Braucht die Fair-Fashion-Branche eine Erneuerung des Begriffs fair?

In der Fair-Fashion-Branche garantieren alle Modeschaffenden faire Arbeitsbedingungen. Doch wie sehen die in der Realität wirklich aus? Wie werden sie vor allem überprüfbar? Und was unterscheidet faire Arbeitsbedingungen auf dem Papier von denen in der Praxis. Wir haben darüber mit Marian von Rappard, dem Gründer von Dawn, gesprochen.

Dawn Denim Fair Wear Foundation Score

Ethical Fashion, Fair Fashion oder Slow Fashion sind Begriffsschöpfungen, die ein Konzept ethisch und ökologisch korrekter industrieller Kleidungsfertigung bezeichnen.“, so sagt es Wikipedia, wenn im Suchfeld „Fair Fashion“ eingetippt wird. Fair: ein Wort so klein in der Schreibung, so groß in der Ausgestaltung. Es bedeutet, gerecht im Miteinander zu sein, auf andere Rücksicht zu nehmen. Das ist es, was sich die Fair-Fashion-Branche groß auf die Fahnen schreibt: Schaut her, wir produzieren Mode, die gerecht ist. 

Einige Labels haben das kleine Wörtchen „fair“ gar als USP, also als Alleinstellungsmerkmal, für sich definiert; dabei gibt es mittlerweile unzählige Unternehmen, die sich Gerechtigkeit in ihre Werte schreiben. Dieses Wort prangt über allem, was Modeschaffende als faire Produktion empfinden. Und hier kommt der Knackpunkt: Fair folgt keiner allgemeingültigen Definition. Was sich fair nennen darf, ist nicht gesetzlich festgelegt oder gar geschützt. Nein, fair ist, wer es glaubwürdig vermitteln kann. Und bei Glaubwürdigkeit gibt es immer wieder Spielräume und Ungenauigkeiten. Gerade heute, im großen Boom der Nachhaltigkeit, in der Begrifflichkeiten immer wieder gerne falsch synonym verwendet werden, drängt sich die Frage auf: Wie fair ist eigentlich die Fair-Fashion-Branche? Und müssen wir auf der Suche nach einer Antwort danach, uns auch fragen: Brauchen wir eine Erneuerung des Begriffs „fair“? Über diese Fragen sprechen wir in diesem Beitrag unter anderem mit Marian von Rappard, Gründer des Modelabels Dawn, die in diesem Jahr beim Brand Performance Check der Fair Wear Foundation zum zweiten Mal mit einem Score von 100 abgeschnitten haben.

Was bedeuten faire Arbeitsbedingungen eigentlich wirklich?

Faire Arbeit = Mindestlohn?

Stellen wir einem Label die Frage, inwieweit ihre Produktion fair ist, kommt in den allermeisten Fälle sofort eine Antwort: Wir achten auf faire Arbeitsbedingungen. So steht es auf vielen Webseiten, auf Waschzetteln oder in der Insta-Bio. Doch was sind faire Arbeitsbedingungen eigentlich? Sind es gesicherte Pausenzeiten, festgelegte Notausgänge, ein sauberes Arbeitsumfeld, gewerkschaftliche Organisation oder ein Betriebsrat? Oder ist es nur der gezahlte Lohn? Hier wird es kompliziert.

Viele Fair Fashion Labels geben an, dass sie fair bezahlen. Schauen wir genauer hin, bedeutet das in vielen Fällen: die Zahlung des Mindestlohns im jeweiligen Produktionsland. Da der Mindestlohn jedoch politisch festgelegt ist und jede Landesregierung eine ganz eigene Vorstellung von sozialer Gerechtigkeit hat, variiert der Mindestlohn von Land zu Land sehr stark. In der Europäischen Union etwa werden nur in 29 von 47 Ländern überhaupt Mindestlöhne gezahlt. Gerade im Osten Europas ist der gesetzliche Mindestlohn sehr niedrig angesetzt. In Polen beträgt dieser gerade einmal 3,64 Euro, in Bulgarien 2 Euro die Stunde. Länder, die uns auch auf den Waschzetteln einiger Fair-Fashion-Stücke immer wieder begegnen. Polen erreicht dennoch damit fast einen existenzsichernden Lohn (ca. 60% des Medianlohns, also der mittlere Lohn eines Landes), weil die Lebenshaltungskosten entsprechend niedrig sind. Die, bei einer 40-Stunden-Woche, 320 Euro im Monat reichen in Bulgarien jedoch kaum zum Leben. Selbst mit Überstunden, die durchaus auf eine 80-Stunden-Woche hinauslaufen können, kommen Textilarbeiter*innen mit dem Mindestlohn nicht über die Armutsgrenze hinaus. Etwa 1000 Euro bräuchte es hier, um wirklich vom Lohn leben zu können. Ganz abgesehen davon, dass auch Arbeitnehmer*innenvertretungen, wie Betriebsräte, in diesen Ländern oft rar gesät sind. In Portugal, auch ein sehr beliebtes Fair-Fashion-Produktionsland, beträgt der Mindestlohn immerhin 4,01 Euro pro Stunde. Portugal schützt Menschen mit dem gesetzlichen Mindestlohn damit aktiv vor Armut, da damit ein existenzsichernder Lohn erreicht werden kann. In Ländern wie Spanien oder Tschechien, die Verlierer in Sachen Mindestlohn, sieht es wieder ganz anders aus. Dort erreicht der Mindestlohn noch nicht einmal die 50-Prozent-Marke des Medianlohns. Wie fair kann das sein?

Bei der Menge an unterschiedlichen Zahlen, gesetzlichen Vorgaben und Interpretationsmöglichkeiten ist es natürlich schwer, als Label den Überblick zu behalten. Deswegen ist die Suche nach einer fairen Produktionsstätte auch kein leichtes Unterfangen. Denn selbst wenn Mindestlohnversprechungen und geregelte Arbeitszeiten gut klingen, macht es doch einen Unterschied, ob die Arbeiter*innen zum Beispiel gewerkschaftlich organisiert sind, Rückmeldemöglichkeiten an den oder die Arbeitgeber*in haben oder zum Beispiel neben geregelten Arbeitszeiten auch bezahlte Überstunden oder Urlaub erhalten. 

Bei Dawn spielt nicht nur der Lohn eine Rolle. Das Label will wirklich wissen: Wie glücklich sind unsere Mitarbeiter*innen?

Fairness muss messbar sein

Wie kann ich dies als Label also für mich überprüfbar machen? Oftmals stellen wir fest, dass sich viele Fair Fashion Labels allein auf die Worte der Produktionen verlassen. Wenn es gut läuft, erfolgt noch ein Besuch vor Ort – und selbst das nimmt nicht jedes Label in Kauf beziehungsweise wurde dies in den letzten Monaten aufgrund der Coronapandemie ja auch zunehmend erschwert. Eine Garantie für gerechte Arbeitsbedingungen schafft das aber nicht automatisch.

Dafür braucht es mehr, findet auch Dawn. Das Denim-Label mit Sitz in Berlin möchte den Begriff der Fairness vollends in seiner Wertschöpfungskette leben. Dafür hat es eine eigene Produktionsstätte in Vietnam aufgebaut. Dies garantiert schon mal eine gewisse Nähe, um mögliche Unstimmigkeiten einfacher und gezielt aus dem Weg räumen zu können. Um Fairness wirklich nachvollziehen zu können, setzt Dawn zusätzlich auf eine unabhängige Prüfung und arbeitet deswegen seit 2018 mit der Fair Wear Foundation zusammen.

Wir haben mit dem Gründer Marian von Rappard über die Ausgestaltung des Wortes „fair“, die Arbeit mit der Fair Wear Foundation und partnerschaftliche Lieferbeziehungen gesprochen.

Fashion Changers: Wie können Labels sicherstellen, dass angestrebte Ideale auch wirklich in der eigenen Wertschöpfungskette umgesetzt werden?

Marian: Transparenz ist der Anfang, die persönliche Beziehung und das Brand-Commitment der Schlüssel.

Warum habt ihr euch für die Zusammenarbeit mit der Fair Wear Foundation entschieden?

Unser Wunsch und Ziel ist es, unser Team in Vietnam auf unsere Reise mitzunehmen. Unsere Vision ist es, der Beweis zu sein für ein ganzheitliches Geschäftskonzept. Teil dieses Modells ist eine positive Bilanz von People, Planet und Profit – oder auch Gemeinwohl-Ökonomie. Hier gilt es, unsere Mitarbeiter*innen mitzunehmen, zu begeistern. Wir möchten, dass jeder in unserem Unternehmen (sei es Berlin oder Saigon) sich als Teil des Ganzen sieht und wir ein gemeinsames Ziel haben. Dies wollen wir nicht Top-down (Anm. d. Red.: also von der Geschäftsführung nach unten) und kolonialistisch, sondern gemeinsam erarbeiten. Erprobte Kommunikationsmodelle der Fair Wear Foundation sollen uns helfen, unsere Mitarbeiter*innen bei der aktiven Gestaltung des Unternehmens mit an Bord zu holen.

Performance Check Fair Wear Foundation

Der Brand Performance Check von Fair Wear ist ein Tool zur Bewertung und Berichterstattung der Aktivitäten der Mitgliedsunternehmen (als Brand muss man also erst Teil der Fair Wear Foundation werden) von Fair Wear. Die Checks untersuchen, wie die Managementsysteme der Mitgliedsunternehmen den Fair-Wear-Kodex für Arbeitspraktiken unterstützen und umsetzen. Sie bewerten die Teile der Lieferketten der Mitgliedsunternehmen, in denen die Kleidung zusammengesetzt wird – also in der Regel den direkten Zulieferer. Dies ist der arbeitsintensivste Teil der Bekleidungslieferketten, in dem die Marken den größten Einfluss auf die Arbeitsbedingungen haben. 

Das System des Brand Performance Checks ist so konzipiert, dass es den unterschiedlichen Strukturen und Stärken der einzelnen Unternehmen Rechnung trägt und die verschiedenen Möglichkeiten widerspiegelt, mit denen die Marken bessere Arbeitsbedingungen unterstützen können. So soll langfristig Veränderung geschaffen werden.

Dieser Bericht basiert auf Interviews mit Mitarbeiter*innen der Mitgliedsunternehmen, die eine wichtige Rolle im Management der Lieferketten spielen, sowie auf einer Vielzahl von Dokumentationsquellen, Finanzunterlagen und Lieferantendaten. Die Ergebnisse des Brand Performance Checks werden auf www.fairwear.org zusammengefasst und veröffentlicht. 

Anhand der Ergebnisse werden die Unternehmen in folgende Statuskategorien eingeteilt: Leader, Good, Nees Improvement oder Suspended (hier muss die Mitgliedschaft für mindestens ein Jahr pausiert werden, bis die notwendigen Verbesserungen umgesetzt wurden). 

Welche Produktionsschritte werden im Performance Check geprüft?

Die Fair Wear Foundation fokussiert sich aktuell auf Tier 1 (Anm. d. Red.: der direkte Zulieferer an das Label), dem größten „Arbeitgeber“ in der Mode- und Textilbranche. In Bezug auf Dawn bedeutet das: nähen, waschen, „veredeln“.

Wie garantiert ihr in den anderen Schritten der Wertschöpfungskette Fairness?

Das ist ein großes Problem, denn auch wir kommen aktuell nicht bis zum Bio-Baumwollanbau. Zertifikate erfüllen hier oberflächlich ihren Zweck, sind aber nicht unser Anspruch. Wir arbeiten mit Cotton Connect zusammen, um neben Transparenz auch den Aufbau von Bio-Baumwollbauern*bäuerinnen zu fördern. Genug ist uns das nicht, denn wir möchten die persönliche Beziehung, möglichst zu allen in unserer Wertschöpfungskette.

Oft wird Fairness mit gerechtem Lohn gleichgesetzt. Doch in der Realität wird auch in Fair-Fashion-Betrieben teilweise nur der Mindestlohn gezahlt. Wie steht ihr dazu?

Ein weiteres Problem und durchaus kritisch zu hinterfragen. Ein guter Score im Brand Performance Check sagt zum Beispiel leider wenig bis nichts über einen guten Lohn aus. Es wird Zeit, dass sich die Politik mit der Industrie auf ein Kalkulationsmodell zur Berechnung des Living Wages (Anm. d. Red.: existenzsichernder Lohn) einigt. Es kann nicht sein, dass Corona den Anspruch und die Wirklichkeit noch weiter verschiebt und Nettogehälter weiter sinken. In unserer Fabrik haben wir schon immer „faire“ Gehälter bezahlt. Darüber hinaus sind unsere Mitarbeiter*innen privat versichert und wir stellen neben einer Vitaminbar auch Massage und Akupunktur zur Verfügung. Dass wir über Living-Wage-Standard (nach der Anker Methode) bezahlen, wussten wir aber erst nach der Zusammenarbeit mit der Fair Wear Foundation.

Anker-Methode

Die Anker-Referenzwerte werden auf der Grundlage von 40 bestehenden Anker-Studien (elf in Afrika, 20 in Asien und neun in Lateinamerika) berechnet. Sie zeigen den durchschnittlichen, existenzsichernden Lohn und das existenzsichernde Einkommen für ländliche und städtische Gebieten innerhalb jedes Landes, anstatt für einen spezifischen Standort. Durch die Analyse vergangener Daten können die Referenzwerte vorhersagen, wie hoch der existenzsichernde Nettolohn (Living Wage) ist und das Lebenseinkommen für ein bestimmtes Land sein sollte. Die Fehlergrenze liegt dabei bei maximal zehn Prozent.

Und was ist mit einer Arbeitnehmervertretung oder auch den Arbeits- und Urlaubszeiten?

Die sogenannten Worker-Unions (Anm. d. Red.: Gewerkschaften) sind in Vietnam schon immer stark gewesen. Leider fehlt es aber oft an den richtigen Mechanismen und es wird oft Top-down kommuniziert, sodass gemeinschaftliche Verhandlungen scheitern. Auch wir haben hier noch nicht den richtigen Ansatz gefunden und wollen gemeinsam mit der Fair Wear Foundation neue Wege gehen.

Zu den Arbeitszeiten: Die uns bekannten Mode-Saisons kreieren immer, sogenannte Bottlenecks, also Engpässe, die Fabriken und Arbeiter*innen dazu zwingen, Überstunden zu machen. Mit Dawn wollen wir das durchbrechen und Liefertermine aller Artikel werden gemeinsam mit der Fabrik festgelegt. Corona und die Pandemie haben die Überstunden in unserer Branche jedoch vervielfacht. Auch wir müssen, nach drei Monaten Lockdown in Vietnam, extra Schichten arbeiten, da wir sonst mit Auftragsstornierungen aus dem Handel rechnen müssen.

Habt ihr Tipps für Labels, die nicht wie ihr eine eigene Produktionsstätte besitzen, sondern auf die Zuarbeit von Produktionsstätten angewiesen sind? Wie können die ihre Interessen auch durchsetzen? 

Aus Sicht des*der Produzent*in brauche ich verlässliche Partner*innen und Gespräche auf Augenhöhe. Ein Brand, welches mit seitenweise Anforderungen um die Ecke kommt, ist weniger partnerschaftlich als eines, welches vor Ort mit investiert, zuhört und gemeinsam mit uns eine langfristige Strategie entwickelt. Kurz: Es ist das Commitment, welches aus Brand und Fabrik wirkliche Partner macht. Gerade die Pandemie hat gezeigt, wie fragil und ungerecht unsere Branche ist. Es trifft immer das schwächste Glied in der Kette und Verträge sind von einem Tag auf den anderen nichts mehr wert.

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Habt ihr neben der Fair Wear Foundation noch andere Mechanismen, die Fairness in eurer Wertschöpfungskette garantieren?

Meiner Erfahrung nach, ist die persönliche Beziehung zu Zulieferern der einzig richtige Weg. Unsere Motivation ist es, einen positiven Impact zu haben. So suchen wir nicht die „beste Lieferkette“ anhand von Zertifikaten aus, sondern wollen bestehende Zulieferer sensibilisieren und helfen, ihren Footprint zu verkleinern. Gerade in Coronazeiten haben viele Brands ihre Zulieferer im Stich gelassen. Das wäre nicht passiert, wenn es mehr persönliche Beziehungen geben würde.

Danke, Marian, für das offene Gespräch.

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Was bedeutet das für die (faire) Modebranche?

Fest steht, dass Nachhaltigkeit und Fairness in aller Munde sind. Je mehr (konventionelle) Modebrands diese Begriffe nutzen und ausdehnen, desto wichtiger wird es – sowohl für Modemarken als auch für Konsument*innen – den Blick zu schärfen. Im Fairness-Bereich kann dies von Brands durch konkretes Hinterfragen jahrelang gelernter Formulierungen passieren:
Was möchte ich mit dem Begriff „fair“ implizieren?
Entspricht diese Implikation den Tatsachen?
Kann ich die Einzelteile von „fair“ konkreter machen?
Was genau ist wann in welchem Prozess fair und wie wird das greifbar/messbar?
In welche Richtung sollte sich das Verständnis von „fair“ entwickeln? Trage ich dazu bei?

Für Konsument*innen sollte das bedeuten, Fairness als Begriff nicht einfach als vollendete Tatsache zu behandeln, sondern eine differenzierte Darstellung einzufordern. Was ist genau gemeint und welche weiteren Informationen werden bereitgestellt? Wird zum Beispiel zwischen Mindestlohn und Existenzlohn differenziert? Gibt es Informationen zum Arbeitsschutz, gewerkschaftlicher Organisation oder Urlaubstagen?

Der Begriff „fair“ ist in ständiger Anwendung und wird damit auch in der Benutzung verändert, ausgedehnt, bekommt neue Assoziationen oder wird wieder konkreter – je nachdem, wie die Branche mit ihm umgeht. Die Fair-Fashion-Branche kann hier die Rolle einnehmen dafür zu sorgen, dass er nicht verwässert.

Finde hier noch mehr Infos zu Dawn und ihren Arbeitsbedingungen.

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