Kleidung wird mit Künstlicher Intelligenz (KI) entworfen, Models, die gar nicht existieren, präsentieren Kollektionen von Fast Fashion-Ketten wie Mango und es finden KI-Fashion Weeks statt. Das alles klingt eher nach Science-Fiction als nach klassischen Modethemen. Aber KI ist längst in der Realität angekommen und beeinflusst auch die Modeindustrie immer stärker. Laut dem Bericht „State of Fashion 2024“, herausgegeben vom Branchenmagazin The Business of Fashion und der Beratungsfirma McKinsey, ist KI eines der zehn wichtigsten Themen der Modebranche. „Nach dem Durchbruch der generativen KI (Gen AI) im Jahr 2023 zeichnen sich branchenweit immer mehr Anwendungsfälle ab“, heißt es dort.
In ihrem Podcast „Clotheshorse“ beschäftigt sich Amanda Lee McCarty auch mit Themen wie diesen; zudem ist sie als Beraterin und Business Coach tätig. Auf der Fashion Changers Konferenz am 1.Oktober wird sie Einblick in Chancen und Risiken von KI in der Mode geben. Uns hat sie vorab mehr über ihren Weg durch die Modebranche, ihre aktuelle Arbeit und Ziele erzählt.
Du wirst auch die „Elle Woods der Slow Fashion“ genannt. Wie kam es dazu?
“Vor ein paar Jahren hat mich jemand auf Instagram so genannt. Ich habe es geteilt und viele Leute sagten: Das bist du wirklich! Du liebst Pink, ziehst dich immer süß an und die Leute sind wahrscheinlich überrascht, dich reden zu hören und herauszufinden, dass du wirklich schlau bist. So wie bei Elle Woods in „Legally Blonde“. Ich finde selbst, dass es gut zu mir passt.”
Deine Karriere in der Modebranche begann im Handel. Wie kamst du zur Mode?
“Eigentlich wollte ich Kunstlehrerin werden und studierte, habe aber auch überlegt, Krankenschwester zu werden. In dieser Phase jobbte ich in Portland in einer Urban Outfitters-Filiale. Eines Tages besuchten Führungskräfte aus dem Headquarter unser Geschäft. Ich führte sie durch meine Abteilung, sprach über Kunden, Chancen, Produkte. Am Ende fragte eine der Führungskräfte, ob ich in der Zentrale in Philadelphia als Einkäuferin arbeiten wolle. Ich habe nur gelacht, denn erstens ist Philadelphia 3000 Meilen von Portland entfernt und zweitens wusste ich damals nicht mal, was eine Einkäuferin ist. Aber eine Woche später saß ich im Flugzeug. Die Arbeit als Einkäuferin gefiel mir, denn es ging um vieles, in dem ich gut bin, Mathe und kritisches Denken etwa. Und ich habe eine Leidenschaft für Kleidung und Stil.”
Irgendwann hat sich dein Blick auf die Modebranche geändert. Warum?
Einerseits gefiel mir die tägliche Arbeit sehr – anders als die Kultur in der Modebranche. Sie ist toxisch, klassistisch, ableistisch, fettphobisch und rassistisch. Zudem hatte ich immer dieses Gefühl, dass das, was wir taten, nicht gut war: Wir sprachen nie darüber, wer unter welchen Bedingungen die Produkte herstellte, die wir verkauften. Angesichts der Preise, zu denen wir ein- und verkauften, fragte ich mich: Wie konnten sie so niedrig sein und die Leute trotzdem bezahlt werden? Je länger ich in der Branche war und je höher ich die Karriereleiter hinaufkletterte, desto mehr solcher Fragen stellte ich mir. Irgendwann wollte ich kein Teil mehr davon sein, wusste aber auch nicht, was ich stattdessen tun sollte.
Was geschah dann?
Die Pandemie. 2020 war ich Einkäuferin bei einer Mode-Leih-Plattform. Zu Beginn der Pandemie sollten wir alles stornieren: Jede Lieferung, egal, ob sie schon auf dem Weg zu uns war. Ich musste mit Mitarbeiter*innen und Firmeninhaber*innen telefonieren, die Angst hatten, pleitezugehen, ihre Teams nicht bezahlen zu können, ihre Jobs, Geschäfte und Lebensgrundlagen zu verlieren. Wenn ich intern meine Bedenken ansprach, hieß es, ich solle aufhören, es ginge um die Rentabilität des Unternehmens und die Sicherung unserer Arbeitsplätze. Das machte mich richtig krank. Schließlich wurde ich entlassen. Nun hatte meine Familie ihre Lebensgrundlage verloren. Die Zeit ohne Arbeit habe ich genutzt, um mehr über die Modeindustrie zu lernen. Mir wurde immer klarer, dass ich nicht mehr zurückkehren konnte. Und dann habe ich meinen Podcast „Clotheshorse“ gegründet.
Mit welchem Ziel?
“Ich wollte den Leuten begreiflich machen, wie unsere Kleidung wirklich entsteht und was mit ihr passiert. So sehr ich Mode schon immer geliebt habe, so sehr habe ich das Gefühl, dass wir sie auf ein Podest stellen. Wenn wir alle wüssten, wie Kleidung wirklich entsteht, würden wir vielleicht sagen: Ich kann Kleidung lieben, sie als Kunstform betrachten und meinen persönlichen Stil haben, aber ich muss keine Mode kaufen, die diesem System entspringt, sondern möchte das System verändern. Das war die Idee hinter „Clotheshorse“.”
Wie hat sich in den vier Jahren von „Clotheshorse“ der inhaltliche Schwerpunkt entwickelt?
“Am Anfang habe ich erklärt, wie die Dinge funktionieren und warum das problematisch ist. Dann wurde mir klar: Wenn ich zu viele negative Informationen erhalte, fühle ich mich davon überwältigt, werde wütend und traurig – vor allem, wenn ich mit der Information alleine bleibe. Viel besser wäre es doch, zu überlegen, wie man diese Informationen nutzen und Maßnahmen ergreifen kann, um das System zu verändern. Das hat meine Arbeit verändert. Heute zeige ich nicht nur ein Problem auf, sondern biete auch Lösungen an.”
Ist das deiner Arbeit als Beraterin und Coach ähnlich?
“Ja. Damit begann ich auch 2020, als ich meinen Job verloren hatte und die Arbeitslosenunterstützung bald endete. Eine Freundin riet mir, Unternehmen zu beraten. Ich begann mit einem kleinen Unternehmen, wurde weiterempfohlen und so ging es weiter. Heute helfe ich Unternehmen bei der Finanz- und Warenplanung, beim Produktsortiment, mit Tabellenkalkulationen. Manchmal ermutige ich sie auch einfach. Dann fühle ich mich wie eine Therapeutin für Unternehmen.”
Fast Fashion ist ein gewaltiges Problem. Was motiviert dich, weiter dagegen zu kämpfen?
“Es ist harte Arbeit. Für alle, die gegen Fast Fashion und für Veränderungen kämpfen. Veränderungen sind möglich sind, aber nur, wenn alle mitmachen. Im Laufe meiner Karriere habe ich gelernt, dass nur zwei Dinge ein Unternehmen zwingen, seine Entscheidungen zu ändern: Gesetzliche Bestimmungen und die Angst vor Umsatzeinbußen. Für beides können wir uns als Einzelpersonen einsetzen. Als Bürger*innen können wir abstimmen, für Gesetze und Vorschriften kämpfen. Und als Kund*innen können wir aufhören, diese schlechten Dinge zu kaufen. Niemand hat mehr Macht, das Modesystem zu verändern, als diejenigen, die Mode lieben.”
Siehst du schon Fortschritte?
“In den letzten Jahren haben sich auch Menschen der Slow-Fashion-Bewegung angeschlossen, die vorher nichts davon wussten. In der EU gibt es regulatorische Fortschritte, das beginnt auch hier in den Vereinigten Staaten. Das Bewusstsein für Überkonsum und für den richtigen Umgang mit Kleidung wächst. Wir stehen am Anfang eines großen gesellschaftlichen Wandels mit Blick auf Konsum, vor allem von Kleidung.”
Kann KI diesen Wandel unterstützen?
“Ja, insbesondere in Bezug auf Passform und Größe, zwei sehr komplizierte Themen. Aber derzeit nutzt die Modebranche KI vor allem, um mehr zu verkaufen, kleinere Marken zu kopieren oder um die Kreativen zu ersetzen, die Mode zu der Kunst machen, die sie ist. Ich frage mich: Warum nutzen wir KI, um die menschliche Kreativität zu ersetzen, statt sie zur Lösung der großen Probleme zu nutzen?”
Eine der größten Ängste, wenn es um KI geht, ist jene vor Jobverlust. Hältst du das mit Blick auf die Mode für gerechtfertigt?
“Absolut. In 20 Jahren in der Modebranche habe ich erlebt, wie Kleidung immer noch günstiger und schneller hergestellt und die Zahl der Mitarbeiter*innen, Designer*innen und Einkäufer*innen immer kleiner wurde. Viele Unternehmen sehen in KI eine Möglichkeit, Geld zu sparen: Sie lassen Prints durch KI erstellen, sodass sie keine Druckdesigner*in mehr brauchen. Sie ersetzen ganze Designteams durch KI, die Inspiration aus dem Internet zieht. Ich bin mir sicher, dass KI irgendwann auch Einkäufer*innen ablösen wird.”
Auch Models werden ja schon per KI erschaffen…
“Damit können Unternehmen viel Geld sparen. Shootings sind teuer: Models, Fotograf*innen, Make-up-Artists, die Ausrüstung, das Studio, das alles wegzulassen, ergäbe einen Gewinnsprung für Unternehmen. Zusätzlich zu meiner Sorge, dass viele Menschen ihren Job verlieren, befürchte ich auch, dass KI-generierte Models negative Auswirkungen auf unsere mentale Gesundheit und die Wahrnehmung des eigenen Körpers haben könnten. Das erleben wir bereits bei Instagram mit all den Filtern. So entstehen idealisierte, unnatürliche Gesichter und Körper, die dann wieder den Make-up- und Kleiderkonsum oder die plastische Chirurgie ankurbeln. Es ist beängstigend.”
Welche Risiken von KI werden noch zu selten diskutiert?
“Der CO2-Fußabdruck der KI in ihrer jetzigen Form und ihr Energieverbrauch sind enorm. Deshalb sollten wir KI nur für die wichtigsten Dinge nutzen und eben nicht, um Arbeitsplätze zu ersetzen oder Memes zu erstellen. Für eine Rechnung brauche ich kein ChatGP, das geht auch mit einem Solar-Taschenrechner.”
Auch Ultra Fast Fashion-Unternehmen wie Shein nutzen KI intensiv…
“Wir wissen, dass Unternehmen wie Shein und Temu KI und Algorithmen einsetzen, um kreative Arbeit aus dem Internet zu kopieren. Die gesamte Technologie dahinter ist noch nicht bekannt, aber ich freue mich schon auf den Tag, an dem wir die ganze Wahrheit erfahren. Shein bringt jeden Tag 6000 neue Styles auf den Markt. In den USA hängen in Secondhandläden so viele Teile von Shein, oft noch mit Etiketten darin. Wenn ich sie mir ansehe, weiß ich genau, von welcher Marke das Design gestohlen wurde – oft auf bizarrste Weise. Immer, wenn jemand bei Shein einkauft, unterstützt er diese Maschinerie, die Technologie missbraucht, Ressourcen verbraucht und kleine Unternehmen zerstört.”
Wie können kleine Unternehmen KI auf positive Weise nutzen?
“Kleine Unternehmen haben weniger Ressourcen, zum Beispiel fürs Schnittdesign. Ihnen kann KI bei der Schnitterstellung und Größenbestimmung helfen. Auch die Menge, in der ein Design produziert werden soll, können sie mit KI genauer bestimmen. Und sie könnten KI nutzen, um ihre Finanzen zu planen. Für kleine Unternehmen kann KI enorme Vorteile mit sich bringen.”
Und wie würde die Elle Woods der Slow Fashion am liebsten KI nutzen?
“Um meinen Kalender und Meetings zu planen, Finanzen zu organisieren – alles, was mich von kreativen Dingen abhält.”
Vielen Dank für das Gespräch – Wir sind schon auf deinen Auftritt bei der Fashion Changers Konferenz gespannt!
Du möchtest mehr über Künstliche Intelligenz in der Modebranche erfahren? Dann bist du bei uns genau richtig!
Amanda Lee McCarty wird auf der Fashion Changers Konferenz 2024 einen Vortrag zum Thema „Fashion & (Generative) AI – zwischen Hype, Backlash und Chancen“ (auf Englisch) halten.
Im Vortrag werden unter anderem folgende Fragen beantwortet:
- Was sollen wir über (generative) AI im Kontext von Nachhaltigkeit wissen?
- Wann kann die Nutzung von AI Tools wirklich zu einem positiven Impact führen?
- Fakten-Check AI Tools & Fashion: Kann AI bei Überproduktion helfen und wenn ja, wie genau?
- Welche Chancen ergeben sich durch AI jetzt schon im E-Commerce, aber auch im stationären Handel?
- Wann sollten wir AI im Kontext von Mode und Nachhaltigkeitsdebatten kritisch besprechen?
Dieser Programmpunkt orientiert sich an den SDGs 9 „Industrie, Innovation und Infrastruktur“, Ziel 12 „Nachhaltige/r Konsum und Produktion“ und Ziel 17 „Partnerschaften zur Erreichung der Ziele“ der 17 Ziele für Nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen.
Wenn du mehr über die Zukunft der Modebranche und ihre Innovationspotenziale erfahren möchtest, dann sichere dir jetzt dein Konferenz-Ticket.
Amanda Lee McCarty wollte eigentlich Kunstlehrerin werden, machte dann aber eine Modekarriere, die als saisonale Teilzeit-Verkaufsmitarbeiterin in den Umkleidekabinen eines Fast-Fashion-Einzelhändlers begann. Heute ist Amanda Podcasterin des international bekannten und beliebten Podcasts „Clotheshorse“, mit dem sie kapitalismuskritische Perspektiven diskutiert, immer geprägt von ihrer langjährigen Industrie-Erfahrung.