Waste Colonialism – Perspektiven aus Südamerika

Die textilen Müllberge im Globalen Süden wachsen – und damit das Phänomen des Waste Colonialism. Der scheinbar unstillbare Hunger nach Kleidung der reichsten Länder der Welt wirkt sich auf Umwelt, Wirtschaft und Gesellschaften in Ländern wie Argentinien und Chile aus. Unsere Gastautorin ist den daraus entstehenden Problemen und Abhängigkeiten vor Ort auf den Grund gegangen.

Waste Colonialism - pexels

Ein Straßenmarkt in Buenos Aires, Argentinien: Neben Souvenirs und kulinarischen Erlebnissen für Touristen wird hier Kleidung zu unglaublich niedrigen Preisen verkauft. Sie ist allerdings nicht wie die Andenken und das Essen an Ständen, sondern neben dem offiziellen Markt auf kleinen Decken am Boden drapiert. Darauf stapeln sich Schuhe, T-Shirts, Socken und Kinderkleidung. Eine Decke reiht sich an die nächste. So entstehen ganze Wege voller Kleidung, die – in Euro umgerechnet – fast nichts kostet. Dazwischen liegt auch Kleidung bekannter internationaler Marken, sind Socken deutscher Fußballclubs zu finden. Etwas überraschend, aber nicht außergewöhnlich, denn in Südamerika wird Fußball bekanntlich leidenschaftlich zelebriert. Diese anekdotische Momentaufnahme wirft die Frage auf: Woher kommt diese Kleidung eigentlich?

Das Konzept dahinter nennt sich Waste Colonialism – auf Deutsch „Kolonialismus durch Abfall”. Mit diesem Konstrukt beschäftigen sich Adriana Marina, Gründerin der Initiative Hecho por Nosotros und des Labels animaná, und Mariano Breccia, Creative Director des Modelabels 12na, seit Jahren. Beide gaben uns, ebenso wie eine Verkäuferin, die auf dem Straßenmarkt in Buenos Aires arbeitet, für diese Vor-Ort-Recherche Einblicke in ihre Erfahrungen und erklären, was Waste Colonialism mit Mode und Nachhaltigkeit zu tun hat. Südamerika ist ein riesiger Kontinent mit vielfältigen Lösungen und Möglichkeiten, aber eben auch Problemen – und die Entwicklungen in Chile und Argentinien sind nur einige Beispiele für ein Phänomen, um das es auch in diesem Fashion Changers-Artikel geht.

Kolonialismus durch Modemüll

Laut der Kampagne Stop Waste Colonialism Now der Stiftung The Or Foundation bezeichnet Waste Colonialism das Konzept, dass eine Gruppe von Menschen, meist aus dem Globalen Norden, Abfall und Umweltverschmutzung aktiv nutzt, um eine andere Gruppe von Menschen, meist aus dem Globalen Süden, in ihrem Heimatland zu beherrschen. Das klingt sehr abstrakt, denn hier kreuzen sich verschiedene Dimensionen zwischen Politik, geschichtlichem Kontext, Ökologie, Ökonomie sowie kulturellen und sozialen Faktoren. Das alles vermischt sich innerhalb globaler, teils schwer nachvollziehbarer Lieferketten. Die Strukturen kolonialer Machtgefüge aus der Vergangenheit sind bis heute tief in unserer globalen Wirtschaft verwurzelt und bieten die Grundlage für eine andauernde ökonomische Abhängigkeit ehemaliger Kolonien – so wie auch für Chile und Argentinien. Die Modeindustrie ist dabei eines der markantesten Beispiele für eine Branche, in der Waste Colonialism zu beobachten ist.

Straßenmarkt in Buenos Aires © Sarah Maria Schmidt

Meist bezieht sich der Begriff auf Textilspenden und Abfallexporte auf den afrikanischen Kontinent. Doch Waste Colonialism durch Mode betrifft weitaus mehr Gebiete des Globalen Südens. Mariano Breccia arbeitet seit 18 Jahren in Chile mit 12na zu Upcycling, Re-Use und Re-Design und leistet Aufklärungsarbeit. Er beschreibt, dass „entwickelte Nationen durch ihr Streben nach Fast Fashion und ihren ungezügelten Konsum den resultierenden Überschuss an gebrauchter Kleidung und die Verantwortung hierfür in Entwicklungsländer exportieren, wie auch nach Südamerika.“ Dieselben kolonialen Handelswege der Vergangenheit werden heute dazu genutzt, billige Kleidung in westliche Länder zu importieren. Diese landet  dann als ungewollter Müll aus Überproduktion und Überkonsum wieder im Globalen Süden. „Besonders in Chile hat dies komplexe negative Auswirkungen auf die lokale Produktion und die Umwelt,“ meint Mariano. In Chiles Atacama-Wüste wachsen die mittlerweile bekannten und gut dokumentierten Müllberge immer weiter.

Aus den Augen, ohne Sinn

Waste Colonialism umfasst aber nicht nur den textilen Abfall am Ende des linearen Modells der Fast Fashion, sondern auch die Verschmutzung und Ausbeutung lokaler Ressourcen in der Produktion. Adriana Marina, Gründerin von Hecho por Nosotros und animaná, ergänzt hierzu: „Entwickelte Länder verlagern die giftige Produktion weg von den reichen Bewohner*innen der Welt, in sehr vulnerable Regionen, die sich durch Handel ökonomischen Aufschwung erhoffen. Dies ist Teil der globalen ökologischen Ungerechtigkeit.“ Animaná ist ein zertifiziertes B Corp-Modelabel mit regenerativem Ansatz, Hecho por Nosotros ist ein Zusammenschluss lokaler argentinischer NGOs. „Indem die Textil- und Modeindustrie materielle Ressourcen und Arbeitskräfte aus dem Globalen Süden ausbeutet,“ sagt Adriana, „schafft sie Formen moderner Sklaverei.“ Somit würde der Zyklus der Unterdrückung weitergeführt. Das klingt erschreckend – dabei startet es für uns selbst oft mit einem Ausmisten des Kleiderschranks.

Es fühlt sich gut an, zu entrümpeln – die meisten von uns haben viel mehr Kleidung, als wir eigentlich brauchen. Also spenden wir sie für wohltätige Zwecke, entsorgen sie in Altkleidercontainern und fühlen uns dabei gut und befreit. Mehr zu den Risiken und Möglichkeiten der Kleiderspende könnt ihr in diesem Fashion Changers-Artikel erfahren. Ein nicht zu vernachlässigender Teil dieser gespendeten Kleidung landet auf den weltweiten Second-Hand-Märkten.  Der globale Handel mit gebrauchter Kleidung scheint sich zu lohnen: Bis 2025 wird mit einem jährlichen Umsatz von 77 Milliarden US-Dollar gerechnet. Neben den exportierten Altkleidern landen aus diversen Gründen laut Greenpeace auch Textilmüll und überproduzierte neue Artikel, die als Second-Hand-Kleidung deklariert sind im Globalen Süden und fast die Hälfte davon schließlich auf lokalen Müllkippen. Doch warum gelangt der Abfall überhaupt nach Südamerika?

Wenig Bewusstsein für Waste Colonialism

Mariano beschreibt die Problematik aus der chilenischen rechtlichen Perspektive: „Chile ist das einzige Land Südamerikas, in dem die Einfuhr gebrauchter Kleidung seit einem Beschluss der Regierung von Diktator Pinochet erlaubt ist. So wurde Chile schnell zum zweitgrößten Importeur von Altkleidern weltweit“. In Alto Hospicio kommen jährlich etwa 59.000 Tonnen Altkleider an. Nachdem Kleiderhändler*innen und Kleiderschmuggler*innen, die die gebrauchte Kleidung illegal in andere Länder Südamerikas bringen, aussortieren, was weiterverkaufbar wirkt, landen etwa 39.000 Tonnen auf Mülldeponien in der Atacama-Wüste. Diese sind mittlerweile so groß, dass sie vom Weltall aus sichtbar sind. 

„Mit dieser Art von Politik und neoliberalen Einzelhandelsgesetzen begann auch die lokale Textilindustrie zu verschwinden“, meint Mariano. Allerdings beobachtet er, dass die internationale Presse und das Aufsehen über die Deponien in der Wüste vor allem in Europa auch eine Perspektivänderung bezüglich der Problematik in Chile bewirken. „Die allgemeine Bevölkerung ist sich des Waste Colonialism jedoch nicht so sehr bewusst. Und auch die Regierung hat noch keine strengeren Vorschriften für die Einfuhr von Second-Hand-Kleidung erlassen, um die lokale Industrie zu schützen und die Umweltbelastung zu verringern“, sagt der Chilene.

Mangelnde Kontrollmechanismen

Im Nachbarland Argentinien ist die Einfuhr von Textilmüll und gebrauchter Kleidung offiziell verboten. Woher stammt dann aber die Kleidung, die hier auf den Straßenmärkten verkauft wird? Die Straßenhändlerin aus Buenos Aires beschreibt im Gespräch, woher sie ihre Ware bezieht: Sie kaufe sie in Ballen von einem Zwischenhändler. Meist kann sie diese im Vorfeld nicht inspizieren und sortiert, reinigt, repariert oft noch einmal die Ware, bevor sie sie auf ihrer Decke ausbreitet. „Die Ballen“, sagt sie, „kommen aus Chile und Bolivien,die Kleidung stammt meist aus den USA oder Europa. Auch wenn die Einfuhr offiziell illegal ist: Es kontrolliert einfach niemand“. 

Und so wird der Kleiderschmuggel zum Geschäftsmodell in einem Land, in dem 40 Prozent der Bevölkerung in Armut leben. Adriana fasst dies treffend zusammen: „Die Verantwortung und resultierende negative Umweltauswirkungen durch die Altkleider werden exportiert und Entwicklungsländer mit den Folgen allein gelassen.“ Denn in beiden Ländern gibt es kein offizielles Recyclingsystem für Textilien. Adriana ergänzt, dass „eine Art informeller Verwertungsweg für Textilien existiert. Dieser wird cirujeo genannt.“ Die Ärmsten der Gesellschaft ziehen durch die Städte und sammeln Müll als Material für den Wiederverkauf ein – Pappe, Glas, Metalle, Plastik und auch Textilien. Kleidung, die sie finden, nutzen sie für ihre Familien oder verkaufen sie auf Straßenmärkten weiter.

Straßenmarkt in Buenos Aires © Sarah Maria Schmidt

Die Auswirkungen von Waste Colonialism auf Umwelt und Gesundheit

Wenn offizielle Recyclingwege fehlen, landet die Kleidung meist auf Deponien oder wird verbrannt. Das Verbrennen ist aufgrund der Vielzahl an chemischen Zusätzen und synthetischen Fasern hochgiftig und trägt massiv zur Luftverschmutzung vor Ort bei. Auf den Deponien wird der Textilmüll auch nicht biologisch abgebaut – meist besteht er aus Polyester, aus Mischfasern mit Polyester oder anderen synthetischen Fasern. Sie zersetzen sich über Hunderte von Jahren und geben über die Zeit Mikrofasern und giftige Chemikalien in den Boden und das Grundwasser ab. Oder die Kleidung landet in lokalen Flüssen, sammelt sich an Ufern und Stränden und wird schließlich in die Meere gespült. Mehr über die gravierenden Folgen von Mikroplastik für Mensch und Umwelt erfahrt ihr hier.

Der Raubbau an natürlichen Ressourcen, mangelnde Abfallwirtschaftssysteme und Umweltregularien verstärken die Problematiken durch Waste Colonialism auch zu Beginn der Lieferketten. Südamerika ist vor allem Rohstofflieferant für die Modeindustrie: Die nachfolgenden Schritte innerhalb der globalen Lieferketten, in denen auch finanzielle Wertschöpfung entsteht, finden meist in anderen Ländern des Globalen Südens statt – der „saubere” Konsum und der finanzielle Gewinn dann wiederum im Globalen Norden. Wie Adriana bereits erzählte, werden die Menschen mit den Folgen unnachhaltiger Skalierung auf die sich über Ländergrenzen hinweg erstreckenden Ökosysteme und indigene Communities, wie in der Region Gran Chaco, allein gelassen. Adriana ist der Ansicht, dass die Basis in der Wertschöpfungskette besondere Aufmerksamkeit benötigt, um einen systemischen Wandel zu erzielen. „Indem wir Rückverfolgbarkeit und Transparenzprozesse einführen, hilft dies den Menschen vor Ort, unabhängige Entscheidungen zu treffen. Oft fehlen ihnen die notwendigen Instrumente für eine nachhaltige Skalierung und Entwicklung.” Durch technologische Innovation und traditionelles Wissen um nachhaltige Techniken, Prozesse und Naturfasern von Kunsthandwerker*innen und Kleinst-, Klein- und Mittelbetrieben, die in der globalen Wirtschaft oft an den Rand gedrängt werden, könne ein integratives Modell auf der Grundlage von Nachhaltigkeit, Kreislaufwirtschaft und Ko-Kreation wachsen.

Kulturelle und sozioökonomische Dynamiken hinter Waste Colonialism

In Argentinien werden vor allem Naturfasern wie Wolle und Baumwolle im Norden des Landes, in den Provinzen Chaco, Santiago del Estero und Santa Fe, produziert. Die traditionell verwurzelte Naturfaser Wolle, heute vor allem Merinowolle, wird zu 80 Prozent durch Kleinbauern von ihren Schafherden im Norden und Süden des Landes gewonnen. Die Hauptexportländer sind China, Deutschland und Italien. In den letzten Jahrzehnten wurde der Anbau von Baumwolle im Norden des Landes skaliert. Sie wird im Land weiterverarbeitet, aber auch nach Indonesien, Vietnam, Kolumbien und Indien exportiert. Der Anbau zertifizierter Biobaumwolle ist verschwindend gering. Mehr über die Auswirkungen von Pestiziden auf die Bodengesundheit, Biodiversität und Gesundheit der Menschen erfahrt ihr in diesem Fashion Changers-Artikel; mehr über Initiativen zu regenerativer Landwirtschaft hier. Auch die konventionelle Lederindustrie kann sich negativ aufs Ökosystem auswirken. Zudem werden immer mehr Erdölquellen des Landes in entlegenen, teils geschützten Gebieten erschlossen – nicht nur, aber auch, um die Modeindustrie mit billigem Rohstoff für synthetische Fasern zu versorgen.

Chile hingegen exportiert Holz direkt oder als Zellstoff für die Viskoseherstellung hauptsächlich nach China und rodet dazu Wälder. Handel und Import von Altkleidern haben auch Auswirkungen auf die kulturelle und sozioökonomische Dynamik in den Ländern des Globalen Südens. Da 70 bis 90 Prozent der Kleidung in Chile importiert werden, ist die Produktion und Konfektion für die Mode- und Textilindustrie heutzutage kaum mehr existent. „In Chile zum Beispiel,“ meint Mariano, „besteht die aktuelle Herausforderung darin, die nationale Textilindustrie wieder aufzubauen, die sowohl durch die Einfuhr von Altkleidern als auch durch die großen Einzelhandelsunternehmen beeinträchtigt wird. Sie dominieren das Modesystem in Chile und beziehen alle ihre Produkte aus dem Ausland, wobei es kaum Vorschriften gibt.“ Die einheimische Textiltradition würde also nur sehr schwer wiederhergestellt werden können. Paradoxerweise beschäftige der Verkauf billiger Fast-Fashion- und Second-Hand-Kleidung viele Menschen und Kleinstunternehmen, die vom Wiederverkauf leben.

Textilmüll am Straßenrand in Buenos Aires© Sarah Maria Schmidt

Was tun gegen Waste Colonialism? Dialog auf Augenhöhe

„Wenn wir den Kolonialismus durch Abfall und Verschmutzung wirklich beenden wollen, müssen wir das System Mode umgestalten. Und das müssen wir gemeinsam schaffen – der Globale Norden und der Globale Süden in einem Dialog auf Augenhöhe,“ meint Adriana. Dazu sei Transparenz der Lieferketten der erste Schritt zur Reformierung einer Industrie, die auf imperialistischen Werten und Ausbeutung beruht. 

In Chile ist laut Mariano seit der Corona-Pandemie ein positiver Trend zu bemerken: die Zahl der Kleinstproduzent*innen von Mode habe sich erhöht und auch zu einem verstärkten Interesse an lokal produziertem, ethischem Design geführt. „Die chilenischen Verbraucher*innen treffen allmählich bewusstere Kaufentscheidungen und suchen nach Marken und Produkten, die nachhaltig und ethisch vertretbar sind,“ so der Upcyclingexperte, „doch die Wirtschaftskrise des Landes trägt nicht dazu bei, dass dies schnell geschieht.“ Er sei prinzipiell positiv auf die Zukunft der Industrie eingestellt, da er einen Wandel vor allem bei jungen Unternehmen wahrnehme. Dennoch fügt er an, dass es in erster Linie Regulierungen brauche, die die Einfuhr von Altkleidern aus dem Globalen Norden beschränken, sodass sich die jungen Unternehmen, die versuchen, einen positiven Wandel zu bewirken, auch nachhaltig entwickeln könnten. 

Die Menschen in Chile und Argentinien brauchen keine ungefragte Hilfe oder unsere Meinung zu ihrem politischen System oder Wirtschaften. Wir müssen ihnen nicht die Welt erklären. Sie brauchen unseren Textilmüll und die durch unseren Überkonsum ausgelöste Verschmutzung ihrer Länder nicht, nur damit wir uns für einen kleinen Moment in unserem Alltag etwas schöner fühlen können. Vielleicht sollten wir einfach mal öfter zuhören, statt zu urteilen und einen wirklichen Dialog auf Augenhöhe beginnen.

 

Titelbild: ©Pexels

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