„Erfände ein Chemiekonzern heute die Wolle, würde das als Sensation gefeiert.“ (DIE ZEIT Nr. 43/2014, 16. Oktober 2014)
Was Christoph Drösser in dieser Kolumne schreibt, bringt es auf den Punkt. Wolle und feines Tierhaar sind wahre Multitalente in der Faserwelt. Durch die Erfindung der Chemiefasern Mitte des 20. Jahrhunderts sind sie weitgehend vom Markt verdrängt worden, erleben aber in den letzten Jahren, auch dank der florierenden Outdoor-Branche, ein Comeback.
Wie viel Wolle gibt es überhaupt?
Der weltweite Faseranteil von Wolle lag 2019 laut Textile Exchange bei lediglich einem Prozent. Das muss aber in Relation zu den unvorstellbaren Fasermengen insgesamt gesehen werden, die wir jährlich produzieren und verarbeiten. Würden wir heutzutage unseren Faserverbrauch mit Wolle versuchen zu decken, bräuchte das ca. 123 Millionen Quadratmeter Fläche. Zusätzlich würde die Haltung aller Tiere etwa 133 Millionen Tonnen Methan verursachen*. Da das aktuelle Produktionsvolumen aller Fasern weltweit aber kein besonders erstrebenswerter Wert sein sollte, da er weit den Ressourcenverbrauch übersteigt, den wir uns jährlich erlauben dürften, ist die Rechnung nur ein Zahlenspiel, das verdeutlichen soll, dass es eben nie die eine Lösung gibt, mit der wir alles herstellen können.
Dieser Artikel soll alles rund um die Wunderfaser Wolle behandeln: Unterschiede der Qualitäten, Anwendungsbereiche und auf was man beim Tragen und Kauf achten sollte.
Faserübersicht: Natur- und Chemiefasern
Um uns einen Überblick zu schaffen, greifen wir auf die bekannte Faserübersicht zurück. Tierische Fasern sind Naturfasern. Als Wolle werden fachlich gesehen nur die Haare von Schafen bezeichnet. Feines Tierhaar beschreibt alles andere: Kaschmir, Alpaka, Yakhaar, Kamelhaar, Chiengora oder Angora.
Innerhalb der Wolle wird dann noch einmal anhand der Fasern in verschiedenen Qualitäten unterteilt. Merinowolle zählt zu den sehr feinen Wollfasern, Crossbred beispielsweise zu den sehr Groben. Als Laie ist die Qualität der Fasern relativ leicht herauszufinden. Kratzt Wolle, ist sie sehr grob. Fühlt sich Wolle sehr weich an, hat sie eine feine, hohe Qualität.
Wieso kratzt Wolle?
Wolle und feines Tierhaar sind von einer Schuppenschicht umgeben. Je nach Feinheit der Fasern sind diese Schuppen mehr oder weniger ausgeprägt.
Grobe Wollfasern haben eine sehr grobe, stark ausgeprägte Schuppenschicht und einen großen Durchmesser. Das fühlt sich dann sehr kratzig auf der Haut an. Bei manchen Menschen kann das zu roten, juckenden Hautstellen während des Tragens führen. Dieses empfindliche Reagieren auf die Schuppenstruktur wird oft auch als Wollallergie bezeichnet. Die „richtige“ Wollallergie wird aber durch Lanolin verursacht. Lanolin ist das Wollfett, was die Tiere über ihre Talgdrüsen produzieren, um sich selbst natürlich zu pflegen und wasserabweisend zu imprägnieren. Heutzutage wird Lanolin aber meist in der Wollwäsche entfernt und erhält ein zweites Leben in der Kosmetikindustrie als Basis von Cremes. So gibt es nur noch wenige, unbehandelte Wollprodukte auf dem Markt, die dieses Lanolin noch enthalten könnten. Wahrscheinlicher ist es mittlerweile, eine allergische Reaktion auf Farbstoffe und andere textile Behandlungschemikalien im Wolltextil zurückzuführen.
Warum filzt Wolle?
Die Schuppenstruktur ist nicht nur ausschlaggebend dafür, ob die Wolle kratzt oder nicht, sondern auch der Grund, warum Wolle filzt. Wenn man Wolle nass macht, dann nimmt sie sehr viel Feuchtigkeit auf. Dabei quillt die Faser auf und Schuppen schieben sich weiter nach außen und verhaken ineinander. Über zusätzliche Reibung entsteht so dann Filz. Damit Wollpullis beim Waschen aber nicht verfilzen, werden sie überwiegend filzfrei ausgerüstet. Dabei werden die Schuppen von einem Enzym „angeknabbert“ und können sich dann nicht mehr verhaken.
Die Eigenschaften von Wolle
Wolle hat wie bereits erwähnt eine ganze Reihe toller Eigenschaften, die über chemische Prozesse nicht imitiert werden können.
Sie ist wasserabweisend
Das liegt auch an der Schuppenzellenschicht der Wolle. Sie mag kein Wasser, sondern lässt nur Wasserdampf durch. So sind zum Beispiel Wintermäntel aus Schurwolle ohne synthetische Beschichtung bis zu einem gewissen Grad wasserabweisend.
Sie ist selbstreinigend
Das liegt daran, dass Wolle eine Proteinfaser ist und über seine Struktur Schweiß beispielsweise binden und neutralisieren kann. Darüber, dass Wolle viel Feuchtigkeit und Wasser aufnehmen kann, fühlt sie sich immer sehr trocken an und bietet so auch keinen Nährboden auf der Oberfläche für Bakterienkulturen, die das Textil unangenehmen riechen lassen. Einige Stunden Lüften können so oft eine Wäsche ersetzen.
Sie ist wärmeisolierend
Das Material hat eine sehr hohe Wärmespeicherkapazität. Das bedeutet, dass ein Winterpulli aus Wolle oder feinem Tierhaar die Körperwärme ausgezeichnet speichern kann, und so in der Anwendung sehr warm hält. Genau so verhält es sich mit Fütterungen aus Wolle, Funktionsunterwäsche aus Merinowolle oder Wollwalk der in Form von Wintermänteln verwendet wird. So kann Wolle selbst als Multifunktionsmaterial bei sehr niedrigen Temperaturen im Wintersport eingesetzt werden, wie es Hessnatur oder Nordwolle vormachen.
Sie fühlt sich trocken an
Diese Eigenschaft hat vor allem die Outdoor-Industrie die letzten Jahre wieder entdeckt. Die natürliche Klimaregulierung gepaart mit der Wärmeisolation wird vor allem bei Funktions- und Thermounterwäsche genutzt. Dass Wolle auch Gerüche neutralisiert, haben vor allem Bergsteiger und Skifahrer das Material für mehrtägige Anwendungen für sich entdeckt.
Was ist Mulesing?
Textilien aus Wolle und feinem Tierhaar verdienen also eine besondere Wertschätzung. Denn nicht nur Ökosysteme sind von den Auswirkungen der Tierhaltung betroffen, sondern auch das Tier selbst.
Merinoschafe wurden so gezüchtet, dass sie möglichst viele Hautfalten haben, um viel Wolle zu produzieren. Diese Falten bieten Fliegen das perfekte Umfeld, um ihre Eier dort abzulegen – vorzugsweise im Bereich der After- und Genitalregion der Tiere. Die geschlüpften Fliegenmaden fressen sich in das Gewebe der Tiere, was zu schweren Entzündungen und sogar dem Tod der Tiere führt. Um das vorzubeugen, werden den Lämmern in der Regel ohne Betäubung die Hautfalten um diesen Bereich abgeschnitten. Die Wunden werden nicht behandelt und vernarben, sodass keine Wolle mehr an dieser Stelle wachsen kann. Das nennt man Mulesing. Das Problem ist, dass die Alternative zu Mulesing zu einer aufwendigen Pestizidbehandlung der Tiere führen würde. Die Tiere würden im Laufe der Zeit eine Resistenz entwickeln und so müssten immer mehr und stärkere Pestizide eingesetzt werden. Die einzige Lösung, Mulesing zu verhindern, wäre ein Rückgang des Faserbedarfs von Merinowolle, um das Überzüchten der Tiere zu vermeiden.
Der Konsum eines Wolltextils sollte also bei Marken erfolgen, die sich transparent für den Erhalt einer nachhaltigen und ethisch korrekten Tierhaltung einsetzen.
Unbedingt auf die Herkunft achten
Ich empfehle grundsätzlich keine Zertifizierungen, weil ich meiner eigenen Industrie nicht traue. Eine gute Orientierung aber sind Herkunftsländer: Australien ist einer der größten Merinowolle-Lieferanten weltweit – dort ist nur 10 Prozent der Wolle frei von Mulesing. Da aber Australien beinahe den gesamten Weltmarkt von Merinowolle deckt, ist ein Mulesing-freies Textil in der konventionellen Modeindustrie kaum zu finden. Wolle aus Südamerika, wie zum Beispiel Patagonien, kann laut vieler Stimmen guten Gewissens gekauft werden. Dort gibt es die Fliegenart nicht, die Mulesing provoziert und so wird den Tieren auch nichts abgeschnitten. Unternehmen die sich dahin gehend engagieren, beziehen also meist ihre Wolle aus Patagonien oder kennzeichnen ihre Produkte entsprechend.
*Rechnung stammt aus einer Vorlesung, in der einer meiner Professoren spontan versucht hat, diese Menge ungefähr nachzurechnen. Angaben also ohne Gewähr.