„Es ist wichtig, dass Menschen mit Behinderung als Zielgruppe wahrgenommen werden”

Es kann für Menschen mit Behinderungen schwierig sein, Kleidung zu finden, die sowohl ihrem Stil, als auch ihren Bedürfnissen entspricht. Im Interview erklärt uns die Modedesignerin Anna Flemmer, welche Verantwortung Designer*innen tragen und wie wichtig barrierefreie, inklusive Mode ist. Für alle.

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Welche Schwierigkeiten haben Menschen mit Behinderungen im Alltag und was ist ihnen in Sachen Mode besonders wichtig? Wie designen wir Kleidung, die nicht nur modisch ist, sondern auch die soziale Vielfalt widerspiegelt? Darüber haben wir mit der Modedesignerin und Beraterin Anna Flemmer gesprochen. Im Interview erzählt sie uns außerdem von ihren Erfahrungen und warum es essenziell ist, Barrierefreiheit und Inklusion zu differenzieren.

Anna, dein Fokus liegt auf Barrierefreiheit. Wie kam es dazu?

Anna Flemmer: „Ich kam damals – komplett desillusioniert – von einem sechsmonatigen Praktikum bei einer dänischen Designerin zurück nach Deutschland. Da gab es viel Textilmüll, wenig Kreativität, keinen Support. Und obwohl Mode weiterhin meine große Leidenschaft war, brauchte ich einen Ausgleich. Auf Empfehlung meiner Schwester, die Heilerziehungspflegerin ist, meldete ich mich bei der Lebenshilfe und lernte Sophie kennen. Sie war damals 14 und ist im jungen Alter an Kinderdemenz erkrankt, wodurch sie erblindet ist. Wir haben uns regelmäßig getroffen – zum Backen oder Kinderturnen. Beim Umziehen ist mir aufgefallen, dass sie ihre Kleidung manchmal falsch herum anzog. Darüber hat sich sehr geärgert. Und als Modedesignerin dachte ich: Was kann ich verbessern, um ihr mehr Eigenständigkeit zu ermöglichen?” 

Und so hast du deine Bachelorarbeit dem Thema Barrierefreiheit gewidmet?

„Genau. Ich habe mir in Hannover eine WG gesucht, wo Menschen mit Sehbeeinträchtigung wohnten. Zusammen haben wir die Bachelorkollektion entwickelt. Ich habe Stoffe mitgebracht, Interviews geführt und eine Bedarfsanalyse gemacht. Manche hatten wirklich Probleme damit, rechts und links zu unterscheiden beziehungsweise vorn und hinten.

Was ist barrierefreie Mode?

Barrierefreies Design bedeutet Mode zu erschaffen, die von der Mehrheit der Menschen, einschließlich Menschen mit Behinderungen, genutzt werden kann und soll. Ziel ist es, so viele Barrieren wie möglich zu beseitigen. Menschen mit körperlichen Behinderungen sollen sich nicht anpassen müssen – ihre Umgebung und Kleidung wird an sie angepasst. 

Und so kann barrierefreie Mode z. B. aussehen: 

  • sich selbst erklärende Art und Weise, das Kleidungsstück an- und auszuziehen (z. B. durch die Schnittführung)
  • weiche und angenehme Materialien, die gut und angenehm auf der Haut liegen

Welches Feedback bekommst du von den Menschen, mit denen du zusammenarbeitest?

Für sie ist es wichtig, dass die Branche sie endlich sichtbar macht – als Zielgruppe. Sie wünschen sich mehr Selbstbestimmung und Eigenständigkeit. Ich verfolge zum Beispiel ein inklusives Konzept: Ich entscheide nicht für sie, sondern mit ihnen. Ich frage ganz bewusst: Was braucht ihr? Was sind die Probleme, denen ihr beim Shoppen begegnet? Wie unterscheidet ihr Farben? Sind Farben euch überhaupt wichtig? Designer*innen sollten Menschen mit Behinderungen als Expert*innen einbeziehen, ganz aktiv. Nur ein solches inklusives Konzept ermöglicht Teilhabe. Und nur so kann man gemeinsam barrierefreie Mode und Hilfsmittel entwickeln.”

Welche Probleme gibt es denn zum Beispiel beim Shoppen?

„Ein wichtiges Thema: Orientierung im Store. Da haben mir einige erzählt, dass sie gar nicht wissen, wo, was hängt. Es gibt selten eine Ecke nur für Hosen und eine andere Ecke nur für Shirts – meistens hängen die Kleidungsstücke nach Kollektion. Das hat ja auch seinen Sinn, aber für Menschen mit Sehbeeinträchtigung ist es schwierig, sich zurechtzufinden, wenn die Teile so gemischt sind.”

„Mir ist es wichtig, an Designer*innen zu appellieren, denn das sind die Menschen, die wirklich etwas verändern können.”

Hat sich in den letzten Jahren im Hinblick auf Barrierefreiheit und Inklusion etwas verändert?

„Nicht wirklich. Es gibt durchaus kleinere Labels, die Mode für Menschen mit Behinderung designen und herstellen, aber bei großen Modehäusern erlebe ich das eher selten. Und wenn das Thema dann doch mal aufgegriffen wird, dann durch einmalige, spezielle Drops. Das ist nicht konsequent genug. Zwar gibt es auch mehr Kampagnen mit Menschen mit Beeinträchtigungen, aber das gleicht in vielen Fällen Social Washing. Es reicht nicht, Diversitätstrends hinterherzujagen und sich als Marke selbst darzustellen.”

Was würdest du dir in diesem Zusammenhang wünschen?

„Ich wünsche mir, dass die großen Modelabels Menschen mit Behinderung als Zielgruppe wahrnehmen. Dazu gehört auch, wie bereits erwähnt, dass sie diese als Expert*innen mit an Board holen, sich nach ihren Bedürfnissen erkundigen und insgesamt den Markt analysieren. Allein in Deutschland leben circa 10 Prozent Menschen mit schwerer Behinderung – und das sind nur die mit ständiger Behinderung. Manchmal bricht man sich einen Arm oder hat eine Augen-OP und ist temporär eingeschränkt. Diese Menschen kommen in den Statistiken nicht vor. Barrierefreie Mode ist sinnvoll – für alle. Jede*r profitiert davon, denn man designt schließlich Produkte, die in jeder Lebenslage barrierefrei und inklusiv sind. Es gibt keine Nachteile.” 

Warum ist es so wichtig, dass Labels mit Expert*innen sprechen?

„Man kann auch als sehende oder nicht behinderte Person Produkte designen, die für Menschen mit Behinderungen gedacht sind. Aber das finde ich nicht authentisch und vor allem – es bringt nichts, denn man designt an den Bedürfnissen vorbei. Die Menschen, mit denen ich geredet habe, möchten einbezogen werden. Es ist ihnen sehr wichtig, dass wir gemeinsam Aufmerksamkeit und Sensibilisierung für das Thema schaffen. 

Und das ist auch der Unterschied: Barrierefreiheit bedeutet nicht automatisch, dass man die Leute einbezieht, die andere Bedürfnisse haben. Inklusion aber bedeutet, dass wir gemeinsam nach Lösungen suchen, dass alle auf Augenhöhe dabei sind und dabei sein können. Jede*r hat seine*ihre Berechtigung und ist wesentlicher Teil des Projekts.”

„Barrierefreie Mode ist sinnvoll – für alle."

Wie beziehst du Menschen mit Behinderung in deinen Designprozess?

Ich habe kein eigenes Label gegründet, sondern arbeite als Speakerin, Projektleiterin und Beraterin für andere Labels. Dadurch, dass ich diese Art von Dienstleistung anbiete, habe ich Zugriff auf ein Netzwerk von unterschiedlichen Menschen, mit denen ich regelmäßig in Kontakt bin. Wenn ich selbst Mode produzieren und verkaufen würde, wäre die Beziehung zu diesen Menschen anders – da müsste ich wirtschaftlicher denken.

Es ist mir aber wichtig, dass wir uns auf einer freundschaftlichen Ebene begegnen und nicht auf einer Business-Ebene. Ich lerne die Leute über Veranstaltungen zum Thema Blindheit kennen oder schreibe Vereine an und organisiere Feedbackrunden. Manche Leute sind skeptisch und kommen nur dazu, um mir mitzuteilen, dass sie keine spezielle Blindenmode benötigen. Ich erkläre dann, dass ich genau deswegen den Kontakt suche – damit ich lernen kann, um es besser zu machen. Viele lerne ich auch durch ehrenamtliches Engagement kennen. Man erfährt das meiste, wenn man die Leute im Alltag begleitet.”

Du meintest vorhin, barrierefreie Mode sei für alle sinnvoll. Arbeitest du auch mit Pflegepersonal zusammen? Wie erleichtert barrierefreie Mode ihren Alltag?

„Ich habe tatsächlich auch Kontakt zu Pflegepersonal, vor allem schon deswegen, weil einige meiner Familienmitglieder Heilerziehungspfleger*innen sind. Ich selbst begleite ja auch schon längere Zeit Menschen mit Behinderung in ihrem Alltag. Ich denke, es geht vielen Pfleger*innen ähnlich wie mir. Wenn Kleidung unkompliziert ist, sprich: von allen Seiten tragbar, können Menschen diese auch selbst anziehen, wenn sie dazu in der Lage sind – also, auch ohne Hilfe vom Pflegepersonal. Pfleger*innen können Menschen, die in ihrer Bewegung eingeschränkt sind, zudem viel einfacher anziehen, ohne ihnen dabei wehzutun oder sonstige unangenehme Situationen zu schaffen, die alle frustriert.”

Du beschäftigst dich gerade auch mit 3D-Druck. Wie können wir uns das vorstellen?

„Ich arbeite gerade an einem Projekt, bei dem wir Lern- beziehungsweise Hilfsmaterial in Form von Tastkarten entwickeln. Ein Mensch mit angeborener Blindheit kann sich zum Beispiel kein Bild davon machen, wie ein Camouflage- oder Punktemuster aussieht. Diese Karten sollen dabei helfen – wir machen klassische Stoffmuster sozusagen fühlbar. Anhand vom 3D-Druck legen wir verschiedene Ebenen an, wie eine Art Relief. Blinde Menschen können die Strukturen fühlen und sich ein Bild machen, wie das Muster aussehen könnte. Es geht darum, ein Erlebnis zu schaffen.

Es wäre schön, wenn diese Karten es bis in die Geschäfte schaffen. Man könnte eine Box mit den zehn wichtigsten, klassischen Mustern bereitstellen, damit sich sehbeeinträchtigte Menschen einen Eindruck machen können. Auch bei Onlinebestellungen könnte man solche Lernschildchen mitliefern. Die Tastkarten sollen auch als Lernmaterial an Schulen dienen, wobei es hier nicht nur um das Gefühl geht, sondern auch um die Bedeutung von Mustern. Camouflage hat zum Beispiel eine andere Bedeutung als das Punktemuster.” 

Was würdest du unseren Leser*innen gerne noch mit auf den Weg geben?

Mir ist es wichtig, an Designer*innen zu appellieren, denn das sind die Menschen, die wirklich etwas verändern können. Viele scheuen sich vor dem Thema oder haben gar Angst davor. Dabei würden wir alle von barrierefreier Mode profitieren.”

Danke für das spannende Interview, Anna.

Nach ihrer Ausbildung zur Maßschneiderin studierte Anna Flemmer ein Modedesign an der Hochschule Hannover. Währenddessen arbeitete sie im Ehrenamt bei der Lebenshilfe und lernte dort die blinde Sophie kennen. Diese Begegnung hat sie privat wie beruflich stark beeinflusst und in ihrem Wunsch bekräftigt, innovative Mode mit einem gesellschaftlichen Engagement zu verbinden. Blindheit wurde zum Thema ihrer mehrfach preisgekrönten Bachelorarbeit SAME:SAME. Zusammen mit einem Team aus Blinden und Menschen mit starker Seheinschränkung entwickelte sie verschiedene Designlösungen, um ihnen den Umgang mit Mode zu erleichtern. Anna gibt ihr Wissen in Workshops, Impulsvorträge, Beratungen und inklusiven Designkonzepte weiter.

Barrierefreiheit, Inklusion & Design

Du willst mehr zu dem barrierefreie Mode Thema wissen? Dann bist du bei uns richtig. Denn: Unsere Interviewpartnerin Anna Flemmer wird auf der Fashion Changers Konferenz 2022 einen Impulsvortrag zum Thema halten. Dabei beantwortet sie folgende Fragen: Wie kann gutes Design dazu beitragen, Barrieren in der Mode loszuwerden und wird das in der eigenen Kollektion zur Realität? Wo fangen Modelabels an, die Barrierefreiheit nicht bereits von Beginn an im Business-Konzept bedacht haben? Und welche Strategien helfen dabei, langfristig dazu beizutragen, Mode inklusiver zu denken?

Mehr Infos zu unseren Speaker*innen findest du hier.

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