beispiele wie in den USA hierzulande nicht vorliegen, greifen dieselben Strukturen, die diese klimabezogene Ungerechtigkeit produzieren, auch in Deutschland. Personen aus Arbeiter:innen- oder Armutsklassen sind häufiger krank und sterben im Schnitt früher – was unter anderem damit zusammenhängt, dass sie häufiger an verkehrsreichen Straßen oder in der Nähe von Industrieanlagen wohnen. Sie sind Luftschadstoffen (zum Beispiel Feinstaub) und Lärm stärker ausgesetzt und haben außerdem weniger Zugang zu Grünflächen. Die Tatsache, dass Klimaschutz-Bewegungen selten von BIPoC geführt werden und daher vor allem eine weiße, privilegierte Perspektive vertreten, zählt ebenfalls dazu.
Wir wollen, dass ihr euer kostbarstes Gut verkauft
Kommen wir zur Privatisierung zurück. Nicht nur der Umstand, innerhalb einer Gemeinschaft schnellen Zugang zu sicherem Wasser und sicheren Sanitäranlagen zu haben, ist ein Luxus. Als solcher kann es mittlerweile auch bezeichnet werden, wenn diese Wasserversorgung öffentlich und nicht durch private Unternehmen organisiert wird.
Eine der Forderungen, welche die Europäische Zentralbank und die Europäische Kommission an die Auszahlung von Rettungsgeldern an Griechenland und Portugal knüpfte, war die Privatisierung ihrer Wasserversorgung. So sollte möglichst schnell möglichst viel Geld im Staatshaushalt zur Verfügung stehen. Im Globalen Süden funktioniere diese Praxis internationaler Finanzinstitutionen (vor allem der Weltbank) bereits seit den 1980ern sehr gut, schreibt UN-Sonderbeauftragter Léo Heller, zögert aber, das Kind beim Namen zu nennen: Der offensive, jahrzehntelange Angriff reicher Länder auf die Grundversorgung des Globalen Südens ist natürlich eine Fortsetzung kolonialer Praktiken. Auf weltpolitischer Bühne gelten die 1990er Jahre als der Wendepunkt, an dem in puncto Wasserversorgung ökonomische vor soziale Interessen gestellt und Wasser als wirtschaftliches Gut klassifiziert wurde. Investiert wird vor allem in den Städten, weil sich dort am leichtesten Gewinne generieren lassen – die Landbevölkerung des Globalen Südens wird mit gefährlich maroder Infrastruktur zurückgelassen, die wiederum durch verunreinigtes Wasser die Verbreitung von Krankheiten fördert.
Wir wollen euch das kostbarste Gut vor der Nase weg graben
Nachdem politisch Fakten geschaffen wurden, kommen die Konzerne: Wichtige Akteure, die von der globalen Wasserprivatisierung profitieren und sich überall auf der Welt eine goldene Nase verdienen, sind unter anderem Nestlé, Pepsico und Coca-Cola.
Neben der fehlenden Infrastruktur ist der von Konzernen hervorgerufene lokale Wassermangel ein weiterer Grund, weshalb Indigene in den USA, Mexiko und Kanada entweder stundenlang laufen oder direkt überteuertes Flaschenwasser kaufen müssen. Das Grundwasser in ihren Böden wird ihnen zum Kauf in die Supermärkte und Kioske gestellt. In Indien boykottierte die Bevölkerung zuletzt 2017 die Produkte von Coca-Cola, weil der Konzern, trotz landesweiter Wasserknappheit, Unmengen an Wasser aus einem Fluss extrahierte. Ähnliche Probleme sind unter anderem aus Südafrika, Äthiopien, Brasilien, Guatemala und Kolumbien und den USA bekannt.
Im letzten Jahr ist Coca-Cola auch in Deutschland mit einer Praktik in den Schlagzeilen gewesen, die international gewissermaßen bereits zum Markenkern gehört: dem Abpumpen von Grundwasser. Ausgerechnet im dritten Dürresommer in Folge wollte der Konzern in der Nähe von Lüneburg einen neuen Brunnen für die Förderung bauen. Es würde der dritte in Lüneburg sein.
Die Bürger:innen-Initiative „Unser Wasser“ wehrte sich mit knapp 4600 Unterschriften, eine weitere Petition auf der Plattform change.org konnte bisher mehr als 120.000 Stimmen hinter sich versammeln. Doch aller Protest nützte nichts – seit Anfang Februar führt Coca-Cola-Tochter Apollinaris den angekündigte Pumpversuch durch, der für die Anwohner:innen eher nach vollendeten Tatsachen aussieht. Stündlich könnten demnächst, sollte die Genehmigung fürs Pumpen erteilt werden, 85.000 Liter bisher unberührtes Grundwasser aus 200 Metern Tiefe in Flaschen abgefüllt in den Supermärkten der Republik verkauft werden.
Cola-Cola bezahlt dafür 0,009 Cent pro Liter. Die Flasche abgefülltes Grundwasser ist mit 90 Cent pro Liter 10.000-mal teurer. Daran und an den langen Genehmigungszeiträumen für die Wasserförderung entzündete sich unter anderem die Kritik der Grünen: Bis zu 30 Jahre lang können Unternehmen in Deutschland die Grundwasserreserven abpumpen, haben sie die Genehmigung erst einmal erhalten. Es geht also nicht nur darum, dass die Konzerne die Bösen sind – sondern auch um den Spielraum, der ihnen auf politischer Ebene sowohl in Deutschland als auch international bereitwillig eingeräumt wird.
Die Bestimmungen für Wasserentnahmerechte sind veraltet und lückenhaft – das machen sich die Unternehmen nicht nur in Deutschland zu Nutze: Im französischen Vittel sinkt der Grundwasserspiegel bedrohlich, im (ebenfalls französischen) Volvic versiegt, nachdem der Danone-Konzern riesige Mengen Wasser entnommen hat, gerade ein Fluss.
Wasserversorgung und -verbrauch in der EU
Die UN hat 2015 das Recht auf sicheres Wasser und Sanitärversorgung als sechstes der 17 Nachhaltigkeitsziele (Sustainable Development Goals) für die Agenda 2030 definiert. Mit Blick darauf schreibt die Tagesschau trocken: „Dass jeder Mensch auf dem Planeten in den kommenden zehn Jahren in den Genuss von Wasser für seinen Bedarf kommt, scheint schwer zu erreichen.“
Sogar für die vermeintlich fortschrittliche EU wurde ein entscheidender Sieg der Bürger:innenrechts-Initiative Right2Water erst vor ein paar Wochen errungen: Am 15. Dezember 2020 wurde die Neufassung der Trinkwasserrichtlinie vom Europäischen Parlament verabschiedet. Darin werden die EU-Mitgliedsstaaten erstmals verpflichtet, benachteiligten Bevölkerungsgruppen den Zugang zu sicherem Trinkwasser zu vereinfachen – also beispielsweise an öffentlichen Plätzen Trinkwasserbrunnen aufzustellen und in öffentlichen Gebäuden kostenlose Wasserspender zur Verfügung zu stellen. Dieser Minimalkonsens hat sieben Jahre Kampagnenarbeit von Millionen Menschen benötigt.
Doch auch, wenn es bei „uns“ noch vergleichsweise gut aussieht, die Öffentlichkeit jeden Schritt kritisch verfolgt und ein lebhafter Diskurs über die Wasserpolitik entbrannt ist, ist das kein Grund, sich auf die Schultern zu klopfen. Zwar steht Deutschland auch bezüglich eigener Wasserreserven gut da (dass wir in die Situation einer ernsthaften Wasserknappheit kommen, ist derzeit unwahrscheinlich) und unser realer Wasserverbrauch pro Kopf ist vorbildlich niedrig. Doch auch wir als Privatpersonen sind nicht unschuldig an der Wasser-Situation in anderen Ländern. Der Großteil des Wassers, den wir verbrauchen, ist nämlich unsichtbar und greift weit über den Globus: das virtuelle Wasser.
Was bedeutet virtuelles Wasser?
Zoomen wir wieder rein in meinen Alltag.
Als ich den Bestellen-Button gedrückt habe, habe ich mich damit als Endempfängerin einer langen Kette virtuellen Wassers platziert – in einer Region, die durch den hohen Lebensstandard der Bewohner:innen ohnehin schon viel von dieser Ressource verbraucht.
Als virtuelles Wasser oder Wasserfußabdruck wird die Menge an Wasser, die für die Produktion von uns genutzter Güter und Dienstleistungen verwendet wird, bezeichnet. Sie kann für einen einzelnen Prozess (z. B. den Anbau von Reis) für ein Produkt (wie z. B. eine Jeans) für den Kraftstoff, den wir in unser Auto stecken oder für ein ganzes multinationales Unternehmen gemessen werden.
Virtuelles Wasser kann als Paradebeispiel für die Externalisierungsgesellschaft gelten, die Ulrich Brand und Markus Wissen dem Globalen Norden bescheinigen. Mit dem Konsum neuer Produkte genieße ich die Vorteile der globalisierten Welt und lagere die unschönen Nebenwirkungen an andere, weniger wohlhabende Menschen und Länder aus. Brand und Wissen bezeichnen das als „imperiale Lebensweise“. Sie ist eine Normalität, die sich „gerade über das Ausblenden der ihr zugrunde liegenden Zerstörung herstellt“ (Brand/Wissen: Imperiale Lebensweise, S. 13) und betrifft alle Lebensbereiche von Menschen aus dem Globalen Norden. Und somit auch den Wasserverbrauch: Indem wir wasserintensive Güter über den halben Globus zu uns transportieren lassen, verbrauchen wir an Produktionsorten für uns unsichtbares Wasser.
Virtueller Wasserverbrauch ausgewählter Produkte
- Baumwoll-T-Shirt (250g): 2500 Liter Wasser
- Leder (1kg): 17.000 Liter Wasser
- Jeans-Hose (800g): 8000 Liter Wasser
- Rindfleisch (1kg): 15.400 Liter Wasser
- Schweinefleisch (1kg): 6000 Liter Wasser
- Milch (1 Liter): 1020 Liter Wasser
- Kaffee (1 Liter): 18900 Liter Wasser
- 1 Frühstücksei: 200 Liter Wasser
- 1 Banane (200g): 160 Liter Wasser
- 1 Apfel (150g): 125 Liter Wasser
- Schokolade (1kg): 17.000 Liter Wasser
(Quelle)
Wie viel virtuelles Wasser in einem Produkt steckt, bestimmen oft die Produktionsbedingungen und -umstände: In ein Kilo Getreide müssen unter günstigen klimatischen Bedingungen „nur“ rund 1000 bis 2000 Liter Wasser investiert werden – aber bis zu 5000 Liter, wenn die Produktion in einem Land mit hohen Temperaturen und hoher Wasserverdunstung stattfindet. Wenn ein Land diese wasserintensiven Produkte dann importiert, führt es gleichzeitig die entsprechende Menge virtuellen Wassers ein. Je kleiner der Wasserfußabdruck eines Produktes im Vergleich zu den (aktuell verfügbaren) Wasserressourcen seiner Herkunft ist, desto nachhaltiger ist es.
Der Import von virtuellem Wasser in Deutschland liegt bei ungefähr 125.000 Kubikmeter Wasser pro Jahr. Damit liegen wir hinter den USA und Japan weltweit auf Platz 3. Das meiste virtuelle Wasser wird über Agrarprodukte aus Brasilien, der Elfenbeinküste und Frankreich eingeführt. Auch auf globaler Ebene wird das Gros des Wassers durch die Landwirtschaft verbraucht: 92% des virtuellen Wassers entfällt auf diesen Bereich. Private Haushalte hingegen konsumieren nur 3,8% des gesamten virtuellen Wassers.
Der individuelle Wasserfußabdruck
Es gibt mittlerweile mehrere Internetseiten, auf denen wir uns in Anlehnung an den ökologischen Fußabdruck unseren individuellen Wasserfußabdruck berechnen lassen können. (Der mit der besten Datengrundlage scheint mir der hier zu sein.) Die Rechner beruhen natürlich auf groben Werten, können aber eine erste Einschätzung darüber geben, wo ich in meinem Leben besonders viel Wasser verbrauche.
Der Fokus liegt – eben, weil die Landwirtschaft so einen großen Anteil am Wasserverbrauch hat – auf der Ernährung. Gerade habe ich einen jährlichen Wasserfußabdruck von 453 Kubikmeter – den größten Teil macht mein Getreidekonsum aus. Würde ich die 60 Kilogramm Fleisch essen, die wir in Deutschland durchschnittlich konsumieren, erhöhte sich der Wasserfußabdruck auf 726 Kubikmeter. Addiere ich andere tierische Produkte wie Eier und Milcherzeugnisse (zum Beispiel zwei Eier und die ungefähr 1,6 Kilogramm durchschnittlich verzehrten Milchprodukte pro Woche) dazu, komme ich schnell auf einen persönlichen Wasserfußabdruck von 902 Kubikmeter. Ein erster effizienter Hebel, den eigenen Wasserfußabdruck zu verkleinern, liegt also darin, möglichst auf tierische Produkte zu verzichten.
Doch beim Wasserfußabdruck gilt wie beim ökologischen Fußabdruck: Je weniger konsumiert wird, desto weniger wird emittiert bzw. verbraucht. Das gilt unter anderem auch für Kleidung: Je nachdem, wo und unter welchen Bedingungen sie produziert wird, verbraucht sie mehr oder weniger viel Wasser – doch viel bleibt es auch dann, wenn die Herstellung fair und nach ökologischen Kriterien erfolgt. 43% des internationalen Flusses aus virtuellem Wasser gehen auf die Ölsaaten, zu denen auch Baumwolle gehört, zurück – die Hälfte davon macht der Handel mit ebendieser Baumwolle aus. (Aus Ölsaaten werden vor allem pflanzliche Öle und Fette gewonnen. Einige von ihnen, beispielsweise Soja oder Raps, dienen auch als Futtermittel für die Massentierhaltung.)
Baumwolle ist eine extrem durstige Pflanze. Pro Tonne besitzt sie einen durchschnittlichen virtuellen Wassergehalt von 3644 Kubikmetern. Zusätzlich wird sie überwiegend in Gegenden angebaut, die bereits unter Wasserstress leiden (wie Indien oder der Türkei). Dort ist der Wasserfußabdruck dementsprechend um ein Vielfaches größer als beispielsweise in den USA. Das macht die Bekleidungsproduktion zu einem extrem wasserintensiven Wirtschaftszweig. Es wird geschätzt, dass die Fashion-Industrie allein einen virtuellen Wasserverbrauch von 79 bis 93 Milliarden Kubikmeter pro Jahr hat und für 20 Prozent der industriellen Wasserverschmutzung verantwortlich ist. Das ist… sehr viel. Bisher stellen wenige Labels transparente Daten zum eigenen Verbrauch zur Verfügung. Das Wasser bleibt nach wie vor unsichtbar.
Der Wasserfußabdruck eines Produktes wird in grünes Wasser (Regenwasser), blaues Wasser (Oberflächen-/Grundwasser) und graues Wasser (verunreinigtes Abwasser) unterteilt. Oft folgt daraufhin die Argumentation, hohe Werte grünen Wassers seien unbedenklich – regnen würde es ja sowieso. Wenn wir aber davon ausgehen, dass das Regenwasser, das nicht auf Felder mit Rohstoffen für den Export herunter regnet, als Alternative aufgefangen und aufbereitet werden könnte, um der lokalen Bevölkerung (auch in weniger regenintensiven Perioden) zur Verfügung zu stehen, bleibt auch das vermeintlich grüne Wasser nicht immer so grün wie es zunächst den Anschein hat.
Wie kann ich verantwortungsvoll mit Wasser umgehen?
Wie viel Wasser denn nun meine Mantel-Bestellung verbraucht hat, habe ich bisher nicht herausfinden können. Ich schätze: Es wird nicht wenig gewesen sein. Zusätzlich zum CO2-Ausstoß und dem Respekt vor dem Handwerk ist das (in anderen Ländern) verbrauchte Wasser ein Grund mehr, wenn möglich, in ökofaire Kleidung zu investieren, und jedes Kleidungsstück so lange wie möglich zu nutzen – und beim nächsten Mal vielleicht doch das bereits favorisierte Stück bei Vinted secondhand zu kaufen. Ähnliche Gewissensbisse habe ich mittlerweile, wenn ich mit einer neuen Packung Kaffee an der Biomarkt-Kasse stehe. Die Avocado verbraucht übrigens nur rund 1000 Liter Wasser auf 1Kilogramm, ein Computer rund 20.000 Liter.
Das Problem mit dem Wasser ist ein sehr komplexes. Das bedeutet: Auch die Lösungsansätze müssen vielfältig und auf verschiedenen Ebenen erfolgen. Kosument:innen-Shaming bringt uns nur bedingt, oder gar nicht, weiter.
Natürlich sollten wir (sofern wir uns das leisten können) überlegen, entsprechende Konzerne, die von dem Mangel an Wasser in bestimmten Regionen der Erde nicht nur profitieren, sondern ihn als Kollateralschaden regelrecht produzieren, nicht mit unserem Geld zu unterstützen. Wir können uns außerdem pflanzlich ernähren, unseren Konsum reduzieren und öfter Gebrauchtes kaufen – all das senkt den Wasserverbrauch deutlich. Die Macht des Einkaufszettels ist allerdings auch hier begrenzt: Solange es politische Rahmenbedingungen gibt, die zulassen, dass Wasser zuerst als Ware betrachtet wird, werden Firmen und Spekulant:innen sich diesen Umstand zunutze machen. Es gilt daher, wie bei beinahe allen Themen, die mit Nachhaltigkeit zu tun haben: Das, was uns im Alltag berührt, hat eine politische Wurzel – und langfristig gesehen müssen wir vor allem an dieser ansetzen.
Das bedeutet beispielsweise, Initiativen wie das Lieferkettengesetz zu unterstützen – denn dort, wo jeder Schritt der Kette überwacht und so fair wie möglich gestaltet wird, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass auch mit den Ressourcen verantwortungsvoller umgegangen wird. Auch die Unterstützung von Firmen, Organisationen und Parteien, die sich mit Rekommunalisierung, Kreislaufwirtschaft und Rohstoffzyklen beschäftigen, kann einen Unterschied machen. Bisher wird beispielsweise nur ein Prozent des Materials, das für Kleidung genutzt wird, zu neuer Kleidung recycelt. Wir können unsere Lieblingslabels (in allen Konsumbereichen) fragen, wie sie es mit ihrem Wasserverbrauch halten und woran sie arbeiten, um ihn zu verringern. Darüber hinaus sollten wir unseren Finger auf die immer noch selbstverständlichen kolonialen Wirtschaftspraktiken legen und das Menschenrecht auf Wasser für alle Menschen auf diesem Planeten einfordern – nicht nur für die Gemeinden vor unserer Haustür.
Das alles ist im ersten Moment vielleicht unbefriedigend, weil es nicht viele sofort umsetzbare Lösungen, keine direkt messbaren Ergebnisse (und oft Rückschläge) zur Folge hat. Doch das Dranbleiben kann sich nur lohnen – denn wie wir als globale Gemeinschaft und insbesondere Menschen aus dem Globalen Norden mit Wasser umgehen, ist kennzeichnend für unsere Beziehung zur Umwelt und die mit uns auf diesem Planeten lebenden Menschen. Wasser ist mehr als ein weiterer Rohstoff, der an der Börse gehandelt werden kann. Er ist aufgeladen mit Werten, Emotionen, Hoffnungen und Geschichte(n). Abstrakta, die wir nicht in Zahlen packen können. Allein, dass das Recht auf diesen essentiellen Stoff immer wieder neu erkämpft werden muss, sollte uns zum Handeln mit langfristiger Perspektive motivieren. Denn am Ende ist Wasser vor allem eines: die Grundlage allen Lebens.
Disclaimer: Dieser Artikel ist ein Überblickstext – das bedeutet, dass ich notwendigerweise Dinge verkürzen, vereinfachen und auslassen muss. Für eine intensivere Lektüre habe ich zahlreiche Quellen verlinkt.