Rana Plaza, 11 Jahre später: Der Kampf für bessere Arbeitsbedingungen in Bangladesch geht weiter

Am 24. April 2013 stürzte das neunstöckige Rana-Plaza-Gebäude ein, bei dem 1.134 Menschen starben und 2.500 verletzt wurden. 11 Jahre nach Rana Plaza hat sich vieles verändert: Durch den Bangladesh-Accord haben sich viele Sicherheitsbedingungen vor Ort verbessert, auch der Mindestlohn wurde erhöht. Nun soll eine Unfallversicherung Arbeitnehmer*innen vor Armut schützen.

Rana Plaza, elf Jahre später: Auf dem Fotos sind Tithi Afrin (National Garment Workers Federation) und Shahinur Rahman (Berater zu Arbeitsrechten) abgebildet. Tithi trägt einen rosafarbenen Sari, Shahin ein blau gemustertes Hemd.

Als wir Tithi Afrin (National Garment Workers Federation) und Shahinur Rahman (Berater zu Arbeitsrechten) in einem Vorlesesaal einer Berliner Hochschule treffen, sind sie schon durch ganz Deutschland gereist. Jeden Tag sind sie gemeinsam mit FEMNET e.V. in einer anderen Stadt, um elf Jahre nach dem Rana Plaza-Einsturz über die Arbeitsbedingungen in der Textil- und Bekleidungsindustrie in Bangladesch aufzuklären und von ihrem Kampf für bessere Arbeitsrechte zu erzählen. Mit im Gepäck: eine Unfallversicherung, die bangladeschische Arbeitnehmer*innen und ihre Familien vor Armut schützen soll.

Fashion Changers: In Bangladesch wurde der Mindestlohn auf 12.500 Taka (circa 106 Euro) erhöht; Textilarbeiter*innen und Gewerkschaften forderten mit 23.000 Taka (circa 196 Euro) einen weitaus höheren Mindestlohn. Es kam zu zahlreichen Protesten und Unruhen im Land. Wie ist die aktuelle Lage?

Shahinur Rahman: „Viele der Fabriken haben den neuen Mindestlohn schon eingeführt, viele aber auch noch nicht.Die meisten Hersteller haben ihre Aufträge bereits vor längerer Zeit platziert und müssen jetzt mehr zahlen. Die Fabriken passen deswegen ihre Kosten an, viele bauen Personal ab, weshalb die Arbeitsbelastung zunimmt. Zugleich werden die Überstunden reduziert, sodass die Produktionsziele innerhalb der regulären Arbeitszeiten erreicht werden müssen. Normalerweise werden die Überstunden als fester Teil des Gesamteinkommens berechnet. Dieser Teil fällt nun für viele Arbeitnehmer*innen weg. Hinzu kommt, dass es nun fünf statt sieben Gehaltsstufen gibt und es ist oft noch unklar, wer in welche Gehaltsstufe fällt. Es kann also sein, dass einige Arbeitnehmer*innen mehr, andere weniger verdienen.“

Fashion Changers: Es heißt, dass die Mindestlohnerhöhung aufgrund der Inflation viel zu niedrig sei.

Shahinur Rahman:Inflation oder Mieterhöhungen, die in vielen Stadtteilen geplant sind, verringern den realen Lohn natürlich. Wir müssen beobachten, inwiefern der erhöhte Mindestlohn die Lebenssituation der Arbeitnehmer*innen wirklich langfristig verbessern wird.“

Die Textil- und Bekleidungsindustrie in Bangladesch: 11 Jahre nach Rana Plaza

Zusammen mit Kambodscha, Pakistan und Vietnam steht Bangladesch für etwa 18 Prozent der weltweiten Bekleidungsexporte, mit rund 10.000 Bekleidungs- und Schuhfabriken und etwa elf Millionen Beschäftigten. In Bangladesch selbst arbeiten knapp 4,4 Millionen Menschen in der Textilbranche – davon überwiegend Frauen. Mit mehr als 3.500 Fabriken und einer Vielzahl von Marken, die ihre Kleidung dort fertigen lassen, gehört die Textilbranche zu den wichtigsten Wirtschaftszweigen Bangladeschs. Das Land gilt als einer der größten Produzenten von Textilien und als zweitgrößter Exporteur von Bekleidung, auch wegen der niedrigen Löhne.

Am 24. April 2013 stürzte das neunstöckige Rana-Plaza-Gebäude ein, bei dem 1.134 Menschen starben und 2.500 verletzt wurden. Dort produzierten unter anderem Primark, Mango, Benetton, Zara, Adler und Kik. Die Produktionsstätte war vom TÜV Rheinland geprüft; Gebäudesicherheit war kein Teil der Auditierung. Zwei Jahre lang dauerte es, bis ein Kompensationsabkommen in Höhe von 30 Millionen US-Dollar zustande kam. Die Sicherheitsbedingungen in den Fabriken haben sich durch das Internationale Abkommen für Gesundheit und Sicherheit – auch Bangladesh Accord genannt – nachweislich verbessert. 38 Menschen müssen sich vor Gericht wegen Mordes verantworten, darunter auch der Fabrikbesitzer von Rana Plaza. Ein Gerichtsurteil gibt es bis heute nicht.

Mit dem im November 2023 beschlossenen neuen Mindestlohn von 12.500 Taka (circa 106 Euro) liegt eine Lohnerhöhung von 56 Prozent vor. Dem Worker Rights Consortium zufolge liegt unter Berücksichtigung der Inflation die reale Erhöhung bei nur 14 Prozent (Quelle: FEMNET e.V.). Der von den Textilarbeiter*innen und den Gewerkschaften geforderte Mindestlohn lag bei 23.000 Taka  (circa 196 Euro). Es kam zu teilweise gewaltsamen Protesten, bei denen mindestens zwei Textilarbeiter*innen getötet, Dutzende verletzt oder wegen ihres Protests angeklagt wurden.

Fashion Changers: Was muss abgesehen von der Lohnsituation verbessert werden?

Tithi Afrin: „Wir müssen die Arbeitsbedingungen für Frauen verbessern. Die Elternzeit muss sechs Monate betragen. Fabrikarbeiter*innen bekommen oft nur vier Monate Elternzeit. Wir wollen einen sicheren und diskriminierungsfreien Arbeitsplatz für Frauen, ohne jegliche Art von Belästigung. Zusätzlich fordern wir Kindertagesstätten in den Fabriken, damit Frauen ihre Arbeit nicht aufgeben müssen. Und wir brauchen mehr Frauen in Führungspositionen. In unseren Workshops sensibilisieren wir Frauen für ihre Rechte und ermutigen sie, diese Rechte gegenüber ihren Arbeitgebern einzufordern.“

Die Hälfte aller Anträge für Gewerkschaftsregistrierungen werden abgelehnt – oft ohne Angabe von rechtlich wirksamen Gründen.

Fashion Changers: Wie steht es um das Recht auf Vereinigungsfreiheit in Bangladesch seit dem Einsturz von Rana Plaza vor elf Jahren? Ist es einfacher geworden, sich gewerkschaftlich zu organisieren?

Shahinur Rahman:Vieles hat sich verbessert, wie die Gebäudesicherheit. Aber sich zu organisieren und mit Gewerkschaften zusammenzuarbeiten, ist immer noch sehr herausfordernd und komplex. Wenn jemand eine Gewerkschaft gründen möchte, muss diese von mindestens 20 Prozent der Beschäftigten des Betriebs unterstützt werden. Viele der Arbeiter*innen sind Analphabet*innen, was es schwierig macht, Anträge zu stellen oder dafür Unterstützung zu bekommen. Das ist eine große Hürde. Laut IndustriALL werden die Hälfte aller Anträge für Gewerkschaftsregistrierungen abgelehnt – oft ohne Angabe von rechtlich wirksamen Gründen. Wenn Arbeitnehmer*innen sich nicht gewerkschaftlich organisieren können oder wollen, sollten sie die Möglichkeit haben, sich in Ausschüssen einzubringen. Doch diese unternehmensinternen Ausschüsse funktionieren oft nicht gut, die Machtstrukturen verhindern einen offenen Dialog und es gibt kaum Beschwerden. Hier ist auffällig, dass Marken nicht das Gespräch mit lokalen Gewerkschaften suchen, wenn Arbeitsrechtsverletzungen vorliegen – viele kennen gar keine Gewerkschaften. Dabei könnten sie doch ihren Einfluss und ihre Ressourcen dafür nutzen, um die Vertretungen und Rechte von Arbeitnehmer*innen zu stärken.“

Fashion Changers: Ihr habt schon erwähnt, dass sich die Gebäudesicherheit nach Rana Plaza verbessert hat. Trotzdem lassen sich Arbeitsunfälle nicht immer vermeiden. Das Pilotprojekt „Employment Injury Scheme” will eine universelle und umfassende Versicherung gegen Arbeitsunfälle in Bangladesch einführen. Was genau hat es damit auf sich?

Shahinur Rahman: „EIS ist eine positive Initiative für den Bekleidungssektor in Bangladesch. Mit dem Internationalen Abkommen für Gesundheit und Sicherheit – dem Bangladesch Accord – wurde der präventive Sicherheitsschutz in den Fabriken erhöht. Mit EIS sollen nun Arbeitnehmer*innen geschützt werden, wenn sie Unfälle haben. Arbeitnehmer*innen bekommen über die Versicherung eine dauerhafte, monatliche Entschädigung ausgezahlt, die sich an ihrem Einkommen orientiert. Durch EIS werden die Pauschalentschädigungen aufgestockt, sodass die Leistungen bei Arbeitsunfällen den ILO-Standard 121 erfüllen. Auch für Marken ist die Arbeitsunfallversicherung ein großer Vorteil, weil Bangladesch damit internationale Standards erfüllt und sie somit ihren Sorgfaltspflichten nachkommen.“

Employment Injury Scheme (EIS) – Wie genau funktioniert die Unfallversicherung in Bangladesch?

Das Abkommen für Brandschutz und Gebäudesicherheit hat die Sicherheitsvorkehrungen am Arbeitsplatz nachweislich verbessert. Arbeitsunfälle sind trotzdem nicht unvermeidbar. Deshalb braucht es im Falle von Arbeitsunfähigkeit oder Todesfällen finanzielle Absicherungen für verletzte Arbeitnehmer*innen oder ihre Hinterbliebenen. Aktuell sieht die Gesetzeslage in Bangladesch für Arbeitsunfälle pauschale Entschädigungszahlungen vor, die nicht die Anforderungen internationaler Standards erfüllen, wie das Übereinkommen 121  der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) über Leistungen bei Berufsunfällen.

Vor diesem Hintergrund haben die ILO und die Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GIZ) das Pilotprojekt „Employment Injury Scheme” (EIS) ins Leben gerufen. Im Rahmen von EIS werden Daten zu Arbeitsunfällen, Berufskrankheiten und Rehabilitation erhoben, um so die Finanzierbarkeit einer umfassenden Arbeitsunfallversicherung durch Arbeitgeberbeiträge nachzuweisen.

Im Pilotprojekt werden über einen von der ILO verwalteten Fonds monatliche Kompensationszahlungen an berufsunfähige Personen oder Angehörige verstorbener Arbeiter*innen ausgezahlt.

Finanziert wird der Fonds aktuell durch internationale Hersteller wie C&A, H&M, Primark, Amazon, Tchibo, KiK und Puma, die 0,019% ihres jährlichen Exportvolumens aus Bangladesch einzahlen.

Erklärtes Ziel ist es, bis spätestens 2026 eine arbeitgeberfinanzierte und dauerhaft gesetzliche Unfallversicherung in Bangladesch einzuführen. Die Gesamtkosten des Entschädigungssystems sollen von allen Arbeitgeber*innen gemeinsam im Voraus in einen Fonds eingezahlt werden.

Die NGO FEMNET e.V. unterstützt EIS seit 2023 bei der Umsetzung in Zusammenarbeit mit dem bangladeschischen Arbeitsministerium sowie den Vertreter*innen der Arbeitgeber*innen sowie Arbeitnehmer*innen.

Die Unfallversicherung kann nur dann erfolgreich sein, wenn sich alle Stakeholder involvieren.

Fashion Changers: Wie finanziert sich der EIS-Entschädigungsfonds?

Tithi Afrin: „Derzeit finanzieren ungefähr 42 Marken den Fonds. Das ist ein guter Anfang und wir hoffen, dass mehr Marken folgen. Da sie nur 0,019% ihres jährlichen Exportvolumens aus Bangladesch in den Fonds einzahlen, kostet es Brands aktuell nicht viel, um sich bei EIS zu beteiligen. Nach dem Pilotprojekt müssen die Arbeitgeber*innen in den Fonds einzahlen. Das werden wahrscheinlich um die  0,3 Prozent des Lohns der Arbeitnehmer*innen sein.“

Fashion Changers: Arbeitnehmer*innen müssen über ihre Rechte informiert werden, um Entschädigungen zu beantragen. Wie macht ihr das im Rahmen von EIS?”

Tithi Afrin:Wir bieten regelmäßig Workshops an. Bisher haben um die 1000 Arbeitnehmer*innen an den EIS-Workshops teilgenommen. Wir erklären ihnen zum Beispiel, welche Dokumente sie für die Unfallversicherung benötigen, wie die letzten Gehaltsabrechnungen. Oder dass sie ihre Familien darüber informieren, damit diese die Entschädigungsleistungen im Todesfall in Anspruch nehmen können. Wir wollen alle Informationen verständlich bereitstellen und die Vorteile deutlich machen. Am Ende soll die Unfallversicherung auch verhindern, dass Arbeitnehmer*innen lange Gerichtsverfahren durchlaufen müssen. Damit EIS erfolgreich wird, müssen alle Stakeholder involviert werden.“

Danke für das Gespräch und vielen Dank für eure Arbeit!

Fotos (c) FEMNET e.V.

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