⎯ »Unpolitisch sein heißt politisch sein, ohne es zu merken.« (Rosa Luxemburg)
Wir sehen dieses Bild überall: volle Einkaufspassagen, bevölkert von ausschließlich glücklichen Menschen, die viele Tüten tragen. Die Verbindung ist leicht hergestellt – es sind diese prall gefüllten, bunten Tragetaschen, die das breite Grinsen auf den glückseligen Gesichtern zu verantworten haben. Die Figuren in den Primetime-Serien, die Menschen auf der leuchtenden Werbetafel an der Bushaltestelle, die Haul-Videos auf YouTube machen es uns vor: Konsum macht Spaß. Oder mehr noch: glücklich.
(Spaß und Glück sind sowohl in Intensität als auch in nachhaltiger Wirkung grundverschieden voneinander. Aber das ist an dieser Stelle nicht so wichtig. Für weitere Gedanken dazu schau‘ doch mal hier vorbei.)
Für viele von uns ist Einkaufen daher weit mehr als das Besorgen von Dingen, die wir brauchen.
Wobei „brauchen“ ganz klar eine Definitionssache ist: Denn was brauchen wir in gut ausgestatteten Wohnungen lebenden, gut genährten und mitten im Leben stehenden Individuen in postmodernen Industriegesellschaften schon?
Die zusätzlichen 60 Kleidungsstücke, die wir jedes Jahr nach Hause tragen, fallen wohl kaum in die Kategorie Lebensnotwendiges. Trotz voller Kleiderschränke kaufen wir jedoch weiter – obwohl wir theoretisch wissen, dass das investierte Geld für den zehnten Rock eigentlich in anderen Projekten besser aufgehoben wäre.
Und noch etwas wissen wir (auch, wenn wir gerne vorgeben, dass dem nicht so ist): Die allermeiste Kleidung, die sich so schön weich und bunt verpackt nach Hause transportieren lässt, macht am Ende vermutlich nur eine*n glücklich. Uns.
Und das auch nur kurzfristig.
Die verdrängte Realität
Rana Plaza ist ein Stichwort, bei dem sich die Haare der CEOs von großen Modekonzernen sträuben dürften. Der Einsturz eines Fabrikgebäudes in Bangladesch am 24. April 2013, in dem unter anderem KiK und Primark fertigen ließen, kostete über 1130 Menschen das Leben. Mehr als 2400 weitere wurden zum Teil schwer verletzt.
Die Folgeschäden für die Biografien der Überlebenden sind weder vorstellbar noch im Detail nachweisbar. Man spricht von abgerissenen Händen, Beinen, Armen, Depressionen – physischer wie mentaler Arbeitsunfähigkeit.
Die Aufnahmen gingen um die Welt und brachten die Weltbilder der wohlhabenden Industrieland-Konsument*innen durcheinander. Zum ersten Mal, so scheint es, wurde in vollem Umfang deutlich, was unbedachter Konsum anrichten kann.
Und auch, wenn kein Fabrikgebäude einstürzt: Die Arbeitsbedingungen, unter denen die meiste konventionelle Kleidung hergestellt wird – sei da nun ein preissteigerndes Markenlogo draufgestickt oder nicht – sind alles, nur nicht menschlich.
– Wenn es gut läuft, verdient eine Näherin in Bangladesch bis zu 32 Cent pro Stunde. Das macht 60 Euro im Monat.
– Unbezahlte Überstunden (20 oder mehr) gehören zum Alltag.
– Wer den Produktionssoll nicht schafft, wird entlassen.
– Pausen gibt es – je nach Firma – wenige bis keine.
– Sichere Verträge gibt es nicht – die Arbeiter*innen müssen in ständiger Angst vor plötzlicher Kündigung leben.
– Die Versammlung zu Gewerkschaften und Vertriebsverbänden wird systematisch verhindert.
– Die Sicherheitsstandards der Produktionsstätten lassen in der Regel zu wünschen übrig und werden wenig bis gar nicht kontrolliert. So kommt es regelmäßig zu Einstürzen und Bränden in Fabrikgebäuden (ein Fall landete kürzlich erstmals in Deutschland vor Gericht).
– Ungeschützte Arbeit mit Chemikalien und unergonomische Bewegungsabläufe lassen die Arbeiter*innen krank werden und jeden Tag ihr Leben riskieren.
– Die Kampagne für Saubere Kleidung rechnet vor: Von einem T-Shirt, das 29 Euro kostet, kommen gerade einmal 18 Cent (0,6%) bei den Näher*innen an. Das ist zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel.
(Der Vollständigkeit halber sei angemerkt, dass diese Zustände nicht nur auf Länder wie Bangladesch oder Indien zutreffen. Auch Mode aus China, Indonesien, El Salvador, der Türkei und aus Europa (Italien, Spanien, Portugal, Polen etc.) wird zum Teil unter menschenunwürdigen Bedingungen produziert.)
Meine Menschenwürde, meine Identität
“Werteorientierungen” spielen eine wichtige Rolle beim Kaufen von Kleidung, sagt Oliver Gansser, Marktforscher für die Essener Hochschule für Ökonomie und Management, in dem vielzitierten Video »Unfaire Mode – der hohe Preis für unsere Kleidung« von der ARD (zu finden hier in der ARD-Mediathek).
“Wir ziehen im Prinzip unsere Wertvorstellungen an, indem wir versuchen, das Image von einer Marke oder eines Herstellers auf uns zu übertragen und damit dieses Image nach außen auszustrahlen.” – Oliver Gansser
Das klingt nachvollziehbar und ist leicht am eigenen Kaufverhalten zu überprüfen. Kleidung bedeckt nicht nur unseren Körper, sie ist darüber hinaus Statement und trägt einen wesentlichen Teil zu unserer täglichen Selbstinszenierung bei.
Kleidung und Identität – diese beiden Aspekte sind eng miteinander verwoben.
“We communicate who we are through clothing.” – The True Cost, Trailer
Ist das noch tragbar oder kann das fair?
Nun stellt sich allerdings die naheliegende Frage: Wenn das der Fall ist – warum sind viele der populären Labels (H&M, Zara, Primark – um nur ein paar zu nennen) eigentlich noch tragbar?
Wenn wir durch die bewusste Entscheidung für Kleidung von spezifischen Labels deren Wertevorstellungen nicht nur zur Schau stellen, sondern außerdem ganz tuchfühlmäßig an unsere Körper lassen, sollten wir wissen, welche Message (und welche Materialien) wir da eigentlich in die Welt tragen.
Das beginnt nicht bei der offensichtlichen Schizophrenie von GRL PWR-Shirts für fünf Euro.
Es beginnt bei einem scheinbaren blinden Vertrauen in Großkonzerne – das in Wahrheit keines ist, sondern auf einer ebenso massiven wie massenhaften Verdrängungsleistung beruht.
Diese Leistung besteht insbesondere darin, nicht sehen zu wollen, dass die Voraussetzung für die Klamotten-Schnäppchenjagd am Samstagnachmittag die systematische Verletzung von Menschenrechten ist.
(Auf Nachfrage geben viele Menschen nämlich an, dass sie sehr wohl glauben, dass mit der Produktion der Kleidungsstücke nicht alles in Ordnung sein kann, wenn man sie für diesen niedrigen Preis erwerben kann. Warum sie dann trotzdem kaufen? In erster Linie aus Bequemlichkeit.)
Mehr noch: dass an unserer Kleidung Blut von Millionen von Menschen klebt, deren Geruch man nur aufgrund der vielen Chemikalien nicht wahrnehmen kann.
“Ich möchte nicht, dass irgendjemand auf dieser Welt Kleidung trägt, die mit unserem Blut hergestellt wurde.” (Shima, 23, Textilarbeiterin im Film The True Cost)
Du hast es dir verdient
Schicksale am anderen Ende der Welt sind physisch weit weg. Das macht es einfach, die Entscheidung für oder gegen das neue Teil auch mental in den hintersten Winkel des Bewusstseins zu verbannen.
Manchmal schleicht er sich hervor (zum Beispiel, wenn jemand kritisch nachfragt oder man eine Doku im Fernsehen sieht, die die unmenschlichen Arbeitsbedingungen in Sweatshops aufzeigt). Statt in unserem Rausch innezuhalten, konsumieren wir noch ein bisschen mehr als sonst. Als könnten wir das schlechte Gewissen mit dem Geld, das wir in den Kaufhäusern lassen, die Rolltreppe Richtung Ausgang hinunterspülen.
Und überhaupt: Wir haben es verdient!
Für die zahllosen Überstunden. Die nervige Nachbarin. Die doofe Steuererklärung.
Dank Dauerniedrigpreise konsumieren wir Mode wie Fast Food – als Belohnung. Zum Spaß, zum schnellen Genuss, der allzu oft einen schalen Nachgeschmack hinterlässt.
Wenn das Kleid nur halb so gut sitzt wie gedacht, weil man sich nicht die Zeit genommen hat, es vor dem Kauf anzuprobieren. Wenn das Shirt nur einen Waschgang in der Maschine überlebt, bevor es die ersten Löcher hat.
Ist nicht so schlimm, war ja nicht teuer. Weggeworfen wird das Teil, auf den Haufen der anderen 1,3 Millionen Tonnen Kleidungsmüll, die wir in Deutschland jährlich produzieren.
Dabei verlieren wir aus den Augen, dass das häufige Kaufen nicht nur für diejenigen, die unsere Kleidung herstellen, kein gutes Geschäft ist. Sondern auch für uns selbst, in zweifacher Hinsicht.
Zum einen sparen wir durch den Kauf günstiger Kleidung nicht – denn das täten wir nur, wenn wir nichts kaufen würden.
Zum anderen dürfen wir uns die Frage stellen, was das Konsumieren von Fast Fashion eigentlich über unser Verhältnis zu uns selbst aussagt.
Wir sagen, wir hätten sie verdient, diese schnell verfügbaren Belohnungen für die Strapazen unseres Alltags.
Doch ähnlich wie Fast Food kann auch Fast Fashion den Hunger nur kurzfristig stillen. Die Begehrlichkeiten werden im Handumdrehen wieder geweckt – und die Jagd geht weiter.
Abgesehen von der Frage, was wir im nicht aufhörenden Produktregen zu finden wünschen und wovor wir weglaufen, ist es wichtig, dass wir uns mit Folgendem beschäftigen: Wir sind doch mehr wert als Polyesterfaser-Mischungen, Kratzen auf der Haut, schiefe Schnitte und Nähte, die sich viel zu schnell verselbstständigen.
Wenn wir es genauer betrachten, ist das Hetzen von Kollektion zu Kollektion und von Trend zu Trend langfristig nichts, was uns glücklich machen kann. Und doch spielen wir das Spiel mit.
Sei es, weil wir über das nötige Kleingeld verfügen, massentauglich angezogen oder gar Trendsetter*in sein wollen oder einfach Spaß am Kaufen haben: Das System Fast Fashion kann nur überleben, weil wir (noch) nicht verstanden haben, dass die Dinge, die wir eigentlich suchen (Anerkennung und Zuneigung) nicht materialisierbar sind.
Ein System im System
Was wir darüber hinaus nicht verstanden haben, ist die Rolle von Fast Fashion innerhalb des kapitalistischen Systems, in dem wir auch genauso Produzent*innen wie Konsument*innen sind.
Das bedeutet: Einige der wesentlichen Motivatoren für das massenhafte Kaufen und Anhäufen von Kleidung (aber auch von anderen Dingen) können direkt mit den Verhältnissen, denen wir uns aktuell ausgesetzt sehen, um gesellschaftlich zu überleben, in Verbindung gebracht werden.
Und das wiederum heißt unter anderem Folgendes:
– Je mehr wir arbeiten und je stärker wir das Gefühl haben, nichts für uns selbst tun zu können, desto größer wird unsere Ersatzbefriedigung ausfallen (d.h. desto mehr konsumieren wir).
– Je weniger Zeit wir zur Verfügung haben, weil wir den Großteil davon arbeitend verbringen, desto eher werden wir das Shopping zum gesellschaftlichen (und damit: sozialen) Event stilisieren (d.h. Verabreden zum Shoppen, riesige Happenings und Event-Kampagnen, die regelmäßig und für immer neue fiktive Anlässe aus dem Boden gestampft werden).
– Je größer die vermittelte Mangelhaftigkeit des Einzelnen stilisiert wird und je omnipräsenter Vergleichsmöglichkeiten sind, desto mehr konsumieren wir. Vor allem die postmoderne Verpflichtung zur Überindividualisierung lässt in uns ständig das Gefühl aufkommen, nicht genug zu sein. Egal, wie viel wir auf welcher Ebene (an uns) arbeiten.
Sich dieser Mechanismen bewusst zu werden und ihre Wirkmächtigkeit im Hinterkopf zu behalten, hat vor allem einen Effekt: Emanzipation.
Slow und Fair Fashion – sei das nun der Umschwung auf Vintage- und Secondhand-Kleidung, ausschließlich Kleidung aus fairer Produktion oder eine Mischung aus beidem – ist demnach nicht nur eine emancipatio für die Produzent*innen, sondern auch für uns als Konsument*innen.
Emancipatio ist hier wörtlich zu verstehen: Freilassung eines Sklaven.
Was wir brauchen: eine laute, öffentliche Debatte
Das Jahr 2018 hat uns bezüglich öffentlicher Debatten viel gebracht. Wir haben gestritten gegen §219a, haben #wirsindmehr gerufen, sind gegen RWE und für den Hambi marschiert, haben unter #metoo und #metwo über Dinge debattiert, über die wir schon viel zu lange geschwiegen haben.
70 Jahre Menschenrechte (beziehungsweise Menschenrechtserklärung) haben uns daran erinnert, dass die gewichtigen Worte auf Papier nach wie vor für Millionen auf dieser Welt nicht gelten. Für 2019 wünsche ich mir, dass wir für genau diese Menschen laut werden. Wir können den Ruf anschwellen lassen, langsam. Das erste Echo ist der Griff zur verantwortungsvoll produzierten Kleidung.
Titelbild Foto: (c) Arun Sharma via Unsplash