Sexuelle Belästigung: „Die Arbeitsplätze in der Textilindustrie reflektieren, was in der Gesellschaft passiert“

Mary Viyakula beschäftigt sich seit 14 Jahren damit, wie die Textilindustrie in Indien ein besserer Ort für Frauen und Kinder werden kann. Sie ist Executive Director und Mitarbeiterin bei SAVE (Social Awareness & Voluntary Education) – einer NGO, die sich gegen Kinderarbeit und für die Rechte von Textilarbeiterinnen einsetzt. Wir haben mit ihr über ihre Arbeit, die drängendsten Probleme und ihre Hoffnungen gesprochen.

Sexuelle Belästigung in der Textilindustrie in Indien. Mary Viyakula, Eine Frau steht vor einem blauen Schild mit der Aufschrift SAVE. Sie trägt ein blaues Shirt und eine traditionelle Bekleidung.

Wir befinden uns im südindischen Bundesstaat Tamil Nadu und besuchen dort in Tirupur – einer Stadt, die stark von Textilproduktion geprägt ist – Mary Viyakula im Büro der Nichtregierungsorganisation SAVE. Es ist heiß und wir freuen uns über den kühlen, knallgrün gestrichenen Raum, in dem wir uns treffen. Nachdem wir alle mit starkem Schwarztee ausgestattet wurden, berichtet Mary Viyakula uns von sich und ihrer Arbeit. Wir treffen sie an einem Sonntag, ihrem einzigen freien Tag in der Woche und spüren, nicht nur deshalb, sofort ihre Leidenschaft für ihr Tun.

Mary Viyakula ist 49 Jahre alt und wurde als zweites weibliches Kind ihrer Eltern weniger akzeptiert. Eigentlich hätte sie ein Junge werden sollen. Doch sie setzt sich gegenüber ihren Eltern durch, bringt sie dazu, ihre Bildung zu unterstützen. Heute hat sie drei Masterabschlüsse – in Computer Science, Psychologie und Human Rights.

Ihr Durchhaltevermögen und ihre Kraft kommen ihr auch in ihrer heutigen Arbeit zugute. Als Mitarbeiterin von SAVE gibt sie Trainings und Schulungen für mehr Gendersensibilität und -gerechtigkeit in Tirupur, in der Frauen immer noch regelmäßig (sexueller) Belästigung in der Textilbranche ausgesetzt sind. Im Interview erzählt sie uns von ihren Erfahrungen und Ansichten.

Was sind die Konflikte, mit denen Frauen  zu kämpfen haben? Um welche Art der Belästigung geht es in der Textilbranche?

Mary Viyakula:Es gibt zwei Arten der Belästigung: schlechte (verbale) Behandlung der Frauen und sexuelle Belästigung in der Textilindustrie. Uns erreichen viele Beschwerden, dass Frauen an ihren Arbeitsplätzen psychisch gequält werden. Ein Beispiel dafür ist, dass sie angeschrien werden, um schneller zu arbeiten. Wenn eine Arbeiterin 50 Stück pro Stunde produziert und eine andere 100 Stück, wird die erste Arbeiterin unter Druck gesetzt und gezwungen, ebenfalls 100 zu produzieren. Der fundamentale Fehler beginnt also bei der Person, die die Ziele festlegt. Deswegen brauchen wir auch Schulungen bei den Top-Managern und Middle-Managern, um dieses Problem zu lösen. Daran arbeite ich.“  

Wie kann diese Belästigung überhaupt entstehen?

„Frauen sind oft in vulnerablen Situationen: sie werden ökonomisch benachteiligt, leben getrennt oder sind single. Das kann von Männern ausgenutzt werden. Wir müssen Frauen beibringen, nicht in diese Falle zu tappen, und Männern zu verstehen geben, die Vulnerabilität nicht auszunutzen. Ein weiteres Problem ist, dass Arbeiterinnen sich oft nicht trauen, Belästigung zu melden, weil sie Angst vor Rache haben oder davor den Job zu verlieren. Das sind also alles Ansatzpunkte, die adressiert werden müssen.“ 

Wie viele Beschwerden kommen bei euch pro Monat an?

„Wir erhalten circa 15 bis 20 Beschwerden pro Monat. Die Anzahl an nicht-gemeldeter Belästigung ist aber enorm. Wenn wir in der Community 25 Frauen befragen, die zuvor eine Schulung erhalten haben, wie Belästigung am Arbeitsplatz aussieht, haben es circa 15 bis 20 von ihnen schon erfahren. In der Fabrik erzählen sie oft nicht davon, aber wenn wir sie zu Hause befragen, schon.“

Eine der Missionen von SAVE ist es außerdem, Kinderarbeit zu bekämpfen. Kannst du uns einen Überblick darüber geben, wie die Situation in Tirupur ist?

„Aktuell würde ich sagen, dass die großen Export-Fabriken hier niemanden unter 14 Jahren beschäftigen. Das bedeutet aber nicht, dass Kinderarbeit nicht trotzdem hier und da existiert, vor allem in Mikro-Fabriken. Daran arbeiten wir also. Eine große Herausforderung ist die innerindische Migration (Anm.d.Red.: Textilarbeiterinnen migrieren z.B. vom Norden in den Süden Indiens). Die Kinder von Migrant*innen sind oft nicht in der Schule und lungern in der Nähe von Fabriken herum. Sie sind anfällig dafür, sehr jung in den Arbeitsmarkt einzusteigen.“

Wieso sind sie nicht in der Schule?

„Sie haben alle eine verschiedene Muttersprache (Anm.d.Red.: In Indien gibt es über 100 verschiedene Sprachen und noch mehr Dialekte), in den Schulen wird aber häufig nur eine unterrichtet. Es ist also sehr schwer für sie, im Klassenzimmer zu sitzen, weil sie die Sprache, in der unterrichtet wird, nicht verstehen. Das ist ein sehr großes Problem. Deshalb etablieren wir Community-Zentren, in denen sie verschiedene Sprachen lernen und nach einem Jahr zurück in öffentliche Schulen kommen. Es ist aber eine riesige Herausforderung, weil immer neue Kinder von Migrant*innen ankommen.“

Manche innerindischen Migrantinnen – zum Beispiel Single-Frauen – leben auch innerhalb eines Fabrik-Campuses, was sind dort die Probleme?

„Für Arbeiter*innen, die auf einem Fabrik-Campus leben, kämpfen wir um Bewegungsfreiheit, so dass sie den Campus jederzeit verlassen können. Sie leben auf dem Fabrikgelände, weil ein Leben außerhalb für sie zu teuer ist. Verheiratete Frauen leben normalerweise nicht auf einem solchen Campus. In der Fabrik haben sie außerdem wieder die gleichen Probleme mit Belästigung. Die Arbeitsplätze reflektieren, was in der Gesellschaft passiert. Wenn die Gesellschaft nicht gender-sensibel ist, wie soll es die Fabrik sein? Die Machtdynamiken spielen eine große Rolle. Die Macht wird den Männern gegeben: das Top- und Middle-Management besteht immer aus Männern und da gibt es keine Gender-Sensibilität. Frauen findet man sehr viel seltener im Management.“ 

Das haben wir bei unseren Fabrikbesuchen ebenfalls bemerkt. Außerdem war es auffällig, dass zwar Männer und Frauen an den Nähmaschinen saßen, in anderen Bereichen war die Verteilung aber sehr klar. Gebügelt und geschnitten wurde nur von Männern. Die Qualitätskontrolle haben fast ausschließlich Frauen gemacht. Was sind deine Gedanken dazu?

„Das liegt daran, dass Qualitätskontrolle und Verpacken als Helfer-Jobs mit geringeren Fähigkeiten eingestuft werden. Frauen werden typischerweise für diese Jobs eingestellt und verdienen damit dann einen geringeren Lohn, als zum Beispiel beim Nähen. Um das zu verändern, müsste eine Fabrik sich richtig anstrengen, also verstecken sie diese Tatsache lieber. Erst gestern habe ich 80 Männern eine Schulung gegeben, inklusive Fabrikbesitzern und Managern, wir bilden sie darin, was Belästigung ist. Diese Bildung muss eine große Rolle spielen, deshalb machen wir das.

Ein typisches Beispiel ist: Ein gut ausgebildeter Mann belästigt eine Frau, die weniger ausgebildet ist oder sich in einer ökonomisch schlechteren Situation befindet. Da gibt es eine Machtungleichheit. Wem wird gekündigt? Immer dem Opfer. In 600 Fällen, die ich mir angesehen habe, war das so. Obwohl dem Mann gekündigt werden müsste. Da er aber gut ausgebildet ist und essentiell für die Arbeit in der Fabrik, wird ihm nicht gekündigt. Frauen, die Qualitätskontrolle machen können, gibt es viele, also werden sie ausgetauscht. So eine Entscheidung ruiniert alles.“

Ein Ziel ist es also auch, Frauen in besser ausgebildete Jobs zu bekommen.

„Ja, wenn Frauen Schneiderarbeiten machen können, sind sie in einer anderen Situation und können nicht so leicht gefeuert oder unter Druck gesetzt werden.“ 

Wie durchbrechen wir diese Dynamiken?

„Ich denke, die Sensibilisierung funktioniert. Sexuelle Belästigung ist ein Problem im Kopf der Männer, das wir loswerden müssen. Es muss neu kultiviert werden. Alle, die dieses Problem verstehen, müssen stark bleiben und darauf hinarbeiten. Deshalb mache ich die Schulungen auch hauptsächlich für Männer. Oft wird immer nur über die Frauen gesprochen, sie sollen Schulungen bekommen. Aber das Problem liegt bei den Männern, die sich nicht richtig verhalten. Sie sind es, die dieses Problem in ihren Köpfen beseitigen müssen.“

Diese Arbeit macht sicher oft sehr wütend. Bist du trotzdem hoffnungsvoll?

„Ich bin wirklich sehr hoffnungsvoll. Manchmal braucht es nur die Sensibilisierung: Warum macht ihr Männer das? Warum machen Frauen das nicht? Wo passiert die Belästigung? Jeden Tag lese ich von sechs oder sieben Fällen mit sexueller Gewalt. Deswegen tue ich jeden Tag, was ich kann. Alles, was ich im Rahmen meiner Möglichkeiten machen kann, mache ich. Ich bringe sie dazu, zu realisieren, was das Problem ist. In jeder Session bringe ich 80 Männer dazu, zu verstehen. Ich mache das seit 14 Jahren und habe 8000 Männer geschult – und zwar immer mit der gleichen Energie, auch wenn es schon spät am Tag ist. Es ist jedes Mal eine Chance, die ich ergreifen will. So dass es für die nächste Generation anders wird. Das ist meine Hoffnung.“ 

Transparenz:

Wir haben Mary Viyakula im Rahmen einer von Fairtrade Deutschland organisierten Reise kennengelernt und getroffen. Die NGO SAVE arbeitet nicht mit Fairtrade Deutschland zusammen. Das Treffen wurde zu reinen Bildungszwecken organisiert.

Foto: Vreni Jäckle

Text und deutsche Übersetzung: Vreni Jäckle

Dieser Text erschien zum ersten Mal am 17. Mai 2023.

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