Renewcell wurde lange als Vorzeigeunternehmen im Textilrecycling gefeiert, mit hohen Investitionen und viel Hype – bis die überraschende Insolvenz Anfang 2024 die Branche aufgerüttelt hat. Inzwischen hat Renewcell einen neuen Käufer gefunden und wird künftig unter neuem Namen – Circulose – agieren. Die Frage aber bleibt: Wie sieht die Zukunft von Recycling aus?
Melina Sachtleben, Wissenschaftlerin mit Schwerpunkt Bioökonomie und Textilrecycling am Institut für Textiltechnik der RWTH University, beleuchtet in ihrer Arbeit die großen Herausforderungen, vor denen die Branche steht, und welche technischen Hürden es zu überwinden gilt.
Am 1. Oktober 2024 wird Melina Sachtleben ihr Wissen als Speakerin auf der Fashion Changers Konferenz teilen und dabei tief in die Themen Recycling, Materialkreisläufe und die nötige Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Akteur*innen eintauchen. Vorab hat sie uns spannende Einblicke in ihre Arbeit gegeben und dabei über die Herausforderungen beim Textilrecycling, die Bedeutung von effektiver Kommunikation zwischen verschiedenen Akteur*innen und die Auswirkungen neuer EU-Gesetze auf die Branche gesprochen.
Melina, was hat dich persönlich dazu bewegt, dich auf Bioökonomie und Textilrecycling zu spezialisieren?
Melina Sachtleben: „Ich habe als Maßschneiderin angefangen und später Bekleidungstechnik im Bachelor und Textilmanagement im Master studiert. Während meines Studiums verbrachte ich insgesamt ein Jahr in Indonesien und Bangladesch, wo ich die Bekleidungsbranche 2014 und 2016 intensiv kennenlernte. Ich arbeitete bei Bekleidungsagenturen, die Aufträge an Fabriken weitergaben, und erlebte die Branche an einem wichtigen Kommunikationsknotenpunkt. Diese Erfahrungen brachten mich dazu, über die negativen Seiten der Branche nachzudenken und mich auf Nachhaltigkeit zu fokussieren. Nach meinem Masterstudium begann ich als Projektmanagerin am Institut für Textiltechnik in Aachen und erkannte, dass ich mich speziell auf die Themen Recycling und Bioökonomie konzentrieren möchte.“
Wie sieht ein typischer Tag bei dir aus?
„Hinter den Kulissen besteht ein Großteil meiner Arbeit aus Organisation und Netzwerken. Ich bringe verschiedene Partner zusammen, da mir aufgefallen ist, dass die verschiedenen Akteur*innen der Bekleidungs- und die Textilbranche oft unterschiedliche Sprachen sprechen. Wenn Akteur*innen aus diesen beiden Branchen an einen Tisch kommen, entstehen oft Missverständnisse, weil alle in ihrer eigenen Welt denken, ohne die Sichtweise der anderen zu verstehen. Diese Missverständnisse zu überbrücken, ist ein zentraler Teil meiner Arbeit.“
Welche Unterschiede gibt es denn zwischen Akteur*innen aus der Bekleidungs- und der Textilbranche? Kannst du ein Beispiel geben?
„Wir haben mal eine Diskussion organisiert, bei der Expert*innen aus verschiedenen Bereichen zusammen kamen. Unsere Partner waren besonders daran interessiert, zu verstehen, wie Designer*innen denken und welche Anforderungen sie an recycelte Produkte haben. Doch am Ende des Treffens waren alle etwas irritiert. Der Designer fühlte sich missverstanden, weil seine Fragen nicht wirklich beantwortet wurden, und die Partner aus der Chemieindustrie vermissten konkrete Ansätze, da sie wenig mit den eher emotionalen Diskussionen über Nachhaltigkeit anfangen konnten.
Das war für mich ein Aha-Moment: Es zeigt, wie wichtig es ist, eine Art ,Übersetzer*in’ zu haben, um sicherzustellen, dass alle Beteiligten sich verstehen und effektiv zusammenarbeiten können.“
Glaubst du, dass solche Kommunikationslücken den Fortschritt im Bereich Textilrecycling bremsen?
„Ich denke, wir konzentrieren uns oft zu sehr auf andere Themen, die zwar wichtig sind, aber den technischen Fortschritt im Recycling aus dem Blickfeld drängen.
Ein Beispiel dafür war mein Vortrag bei der Neonyt über die technischen Hürden des Textilrecyclings. Es gab keine Rückfragen dazu, weil das Publikum mehr an einem Vortrag über Marketingstrategien interessiert war. Das hat mir gezeigt, wie schwierig es ist, das Bewusstsein für die technischen Herausforderungen in der Textilbranche zu schärfen.“
Warum ist es so wichtig, über diese technischen Details zu sprechen, insbesondere wenn es um Zirkularität in der Modebranche geht?
„Die Lösungen für echte Zirkularität liegen auf der Faserebene. Es geht darum, Rohstoffe, die oft als Abfall betrachtet werden, so aufzubereiten, dass sie wieder wertvoll werden und in neue, hochwertige Produkte verwandelt werden können. Deshalb bin ich überzeugt, dass Kommunikation zwischen allen Akteur*innen einer textilen Lieferkette der Schlüssel ist, um diese Herausforderungen gemeinsam zu bewältigen.“
Wie sieht deiner Meinung nach ein ideales Team in einer textilen Recycling-Lieferkette aus?
„Ein*e Designer*in, die sich mit Recycling-Design auskennt und eng mit denjenigen zusammenarbeitet, die den Prozess durchführen, ist unerlässlich. Ohne Wissen über die technische Machbarkeit lässt sich kein effektives Recycling-Design entwickeln.
Dann sind die Produzent*innen wichtig, die das Design im Textil- und Bekleidungsbereich umsetzen. Ein Team für Customer Relationship Management sollte ebenfalls integriert sein, um den Kund*innen den Wert der recycelten Materialien nahezubringen.
Die gesamte Recyclingkette – von Sammlern und Sortierern über Aufbereiter bis zu Recyclern – spielt eine zentrale Rolle, da diese Akteur*innen das Material wieder für die Designer*innen bereitstellen. So schließt sich der Kreis.
Letztendlich müssen alle Beteiligten eng zusammenarbeiten und ein Verständnis dafür entwickeln, was die anderen in der Kette benötigen. Chemiekonzerne, die Polyester recyceln möchten, müssen beispielsweise verstehen, wie Designer*innen denken und warum sie bestimmte Entscheidungen treffen. Nur durch ein solches gegenseitiges Verständnis kann eine erfolgreiche Zusammenarbeit – und das erfolgreiche Recycling – gewährleistet werden.“
Im Rahmen der EU-Textilstrategie werden auch bald Richtlinien in punkto Recycling und Kreislaufwirtschaft in Kraft treten. Wie bewertest du diese Entwicklung?
„Richtlinien wie die Green-Claims-Direktive und die erweiterte Herstellerverantwortung sind längst überfällig. Seit der Ankündigung dieser bevorstehenden Gesetze sehe ich, dass viele Unternehmen den Bedarf erkannt haben, sich intensiver mit Nachhaltigkeit auseinanderzusetzen.
Es bleibt jedoch abzuwarten, wie sich diese Entwicklungen weiter entfalten. Ich sehe den kommenden Jahren – insbesondere 2025 und 2026, wenn viele neue Gesetze in Kraft treten – mit einer Mischung aus Besorgnis und Spannung entgegen, da diese Zeit entscheidend für die Branche und ihre Anpassungsfähigkeit sein wird.“
„Die Technologie-Entwickler*innen bei Renewcell hätten wahrscheinlich mehr Zeit und Geduld gebraucht, um ihre Lösungen am Markt zu etablieren, während die Investor*innen auf schnelle finanzielle Erfolge drängten. In der Nachhaltigkeitsbranche ist jedoch ein langer Atem notwendig, und genau dieser schien hier zu fehlen.“
Melina Sachtleben, Wissenschaftlerin
Stichwort Besorgnis: Der schwedische Textil-Recycler Renewcell galt lange als die ultimative Lösung im Recycling-Bereich, doch die Insolvenz kam für viele überraschend. Wie erklärst du das, obwohl so viel in das Unternehmen investiert wurde?
„Die Insolvenz von Renewcell hat viele in der Branche stark bewegt. Das wird sicher eines der zentralen Themen auf der Konferenz sein – wie es zu dieser Insolvenz kam, was wir daraus lernen können und wo die Hürden im Recycling liegen. Was ich dazu jetzt schon sagen kann, ist, dass das Erwartungsmanagement gegenüber den Investor*innen eine entscheidende Rolle spielte. Die Technologie-Entwickler*innen bei Renewcell hätten wahrscheinlich mehr Zeit und Geduld gebraucht, um ihre Lösungen am Markt zu etablieren, während die Investor*innen auf schnelle finanzielle Erfolge drängten. In der Nachhaltigkeitsbranche ist jedoch ein langer Atem notwendig, und genau dieser schien hier zu fehlen.“
Das Streben nach schnellem Wachstum scheint hier erneut eine Rolle gespielt zu haben. Gibt es derzeit Alternativen zu Renewcell, vielleicht kleinere, aber ganzheitlich nachhaltige Start-ups?
„Es gibt viele Start-ups, die sich mit verschiedenen Aspekten des Recyclings beschäftigen, aber es wird keine einzelne Firma geben, die die Lösung allein bieten kann. Stattdessen wird es ein Zusammenspiel verschiedener Unternehmen und Forschungsprojekte sein, die gemeinsam daran arbeiten, diese Herausforderungen zu bewältigen. Wichtig ist dabei – und das hat der Fall Renewcell gezeigt –, dass der Business Case stimmt, damit diese Unternehmen langfristig erfolgreich sein können.“
Was ist deine Prognose für die kommenden Jahre?
„Ich denke, dass wir in den nächsten fünf, zehn, 20 Jahren zunehmend in der Lage sein werden, Ressourcen wie Alttextilien effektiver zu nutzen und technisch recycelbar zu machen. Allerdings könnten aktuelle geopolitische und wirtschaftliche Herausforderungen diesen Fortschritt bremsen, da viele Unternehmen gezwungen sind, sich auf ihr Kerngeschäft zu konzentrieren.
Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Vergleichbarkeit der verschiedenen Recycling-Prozesse, etwa durch die Entwicklung von Lebenszyklusanalysen (LCA). Ich erwarte, dass wir in Zukunft mehr Daten haben werden, die zeigen, welche Prozesse wirklich nachhaltiger sind. Das könnte zu schwierigen Entscheidungen führen, denn wenn sich herausstellt, dass ein Prozess nicht besser ist als bisherige Methoden, wird er sich nicht durchsetzen. In den nächsten Jahren wird sich in diesem Bereich also noch viel verändern.“
Danke für deine Expertise, Melina.
Du möchtest mehr über die Zukunft von Textilrecycling erfahren? Dann bist du bei uns genau richtig!
Melina Sachtleben wird auf der Fashion Changers Konferenz 2024 Speakerin der Podiumsdiskussion „The future of textile recycling: Wo steht die Modebranche aktuell, wo geht sie hin?“ sein.
Im Panel werden unter anderem folgende Fragen beantwortet:
- Wo steht die Modeindustrie aktuell beim Thema Textilrecycling?
- Was ist technisch aktuell möglich?
- Wenn Investoren wie H&M sich bei Renewcell zurückziehen, was bedeutet das für die Industrie, gerade in Anbetracht der aktuellen Krisen und der Rückkehr zu weniger nachhaltigen Praktiken?
- Wie passt diese Entwicklung zur aktuellen Gesetzgebung und zur EU-Textilstrategie, die Kreislauffähigkeit einfordern wird?
- Woran liegt es, dass Recycling noch so wenig umgesetzt wird? Und wie können diese Hürden überwunden werden?
- Wie sieht ein realistisches Szenario für die Recycling-Industrie in fünf Jahren aus?
Dieser Programmpunkt orientiert sich an den SDGs 9 „Industrie, Innovation und Infrastruktur“, Ziel 12 „Nachhaltige/r Konsum und Produktion“, Ziel 13 „Maßnahmen zum Klimaschutz” und Ziel 17 „Partnerschaften zur Erreichung der Ziele“ der 17 Ziele für Nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen.
Melina Sachtleben ist Wissenschaftlerin mit dem Fokus Bioökonomie und Recycling von Textilprodukten am Institut für Textiltechnik der RWTH Aachen University. Sie hat einen Hintergrund in Textil- und Bekleidungs-Ingenieurwesen sowie Management und die Passion, Menschen zusammenzubringen, um eine nachhaltigere Textilkette zu schaffen. Berufserfahrung in den Produktionsländern Bangladesch und Indonesien hat ihr gezeigt, wie wichtig es ist, die Art und Weise zu überdenken, wie wir Textilprodukte produzieren, nutzen und vertreiben. Ihre Leidenschaft gilt der gemeinsamen Umsetzung von Nachhaltigkeit in der textilen Kette.