„Diversity” ist in den letzten Monaten zum absoluten Buzzword für progressive Modelabels geworden und aus der aktuellen Diskussion um die Zukunft der Modebranche nicht mehr wegzudenken. Doch obwohl Vielfalt ein gern gesehener Gast bei reichweitenstarken Kampagnen und eindrücklichen Formaten großer Modehäuser ist, ist ein Begriff zuweilen noch immer vernachlässigt wurden: Adaptive Fashion.
Dabei ist das Potenzial adaptiver Kleidung auch wirtschaftlich enorm, wie Vogue 2019 feststellte. Bis 2026 soll der globale Markt für Adaptive Fashion über 400 Milliarden Dollar wert sein. Setzen sich Labels also heutzutage bereits mit adaptiver Mode auseinander, bringt das auch ökonomische Vorteile gegenüber der Konkurrenz mit sich.
Genau das haben die Pioniere unter den Adaptive-Fashion-Labels bereits jetzt schon erkannt. Newcomer wie das österreichische Label MOB Industries leisten wegbereitende Arbeit, die auch anderen Labels zeigt, was noch alles möglich ist. MOB Industries produziert ausschließlich Kleidung, die sowohl für Menschen mit Behinderung als auch nichtbehinderte Menschen designt ist. Dabei legen sie nicht nur einen besonderen Fokus auf Funktionalität, sondern vor allem auch auf zeitgeistige Styles und Designs.
Wir haben mit den Gründer*innen Johann Gsöllpointner und Josefine Thom gesprochen, um herauszufinden, was ihre Designs so besonders macht. Welche Chancen Adaptive Fashion bietet und wie die inklusive Modebranche der Zukunft aussieht. Außerdem konnten wir uns selbst ein umfassendes Bild der cleveren Designs machen.
Fashion Changers: Wie definiert ihr für euch Adaptive Fashion?
Johann Gsöllpointner: „Adaptive Fashion ist eher im englischsprachigen Raum gebräuchlich und heißt übersetzt ‚adaptiert, anpassungsfähig‘. Wir bevorzugen den Begriff barrierefreie Mode, da es das Problem und die Lösung gleich auf den Punkt bringt. Barrierefreie Mode richtet sich an Menschen mit unterschiedlichen Ansprüchen: Rollstuhlnutzer*innen, Prothesenträger*innen, Menschen mit temporären Verletzungen oder Frakturen, Menschen mit altersbedingten und kognitiven Einschränkungen oder Autoimmunerkrankungen.
Für diese Personen ist es oft gar nicht so leicht, Knöpfe zu öffnen, sich selbstständig, oder mit Assistenz-Unterstützung, an- und auszukleiden oder Kleidung leicht über den Gips oder die Prothese zu ziehen. Kleidungsbedingte Barrieren können Materialien, Verschlüsse, zu enge Schnitte, zu wenige Öffnungen oder Passformen sein, die nur für ‚stehende‘ Personen, bzw. normierte Körper, entwickelt sind. Es fehlt der Mode schlichtweg an Funktion. Barrierefreie Mode ist aber nicht nur für die Träger*innen von Vorteil, sondern auch für die assistierende Personen. Es kann zeiteffizienter sein oder einen Assistenzmangel ausgleichen und ist gesundheitsschonender für die persönliche Assistenz, weil es zum Beispiel potenzielle Rücken- und Schulterverletzungen vorbeugt."
Und euer Label deckt all diese unterschiedlichen Bedürfnisse ab?
Josefine Thom: „Der Fokus von MOB liegt auf Rollstuhlnutzer*innen. Wir entwickeln spezielle Schnitte, die für die Körperformen von Rollstuhlnutzer*innen optimiert sind. Einen guten Überblick gibt die Seite Cur8able von der Aktivistin und Disability-Stylistin Stephanie Thomas. Sie beschäftigt sich seit 20 Jahren mit dem Thema und zeigt auf ihrer Seite wie vielfältig dieses Thema ist."
“As the Founder of Cur8able, I made sure the mission statement was simple and laser focused; use fashion styling as a tool to challenge negative perceptions of people with disabilities. This mission is closely tied to the psychology of dress and how people perceive you based on appearance. Without going to deep into this idea it’s basically challenging role schemas as outlined in the “Social Psychology of Dress” (Lennon, Johnson, Rudd 2017) “Role schemas are the sets of behaviors expected of a person in a particular social position.” This is what leads to organizing ideas about people and their value. Schemas in general feed into categorizing others which inevitably contributes to stereotyping.”
Was ist das Besondere am MOB Design?
Johann Gsöllpointner: „MOB steht für Mode ohne Barrieren. Unsere Mode entwickeln wir gemeinsam mit Rollstuhlnutzer*innen und jungen Modelabels. Unsere Produkte sind inklusiv und barrierefrei: Praktische Funktionalität trifft modischen Anspruch, egal ob im Sitzen oder Stehen. Unter Verwendung hochwertiger Materialien und innovativer Verschlusssysteme produzieren wir in Österreich."
Josefine Thom: „Unsere Designs sind easy und schmerzfrei. Dank des ergonomischen Designs ist das An- und Auskleiden einfacher, schneller und angenehmer.
Es ist magnetisch. Unsere MOB-Fashion-Produkte fördern die Autonomie, weil weniger oder keine Hilfe beim An- und Auskleiden benötigt wird. Unsere Magnetverschlüsse machen es möglich. Wir verwenden ein weltweit einzigartiges und innovatives Verschlusssystem, das in Österreich produziert wird.
Unsere Designs funktionieren im Sitzen und Stehen. MOB-Produkte sind für die Körperformen von Rollstuhlnutzer*innen optimiert. Dadurch gewährleisten sie einen höheren Tragekomfort. Auch Nichtrollstuhlnutzer*innen erfreuen sich an den Funktionen: stylish und praktisch zugleich.“
Johann Gsollpointer: „Wir machen Mode mit Leidenschaft. Wir stellen die Ansprüche von Rollstuhlnutzer*innen ins Zentrum. Deshalb sind diese von Anfang an maßgeblich an der Entwicklung der Kollektionen beteiligt. Zudem kooperieren wir mit jungen Modelabels. Dadurch können wir eine Bandbreite an unterschiedlichen Designs anbieten.
Und wir sind stolz auf: Made in Austria. Wir kooperieren nicht nur mit österreichischen Modelabels, sondern setzen auch auf heimische Produktion. Wir verwenden dabei modernste, hochwertige Materialien und weltweit innovative Verschlusssysteme.“
Wie kam es dazu, dass ihr MOB gegründet habt?
Josefine Thom: „Die MOB Idee ist aus persönlichen Motivationsgründen entstanden. Ich habe eine ältere Schwester mit Be_hinderung. Es war immer eine Herausforderung passende Kleidung für sie zu finden, die nicht nur funktional, sondern auch schön ist. Es gibt zu wenig Hersteller, die barrierefreie Mode entwickeln. Und wenn, dann ist die Auswahl eher beschränkt: Die Hauptzielgruppe sind ältere Menschen. Die Kleidung hat dabei überwiegend Funktionsästhetik.
Das Produktangebot in puncto Stoffen, Verschlüssen oder Styles ist wenig divers und zeitgemäß. Das spiegelt sich auch in den Markennamen wider, die meist ‚Rolli‘, ‚Reha‘ oder ‚Pflege‘ enthalten. Dadurch wird Behinderung als bloßes Defizit und einzige Eigenschaft wahrgenommen. Gemeinsam mit Johann Gsöllpointner haben wir im März 2019 MOB Industries gegründet, um frischen Wind in den Markt für barrierefreie Mode zu bringen.“
Was wollt ihr mit MOB erreichen und was wünscht ihr euch für die Zukunft der Modebranche?
Josefine Thom: „Mode kann zu strukturellen Veränderungen beitragen, indem zum Beispiel Arbeitsplätze für Menschen mit Be_hinderungen geschaffen werden, anstatt sie bloß über den Laufsteg laufen oder rollen zu lassen. Es geht für uns auch darum, neue, ‚vermischte‘ Expert*innenschaften zu entwickeln. Bislang ist Design für Be_hinderungen von einer Kultur der ‚Probleme‘ geprägt, die technisch-medizinisch oder bürokratisch-administrativ ‚gelöst‘ werden. Ein größeres Gleichgewicht zwischen Problemlösung und spielerischer Exploration könnte neue, wertvolle Perspektiven eröffnen. Dies reicht von Allianzbildung mit der bildenden Kunst, die das Verhältnis von Körpern und Ästhetik schon lange befragt, bis zur Schaffung neuer Öffentlichkeiten.
Die Gestaltung von Kooperationsformen und Austauschprozessen zwischen bislang getrennten Feldern, Sensibilitäten und Praxisformen halte ich für eminent politisch. Handlungsfähigkeit erwächst aus einem Geflecht von Dingen, Organisationsformen und Lebewesen. Dies bedeutet Handlungsmacht nicht bloß einzelnen genialen Held*innen in Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft zuzusprechen, sondern von verteilter Akteurschaft auszugehen. Die Rolle von Menschen mit Be_hinderung auf allen Ebenen neu in den Blick zu nehmen, bietet reichlich emanzipative Potenziale — auch für das scheinbar ‚Nicht-Behinderte‘.“
Ihr arbeitet mit verschiedenen Designer*innen zusammen. Wie entstehen diese Zusammenarbeiten?
Josefine Thom: „Viele Rollstuhlnutzer*innen haben wir auf der Straße angesprochen oder über einen Open Call erreicht. Die meisten unserer Rollmodels waren auch an der Produktentwicklung beteiligt. Ähnlich war es mit den Designer*innen. Manche kannten wir persönlich oder sie sind Kund*innen. Wir wollten vor allem auch mal sehen, wie das Thema Barrierefreiheit und Mode aufgenommen wird und zu welchen Lösungen die Designer*innen kommen. Für die meisten eine komplett neue Erfahrung. Inklusion und Be_hinderungen ist für viele kein Thema, weil sie damit keine Berührungspunkte haben. Über das Thema Mode und eine neue Herangehensweise wollen wir das ändern. Wir wollen MOB als Adaptive Fashion- und Lifestylelabel positionieren, welches mit unterschiedlichen Designer*innen kooperiert und mit Menschen mit Be_hinderungen zusammenarbeitet. Ich bin der Meinung, dass man hier viel tun und gestalten kann."
Wie laufen eure Design-Prozesse ab?
Josefine Thom: „Die unterschiedlichen Ansprüche moderner Rollstuhlnutzer*innen sind wesentlich für die Entwicklung unserer Produkte und wären ohne ihre Beteiligung bei den zahlreichen Anproben, Re-Designs und Fittings gar nicht möglich gewesen. MOB stellt damit die übliche Vorgehensweise auf den Kopf: Die Ansprüche von Rollstuhlnutzer*innen (Standards) sind die Norm, die dann für Nichtrollstuhlnutzer*innen (Companions) adaptiert wird. Gemeinsam mit jungen Designschaffenden und deren gestalterischen Strategien kommen wir dann zu unterschiedlichen Lösungen."
Was kann Mode eurer Meinung nach für Inklusion bewirken?
Josefine Thom: „Barrierefreie Mode kann einen wichtigen Beitrag für die soziale Inklusion, Partizipation und Selbstbestimmung ihrer Träger*innen leisten. Denn Menschen mit Be_hinderungen haben einen erschwerten Zugang zu passender Kleidung für Beruf, Freizeit und besondere Anlässe. Dies schränkt ihre gesellschaftliche Teilhabe erheblich ein. Wir haben selbst lange wissenschaftlich dazu geforscht und wissen aus der Theorie folgendes: Der eklatante Mangel an situativ angemessener Bekleidung für gesellschaftlich behinderte Menschen steigert, wissenschaftlichen Untersuchungen zufolge, nachweislich ihre Stigmatisierung und reduziert die persönliche Zuversicht aufgrund eigener Kompetenzen gewünschte Handlungen erfolgreich selbst ausführen zu können.
Während das öffentliche Bewusstsein hinsichtlich Umweltbarrieren (Transportmöglichkeiten, Zugänglichkeit zu gebauten oder digitalen Räumen) in den letzten Jahren zugenommen hat, werden kleidungsbedingte Barrieren und die damit verbundene soziale Exklusion jedoch meist übersehen. Bekleidung als wesentlicher Teil des persönlichen Erscheinungsbilds ist aber eine essenzielle Komponente des Selbstausdrucks. Dies gilt besonders für Menschen mit einem nicht-normierten Körpern, denn erst situativ probate und taugliche Kleidung macht Körper gesellschaftlich akzeptabel. Angemessene Kleidung verstehen wir hier als jene „Kleidung, die es ermöglicht den Regeln und Normen spezifischer sozialer Räume zu entsprechen.“
Denn werden gesellschaftlich behinderte Menschen nicht bloß als Patient*innen verwaltet und dementsprechend eine sehr selektive Palette – bestenfalls funktionaler – Kleidung zugewiesen, sondern auch ästhetisch als Konsument*innen, Träger*innen und Nutzer*innen in den Mittelpunkt von Mode- und Design-Praktiken gerückt, steigen nachweisbar Selbstachtung und Selbstbewusstsein der Betroffenen und ihrer Angehörigen , ihr Wohlbefinden und subjektives Lebensglück nehmen deutlich zu und ihre gesellschaftliche Inklusion wird massiv befördert.“
Sichtbarkeit ist bei diesem Thema enorm wichtig. Habt ihr noch Follow-Tipps für uns, um unsere Social-Media-Feeds diverser auszurichten?
Josefine Thom: „Diese Influencer bzw. Inkluencer inspirieren uns zum Beispiel sehr und es lohnt sich ihnen zu folgen.“
Vielen Dank für das spannende Gespräch. Wir freuen uns auf weitere tolle Designs von MOB!
© Fotos Vreni Jäckle: Josephine Knoll für Fashion Changers