Corona: eine Branche im Stillstand – Wie kaputt ist die Modeindustrie?

Zuerst veröffentlicht: 30. April 2020

„Sollte die Schließung über den April hinaus fortbestehen, rechnen wir nicht nur mit tausenden Insolvenzen in Textil-, Schuh- und Lederwarenbranche, sondern auch mit über einer Milliarde unverkaufter Artikel“

Die textile Welt steht still. Der Einzelhandel scheint tot und auch der Onlinehandel, auf den zu Beginn alle setzten, hat laut HDE (Handelsverband Deutschland) Hauptgeschäftsführer Genth um 20 – 30 Prozent abgenommen. Laut Tagesschau sogar um 35 Prozent. Das war der Stand Ende März.

Diese Woche, Ende April, öffnet der Einzelhandel nun langsam wieder seine Türen, die Prognosen sind aber verhalten. Der Tourismus, der in manchen Städten 20 – 40 Prozent des Umsatzes ausmacht, bricht weg und das Kaufverhalten der Deutschen ist eher vorsichtig.

Die große Chance für Slow Fashion

„Ja endlich!“, mögen Fast Fashion-Kritiker*innen denken, denn endlich wird dieser massive Konsum gestoppt. Aber stimmt das denn? Ist es wirklich so einfach?

Das Problem dieses disruptiven Prozesses ist, dass Slow Fashion für die gesamte Modeindustrie von heute auf morgen nicht funktioniert.

Viele fragen sich, warum Kollektionen, die jetzt eigentlich dieses Frühjahr in den Schaufenstern hängen sollten, storniert wurden. Warum kann man die Sachen nicht einfach nächstes Jahr im Frühjahr verkaufen oder einfach später im Jahr anbieten?

Das System ist träge

Der Ausfall einer einzigen Kollektion ist mit Millionen von Arbeitsplätzen, Prozessen und festgefahrenen Strukturen verbunden, die nur ganz langsam im Sinne der Slow-Fashion-Bewegung umgestellt werden könnten. Die Lieferketten sind über die Jahre immer intransparenter und dadurch träger geworden. Vorgänge wurden durch Fast Fashion immer hektischer und globaler. Konsument*innen haben sich an die bis zu 24 Kollektionen im Jahr gewöhnt – genauso wie der Einzelhandel, die Jahresbilanzen, die Fabriken in Produktionsländern, die Rohstoffpreise und Abschriften-Konzepte der Branche.

Abschriften-Konzepte besagen, wann und wie die Ware reduziert wird.

Wie funktionieren Kollektionszyklen in der Modeindustrie?

Die Komplexität der Modeindustrie, die über 60 Millionen Menschen weltweit beschäftigt, kann ein einziger Artikel nicht abdecken. Um aber trotzdem zu verstehen, wie weitreichend die Auswirkungen von Corona hier sind, muss man die Kollektionszyklen der Modeindustrie verstehen.

Wieso ist mit der Beendigung der Corona-Maßnahmen die Krise noch lange nicht vorbei? Und warum hat die Industrie so reagiert, wie sie reagiert hat?

Schauen wir uns das Ganze am Beispiel eines Unternehmen im Premiumsegment durch, das lediglich vier Kollektionen im Jahr produziert. Das ist für die konventionelle Industrie im Durchschnitt sehr wenig. Wir betrachten den Ablauf von Sommerkollektion 1 und Sommerkollektion 2 in 2021, sowie die beiden Winterkollektionen in 2021.

Abbildung zur Entwicklung von vier Kollektionen am Beispiel Premiumsegment

Von der Ideensammlung zur Sample-Produktion

Zunächst wird die Kollektion entwickelt und festgelegt, was im kommenden Jahr „in Mode“ ist. Dazu werden Muster und Prototypen konzipiert. Parallel werden Marketingkonzepte geschrieben und das Lookbook erstellt. Die Prototypen werden in enger Zusammenarbeit mit den Produktionsstätten und der Qualitätssicherung abgestimmt.

Bevor die Kollektion wirklich in die Produktion geht, muss natürlich erst festgestellt werden, was wirklich vom Einzelhandel angenommen wird. Das ist die Zeit der „Orderperiode“ (= Bestellperiode). Hier wird auf Messen oder über Vertriebsagenturen die Kollektion verkauft. So wird also knapp ein Dreivierteljahr vor der Saison festgelegt, was und wie viel später tatsächlich gekauft wird. Das was man als Sample-Sale aus Outlets kennt, sind all die Teile, die in dieser Orderperiode den Einkäufer*innen zur Verfügung standen. Einige von ihnen sind Unikate, weil sie nie jemand geordert hat und sie so gar nicht zur Produktion in Erwägung gezogen wurden.

Orderperiode und parallele Abläufe

Nach dieser Phase werden die Aufträge gesammelt. Es folgt die letzte Schleife der Produktbeurteilung. Dafür müssen zunächst Produktionsmuster auf Basis der Samples bestellt und diese noch einmal beurteilt werden. Wenn das Unternehmen zufrieden mit den Produktionsmustern ist, wird die Produktion in Auftrag gegeben. Je nach Produktionsort muss daraufhin früh genug kontrolliert werden, ob die Kollektion auch verschifft wurde. Geht man von einer Frühjahrskollektion mit Auslieferung im Februar/März und einer Produktion in Indien aus, wird die Ware spätestens im Dezember auf die Schiffe verladen.

Dieser Vorgang läuft parallel und zeitlich verschoben für alle Kollektionen im Unternehmen (siehe Grafik): Während die Sommerkollektion für die Orderperiode vorbereitet wird, wird mit der Trendresearch für die Winterkollektion angefangen und so weiter. Dazu muss man im Hinterkopf behalten, dass zeitgleich die aktuelle Kollektion 2020 verkauft wird. Ein weiterer Vorgang also, der parallel läuft.

Fast Fashion treibt diese Vorgänge auf die Spitze

Puh, ganz schön viel Arbeit! Da kann man die berechtigte Frage stellen, wie ein Fast-Fashion-Unternehmen wie Zara das mit 24 Trend-Kollektionen im Jahr anstellt. Inditex (der Mutter-Konzern von Zara) hat ein Konzept entwickelt, das die Probleme von Fast Fashion deutlich aufzeigt: das Design-Team schickt Bilder von Laufstegen der verschiedene Fashion Weeks weltweit oder Trends, denen sie begegnen, direkt an ihre Produktionsstätten. Dort werden die abfotografierten Teile sofort in die Wirklichkeit umgesetzt. Es gibt keine langen Recherchen nach Materialien, Schnitten und Verfahren. Es wird das verwendet, was schnell zur Verfügung steht, um sofort den neuesten Trend zum Nachkaufen anbieten zu können. So werden hier alle zwei Wochen neue Aufträge zusätzlich zu den klassischen Kollektionen aufgegeben. Eine grafische Darstellung all dieser parallel laufenden Vorgänge würde ein Gantt-Chart im XXL Format füllen.

Das Problem der Modeindustrie ist komplex

Mit der obigen Grafik im Blick erklärt sich nun das Dilemma der Modeindustrie. Man geht davon aus, dass alleine in Bangladesch mehr als 50 Prozent der Bestellungen, die schon so gut wie fertig beziehungsweise sogar schon fertiggestellt waren, storniert wurden. Aktuellen Berichten zufolge haben zwar mehrere große Unternehmen über ihre Sprecher*innen bestätigen lassen, dass sie für die stornierten, bereits produzierten Kollektionen finanziell aufkommen werden. Ob dieses Versprechen eingehalten wird, wird sich jedoch erst in den nächsten Wochen zeigen.

Das, was in den letzten Wochen storniert wurde, also die Ware, die April/Mai 2020 in den Läden liegen sollte, ist eben schon längst produziert und seit knapp einem Jahr vorfinanziert. Hersteller in Bangladesch oder Indien haben das Material und die Arbeitskraft vorgestreckt und bleiben nun auf den Kosten sitzen. Außerdem ist die Produktion der nächsten Kollektionen, die jetzt anlaufen, gefährdet. Die intransparenten Lieferketten sind zudem höchst instabil. Wer weiß, ob in einem Monat der Reißverschluss-Hersteller aus der Türkei aufgrund von Maßnahmen gegen die Pandemie nicht pleite gegangen ist?

Niemand will die Ware

Das Problem der Stornierungen liegt vor allem im Abschriften- und Kollektionszyklus. Die Sommerkollektion wird im Juli abgeschrieben – sprich reduziert. Denn im August kommt schon die erste Herbst/Winter-Kollektion, für die die Frühjahrs/Sommerware Platz machen muss. Durch die Ladenschließungen in den letzten Wochen ist der Verkaufszeitraum der Frühjahrsware zu regulären Preisen unnatürlich verkürzt worden. So lohnt es sich in den Augen der meisten Unternehmen nicht mehr, die Frühjahrs-Sommermode überhaupt noch zu kaufen und auszuliefern. Die Einbußen durch die Schließungen könnten so noch weniger aufgefangen werden. Wenn die Ware gleich wieder reduziert werden muss, sind die Einnahmen sehr viel geringer als üblicherweise. Dies ist der Hauptgrund der massiven Stornierungen. Keiner will die Ware, denn keiner weiß, wie man sie gewinnbringend verkaufen soll.

Der Hersteller für Outdoor-Bekleidung Salewa kündigte an, die Ware des Frühjahrs 2020 mit in das nächste Jahr zu nehmen. So etwas fordert allerdings ein massives Commitment des Unternehmens. Denn es fallen entlang der Punkte 1 – 12 der Grafik oben für die kommende Frühjahrskollektion 2021 alle Jobs weg. Diesen Ausfall muss das Unternehmen also bis nächstes Jahr Sommer auffangen können. So ist das Stornieren der diesjährigen Frühjahrskollektion in den Augen vieler Unternehmen die günstigste aller Lösungen.

Lesetipp: Der News-Ticker der Textil Wirtschaft (Corona-bezogene Artikel sind aktuell kostenfrei zugänglich) informiert über aktuelle Entwicklungen

Niemand weiß, wie es weiter gehen soll

Es gibt bereits Meldungen aus der Industrie, dass versucht werde die überstürzten Stornierungen der Waren teilweise zurückzunehmen, weil einigen Unternehmen aufgefallen sei, dass sie Teile der Ware doch brauchen. „Ein ganz großes Durcheinander, und keiner weiß so recht, was morgen passiert. Entscheidungen werden wöchentlich über den Haufen geworfen“, heißt es aus den Reihen großer Textilgiganten.

Die bereits gefertigte Frühjahrs- und Sommerware liegt in Containern irgendwo zwischen Südostasien und Hamburg. Was mit den ganzen Sachen passiert, weiß noch niemand so genau. Szenarien von „die Hersteller selbst verkaufen die Ware günstig und drücken so die Marktpreise noch mehr“ bis hin zu „wird dann halt alles verbrannt“ sind möglich oder schon umgesetzt. Auch wenn natürlich jeder versuchen wird, solange wie möglich seine Ware zum Normalpreis zu verkaufen, wird es massive Rabattschlachten geben, gerade von Seiten der Discounter. Die Gefahr dabei: Konsument*innen wird noch stärker suggeriert, wie billig ein Textil sein kann.

Das System ist kaputt

Feststeht, dass durch diese Krise mehr denn je klar wird, wie kaputt das „System Mode“ ist. Wie der Ausfall einer einzigen Saison eine Milliarden-Dollar-Industrie ins Wanken bringt und Millionen von Existenzen gefährdet. Der Müllberg an unverkauften, ungetragenen Textilien auf Kosten von Mensch und Natur wird in dieser Krise explodieren. Alles was gerade passiert, schreit nach einem lang ersehnten Umbruch, nach einem stabilen und transparenten System und einem Strukturwandel des Konsumwahnsinns. Müssen es 4 – 24 neue Kollektionen pro Jahr sein? Könnten es nicht zwei Kollektionen mit sauber produzierter, qualitativ hochwertiger und fair entlohnter Ware sein? Muss wirklich schon im Juli Sommerware rabattiert werden, damit dann schon wieder der Strickpulli der nächsten Saison Platz auf der Fläche findet? Wie viel Sinn macht der ganze Wahnsinn noch?

Mit dem Andauern dieser Krise wird sich zeigen, ob sich nur in den Marketingabteilungen der Modeindustrie etwas tun wird, oder auch entlang der Lieferkette. 

Quellen:

  • Kleiderläden vor der großen Rabattschlacht
  • Textil Wirtschaft 15, 9.04.2020, S. 12
  • Abandoned?, The Impact of Covid-19 on Workers and Businesses at the Bottom of Global Garment Supply Chains, CGWR, March 27, 2020 (updated April 1, 2020)

Titelbild: Pim Chu/Unsplash

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