Wir treffen Nitya S Danardianingtyas während einer von FEMNET e.V. organisierten Speakers Tour in Berlin. Bereits seit über sieben Jahren arbeitet sie im NGO-Bereich mit dem Fokus auf sozialwissenschaftliche Forschung und Umweltschutz. Seit zwei Jahren konzentriert sie sich auf das Programm „MAP Health and Gender“ beim Trade Union Rights Centre in Jakarta, der indonesischen Hauptstadt. Dort arbeitet sie mit ihren Kolleg*innen daran Arbeitsplätze in der Bekleidungsindustrie für Frauen gesünder, sicherer und menschenwürdiger zu machen. 2022 hat die Organisation eine Studie durchgeführt, um Probleme speziell im Schuhsektor zu ermitteln. Dabei wurden Probleme aufgedeckt, die bei anderen Audits häufig ausgeblendet werden und die insbesondere Frauen treffen, die auch in Indonesien den überwiegenden Anteil der Textilarbeiter*innen ausmachen. Im Interview erzählt Nitya uns von Machtmissbrauch und den Herausforderungen, die Situation von Arbeiterinnen zu verbessen.
Das Trade Union Rights Centre hat 2022 eine Studie durchgeführt, bei der Probleme mit Nacken- und Rückenschmerzen, reproduktiver Gesundheit und psychische Gesundheit bei den Arbeiterinnen festgestellt wurde. Worum geht es beispielsweise bei den Problemen rund um reproduktive Gesundheit?
„In Indonesien beträgt der Mutterschaftsurlaub zum Beispiel nur 12 Wochen, obwohl die ILO 14 Wochen empfiehlt. Das führt manchmal zu postnatalen Depressionen, und wenn die Frauen einen Kaiserschnitt hatten, sind 12 Wochen einfach zu früh, um sich vollständig zu erholen. Für stillende Mütter ist es auch sehr schwierig, weil sie nicht genügend Pausen zum Abpumpen der Milch bekommen. Und dann ist da noch die geschlechtsspezifische Gewalt. 80 Prozent der Arbeiter*innen sind Frauen, aber sie sind immer in der untersten Position in der Fabrik und die Teamleiter und das Management sind meist Männer. Frauen sind verbaler und körperlicher Gewalt ausgesetzt, um hohe Produktionsziele zu erreichen. Männer in höheren Positionen missbrauchen ihre Macht.“
Was treibt dich an, in diesem Bereich zu arbeiten?
„Ich habe schon immer in NGOs gearbeitet und war daher mit den Problemen vertraut, aber ich hatte noch nie mit dieser spezifischen Art von Problemen am Arbeitsplatz zu tun. Indonesien ist eines der größten Produktionsländer für europäische und amerikanische Bekleidungsmarken, aber die Arbeitsbedingungen sind immer noch sehr schlecht. Auch der Gender-Aspekt ist für mich von besonderem Interesse. In einem lohnintensiven Bereich wie der Bekleidungsindustrie sind sehr viele Frauen beschäftigt. Wir wissen, dass sie gerne Frauen beschäftigen, weil sie in der Regel gehorsamer sind. Für die Fabrikleitung ist es einfacher, sie zu kontrollieren. Die Frauen wissen das auch selbst, aber welche Möglichkeiten haben sie? Die Jobangebote in Indonesien sind nicht besonders gut. Wenn wir mit der Fabrikleitung sprechen, behaupten sie manchmal, dass sie eine Menge Sorgfaltspflichten erfüllen, aber wir sehen oft, dass sie zwar offiziell Checklisten abhaken, aber die tägliche Umsetzung sieht anders aus. Das motiviert mich also, mich in diesem Bereich zu engagieren.“
Was sind die konkreten Ziele des MAP Health and Gender Programms?
„Gemeinsam mit Cividep aus Indien und Femnet aus Deutschland haben wir Guidelines entwickelt, die in den Fabriken, in denen wir die Studie durchgeführt haben, und in weiteren Fabriken durch Kooperationen umgesetzt werden. Die Guidelines beinhalten fördernde, präventive und kurative Maßnahmen. In den Fabriken gibt es zum Beispiel Beschwerdemechanismen, über die Arbeiterinnen Probleme melden können, aber sie werden nicht gut umgesetzt, weil viele Frauen diese nicht kennen. Deshalb führen wir auch Workshops mit der Unternehmensleitung durch, um die Umsetzung der Beschwerdemechanismen zu überarbeiten. Wir haben auch mit einer Gewerkschaft zusammengearbeitet, um einen unabhängigen, sichereren Mechanismus für Beschwerden zu schaffen. Denn die Hürde, ein Problem zu melden, ist besonders hoch, wenn der Arbeitgeber die direkte Anlaufstelle ist.“
Wie viele der Arbeiterinnen aus eurer Studie sind Mitglied einer Gewerkschaft?
„Eigentlich die meisten von ihnen. Ich würde sagen, die Vereinigungsfreiheit in Indonesien ist ziemlich gut. Nun, vielleicht ist sie nicht gut, aber es ist ziemlich einfach, eine Gewerkschaft zu gründen. Man braucht dafür nur zehn Arbeiter*innen. Aber dann mit der Geschäftsführung zu verhandeln, das ist eine andere Sache.“
Im Programm setzt ihr euch auch für die Verbesserung der Gesundheit und Sicherheit von formellen und informellen Arbeitnehmern ein. Kannst du diese Unterscheidung näher erläutern?
„Informelle Arbeitnehmer*innen spielen im Schuhsektor eine recht wichtige Rolle.
Formelle Arbeiter in den Fabriken des ersten Tiers erhalten ihre Aufträge direkt von den Marken und die meisten von ihnen haben Verträge, die zumindest einen Mindestlohn vorsehen. Aber die informellen Arbeiter befinden sich im fünften, sechsten oder siebten Tier und erhalten ihre Jobs nur über Subunternehmen. Die meisten von ihnen wissen nicht einmal, für welche Marke sie arbeiten, und sie haben nie einen Vertrag. Informell Beschäftigte erhalten oft nur einen Bruchteil des Mindestlohns. In Indonesien beträgt der Mindestlohn in Jakarta 5 Millionen Rupiah und informelle Arbeiter*innen bekommen oft nur 3 Millionen.“
Wie groß ist der Unterschied zwischen dem Mindestlohn und einem existenzsichernden Lohn in diesem Gebiet?
„Ein ziemlich großer! Der existenzsichernde Lohn nach dem Asia Floor Wage beträgt 8 Millionen Rupiah.“
Was sind die Zukunftspläne des MAP Health and Gender Programms?
„Wir werden in der Zukunft tiefer in das eintauchen, was wir die ‚Produktionssphäre‘ nennen. Viele Arbeiterinnen leben in Industriegebieten mit lohnintensiven Fabriken – im Vergleich zu kapitalintensiven Fabriken. Lohnintensive Fabriken beschäftigen wie bereits erklärt gerne Frauen, da sie sie besser kontrollieren können. In diesen Industriegebieten haben also viele Männer unsichere Arbeitsplätze oder sind vielleicht arbeitslos. So werden die Arbeiterinnen zu den Ernährerinnen der Familie. Aufgrund der patriarchalen Praktiken in unserem Land machen die Männer sich aber nicht nützlich, auch wenn sie keine Lohnarbeit haben. Sie gehen nicht arbeiten, aber sie erledigen auch nicht die Hausarbeit oder kümmern sich um die Kinder. Manchmal stellen sie sogar eine andere Frau ein, die sich dann um die Kinder kümmert, was den ohnehin schon geringen Lohn senkt. Und weil das Geld so knapp ist, sind die Männer aggressiv und gewalttätig gegenüber ihren Frauen. Diese werden natürlich depressiv, sind gestresst und haben psychische Probleme. Sie müssen zurück zur Arbeit gehen und dort unrealistische Produktionsziele erfüllen. All dies führt auch zu Arbeitsunfällen. Solche Dinge werden in Berichten oft als ‚menschliches Versagen’ dargestellt, aber das ist doch systembedingt, oder etwa nicht? Diese Probleme wollen wir in Zukunft verstärkt adressieren.“
Unfassbar. Man fragt sich, wieso die Frauen überhaupt noch bei ihren Ehemännern bleiben.
„Die Scheidungsrate ist ziemlich hoch, aber es gibt auch ein großes Stigma für alleinerziehende Mütter. Es gibt viel psychischen Druck von der Familie, der Familie des Ex-Ehemannes, von Nachbarn.“
Das kann ich mir vorstellen. Gibt es auch Verbesserungen und was muss noch geschehen?
„Wir haben einige Verbesserungen festgestellt, und die Trainings, die wir durchführten, zeigen Wirkung. Das Bewusstsein für geschlechtsspezifische Fragen ist gestiegen. Wir hoffen wirklich, dass dies von Dauer sein wird, denn ein Projekt wie das unsere kann nicht ewig bestehen bleiben. Deshalb werden wir in der zweiten Phase des Programms unser Bestes tun, um die Wirkung durch die Zusammenarbeit mit allen Stakeholdern aufrechtzuerhalten. Aber unsere Regierung ist sehr an Investoren orientiert. Sie kümmert sich mehr um ausländische Investoren als um ihre eigene Bevölkerung. Es gibt zwar jetzt ein Gesetz zur Schaffung von Arbeitsplätzen, aber das ist ziemlich problematisch, weil es auch den Investoren zugute kommt und nicht den Arbeitnehmer*innen. Auch die Zulieferer halten sich eher an die Marken als an gesetzliche Vorschriften, was ebenfalls ein Problem darstellt. Wir haben Prüfer und Arbeitsinspektoren vom Staat, aber sie entdecken nie all diese Probleme, sie lassen einfach jeden die Prüfung bestehen. In diesem Jahr stehen Wahlen an, mal sehen, was passiert, das ist unvorhersehbar.“
Die Zulieferer in Indonesien halten sich also mehr an europäische Marken als an die Gesetze ihres Landes?
„Die Marken spielen eine sehr wichtige Rolle. Es ist möglich, dass eine Marke die Bestellung zurückzieht und woanders platziert, sie haben also viel Macht. Sie können den Auftrag an eine andere Fabrik oder sogar nach Vietnam vergeben, für die Marken ist das kein Problem. Die Lieferanten sind also wirklich abhängig von ihnen.“
Inwiefern arbeitet ihr auch mit Marken zusammen? Wie reagieren diese auf eine mögliche Zusammenarbeit mit euch?
„Im Rahmen des Projekts arbeiten wir mit verschiedenen Marken zusammen, um die Arbeitsschutzrichtlinien umzusetzen. Aber um ehrlich zu sein, ist es ziemlich schwierig. Nur wenige wollen sich engagieren. Viele reagieren einfach nicht. In einer Fabrik hatten wir eine recht gute Verbindung zu einer Gewerkschaft, aber die Fabrikleitung war sehr zögerlich, später war sie bereit. Aber dann war die Marke noch zögerlicher, so dass die Fabrikleitung und die Gewerkschaft letztendlich nichts unternehmen konnten. Die Marken spielen eine sehr wichtige Rolle in der Lieferkette. Ich hoffe wirklich, dass sie sich dessen bewusst sind.“
Was sollten europäische Marken aus diesem Interview mitnehmen?
„Sie sollten auf Grassroots-Organisationen, NGOs und Gewerkschaften hören, um die Probleme besser zu verstehen und den Top-Down-Ansatz zu überdenken. Es gibt eine Menge Probleme vor Ort, die man mit einem Top-Down-Ansatz nicht verstehen kann.“