In diesem Deep Dive zum Thema Second Hand und soziale Nachhaltigkeit gibt es Input von:
- Yayra Agbofah, Gründer von The Revival
- Dr. Katia Vladimirova, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Genf
- Britta Kronacher, Marketing Managerin bei Recyclehero
- Ein sozial gerechter Second-Hand-Markt kann nur funktionieren, wenn insgesamt weniger produziert und weniger konsumiert wird.
- Die Menge an Altkleidung, die nach Afrika, Asien und Südamerika exportiert wird, muss abnehmen, damit Kleinunternehmer*innen vor Ort geschützt werden. Europäische Sammler und Sortierer müssen daher – lokal und regional – dringend in mehr Faser-zu-Faser-Recycling investieren, damit die Mehrheit der Altkleider gar nicht erst exportiert werden muss.
- Damit der globale Wiederverkaufsmarkt und der dazugehörende Second Hand Markt sozial gerechter wird, ist politische Intervention gefragt. Altkleidung wird immer exportiert werden, aber es müssen gesetzlich sehr hohe Standards dafür gesetzt werden, welche Art von Kleidung in andere Länder exportiert werden kann und darf.
Die Mengen an Second Hand Kleidung werden in den kommenden Jahren zunehmen – dabei gibt es jetzt schon genug Altkleidung. Welche Folgen werden diese neuen, kaum überschaubaren Mengen an Kleidung in Zukunft haben? Wie gehen lokale Communitys im Globalen Süden damit um, in denen ein Großteil der Secondhand Kleidung landet?
Gespendete Kleidung wird kaum in Deutschland angeboten
In Deutschland dominieren die Entsorgungsunternehmen den Second-Hand-Markt, erklärt Britta Kronacher, Marketing Managerin bei Recyclehero, einem Hamburger Sammler für Altkleidung, Altpapier, Altglas und Pfand. Altkleider werden seit jeher als Kleiderspende „vermarktet”. „So können wir Menschen unseren Konsum damit entschuldigen, dass wir Bedürftigen am Ende etwas Gutes damit tun”, meint sie. Was passiert aber letztlich mit den gesammelten Altkleidern? „Die werden erst gar nicht in Deutschland angeboten.”
In Deutschland werden tatsächlich nur jeweils zehn Prozent der Altkleidung an Bedürftige weitergegeben oder in Second Hand Läden weiterverkauft. Fast die Hälfte der Secondhand Kleidung, die wir in Deutschland aussortieren, wird ins Ausland exportiert; etwa 15 bis 19 Prozent werden recycelt.
Ein Rebranding des Secondhand Markts führte in den letzten Jahren allerdings auch zu mehr Secondhand Läden in Deutschland. „Vor allem in Großstädten ist der Trend zum Individualismus erkennbar. Menschen möchten ihren eigenen Stil fernab der Fast-Fashion-Kollektionen gestalten”, erklärt Kronacher. „Die meisten Läden bieten aber fast ausschließlich Vintage-Kleidung an und diese ist im Vergleich zu Neuware oft teuer und wird meist aus dem Ausland dazu gekauft. Der Secondhand Anbieter Vino Kilo macht daraus kein Geheimnis. Die Altkleider, die Menschen hier vor Ort aussortieren, findet man selten auf dem deutschen Markt und wenn, dann am ehesten noch beim Roten Kreuz.” Ob Kleidung und Accessoires als Vintage oder Secondhand gelten, hängt meist vom Alter der Produkte ab. Ein Kleidungsstück gilt als Secondhand, wenn es zuvor mindestens einer anderen Person gehört hat, egal wie alt es ist. Damit ein Produkt nach dem allgemein anerkannten Industriestandard als Vintage gilt, muss es älter sein und aus einer anderen Ära stammen – muss aber nicht zuvor jemand anderem gehört haben.
Recyclehero sammelt seit August 2021 kostenfrei Altkleidung in Hamburg, neben Altglas und Altpapier und Pfand. „Wir hatten keinen Druck, schön kuratierte Kleidung zu finden – davon hatten wir genug. Unser Problem war, den Rest, der nicht so schön ist, loszuwerden”, berichtet Kronacher. Inzwischen hat Recyclehero mit 2nd Fit einen Partner gefunden, der ihnen die gesammelten Altkleider komplett abnimmt, auch (Ultra) Fast Fashion. Ein Konzept, das es nicht häufig in Deutschland gibt, erklärt Britta Kronacher. „Davor haben wir mit vielen kleineren Händler*innen zusammengearbeitet, die meist nur ,Creme‘-Ware haben wollten, also Ware in sehr gutem Zustand.” Kronacher hofft, dass sich der Recommerce-Markt in Deutschland entwickelt, damit weniger Altkleidung ins Ausland verkauft und exportiert wird.
Wo Recyclehero die Altkleidung abgibt
„Die Qualität der Spenden wird abnehmen, die Menge dagegen zu”, berichtet Britta Kronacher. Was macht die Gesellschaft mit Kleidung, die zu viel ist, die nicht weiter verkauft werden kann? Wo landet sie? Wie lange kursiert ein Produkt auf dem deutschen oder europäischen Second Hand Markt, bis es schließlich entsorgt wird?
„Tatsächlich wurde uns bestätigt, dass die Qualität der von uns gesammelten Altkleider besser ist als der Durchschnitt”, erklärt Kronacher. Das Team vermutet, dass es daran liegt, dass die Altkleider persönlich abgeholt werden. „Zudem geben wir genau an, welche Alttextilien wir annehmen – also noch tragbare Kleidung.”
Recyclehero gibt die Kleidung nach Sammlung vollständig an das Familienunternehmen 2nd Fit ab. Dort wird die Kleidung nach Jahreszeit und Art sortiert. Geringe Mengen an textilem Abfall werden entsorgt und zur thermischen Verwertung der Stadtreinigung übergeben. Alle anderen Kleidungsstücke, auch die mit kleineren Mängeln, werden im Second Hand Laden zum täglich sinkenden Kilopreis angeboten. Nach jeweils drei Wochen wird dort das komplette Sortiment einmal gewechselt. In der letzten Angebotswoche gibt es feste Stückpreise; am letzten Tag, an welchem dann auch der Sortimentswechsel stattfindet, kann der Preis von den Käufer*innen selbst bestimmt werden – 50 Prozent der Einnahmen an diesem Tag gehen an soziale Projekte.
„Im Anschluss bekommt Hanseatic Help e.V. vom Sortimentswechsel die Stücke, die aktuell bei ihnen für die Einrichtungen und die eigenen Stores benötigt werden”, so Kronacher. Die restlichen Teile gehen an weitere Second Hand Läden des Unternehmens 2nd Fit im europäischen Ausland. Im Gegenzug bekommt 2nd Fit ebenfalls Kleidung von den anderen Secondhand Läden. „Darüber hinaus arbeitet 2nd Fit mit verschiedenen Upcyclern zusammen. Ziel ist es, die Kleidung möglichst häufig und regional anzubieten, bevor sie dann je nach Eignung und Zustand entweder in die thermische Verwertung gehen muss oder auf dem internationalen Markt angeboten wird.”
Überschaubare Lieferketten am globalen Wiederverkaufsmarkt sind eine Seltenheit
Britta Kronacher erzählt hier von einer eher überschaubaren Lieferkette, die wohl eine der wenigen Ausnahmen darstellt im globalen Recommerce-Markt. Der Großteil unserer Altkleidung – auch die, die wir spenden – landet nämlich in Afrika, Asien und Südamerika, und das oftmals auf langen Umwegen.
„Wohltätigkeitsorganisationen sind keine Sortierer“, erklärt Dr. Katia Vladimirova, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Genf. „Sie haben nicht die Kapazitäten, um mehrere Tonnen gespendete Kleidung durchzugehen. Ihre Kernaktivität ist ausschließlich auf wohltätige Zwecke ausgerichtet.“ Deshalb wird knapp die Hälfte der Spenden an gewerbliche Wiederverkäufer wie Texaid oder Soex weiterverkauft, die Recycling versprechen – die Realität sieht jedoch anders aus: In Wahrheit kümmern sich gewerbliche Wiederverkäufer nur oberflächlich um gespendete Kleidung.
Gewerbliche Wiederverkäufer gehen ineffizient mit Altkleidung um
Dr. Vladimirova hat nicht nur aus erster Hand erfahren, wie unwirksam der globale Recommerce-Markt ist. Im Interview erzählt sie von einer Reportage aus der Schweiz, die erst kürzlich Wellen geschlagen hat, und veranschaulicht, wie ineffizient kommerzielle Wiederverkäufer mit Altkleidung handeln.
Schweizer Journalist*innen haben Anfang 2022 Geo-Lokalisierungssysteme sorgfältig in Kleidung und Schuhen versteckt und diese anschließend in verschiedenen Altkleidungcontainern in der Schweiz abgegeben. Die Reportage zeigt: Unabhängig davon, wo die Kleidung abgegeben wird, läuft sie früher oder später in den meisten Fällen über kommerzielle Wiederverkäufer wie Soex in Deutschland, Seatex in Belgien oder Soltex in Polen. „Solche Großhändler geben vor, Kleidung zu recyceln. Doch der Großteil der Kleidung wird früher oder später auf Umwegen nach Afrika, Asien und Südamerika exportiert“, erklärt Dr. Vladimirova. Die Journalist*innen fanden zudem heraus, dass auch die Produkte mit irreparablen Schäden exportiert werden und das, obwohl Marktführer wie Soex scheinbar eine „Null-Abfall-Philosophie“ verfolgen und auf ihrer Webseite versprechen, dass sie „akribisch“ sortieren und jedes Produkt manuell überprüfen.
Die Ergebnisse sind erstaunlich: Manche Kleidung legte eine Strecke von mehr als 17.000 Kilometer zurück, um auf Märkten in Moldawien oder Afghanistan verkauft zu werden oder auf offenen Deponien zu landen. Für jedes aussortierte Kleidungsstück oder jeden aussortierten Schuh werden durchschnittlich 6.200 Kilometer per Lkw oder Boot zurückgelegt.
Second Hand fähige Kleidung wandert zwischen Europa und Afrika hin- und her
Durch ihre investigative Recherche fanden die Schweizer Journalist*innen heraus, dass die Reise bei beinahe der Hälfte der getrackten Kleidungsstücke in Osteuropa (Moldawien, Belarus oder Ukraine) endet. Die Ergebnisse der anderen Hälfte sind ebenso interessant: Standort-Chips zeigen ihre Position in Asien oder Südamerika an, insbesondere in Afghanistan und Venezuela. Etwas mehr als 20 Prozent der untersuchten Produkte landen in Afrika (Côte d’Ivoire, Malawi, Mali). Einzig ein Anzug blieb in der Schweiz, um in einem Second Hand Geschäft weiterverkauft zu werden, genauso wie ein zweiter in Italien.
Besonders beeindruckend: Eines der Kleidungsstücke reiste von Lager zu Lager quer durch Osteuropa nach Ungarn, bevor es Belgien erreichte. Ab da stoppte der Chip die Geo-Lokalisierung für mehrere Wochen. Einen Monat später tauchte er dann in Togo wieder auf. Das Kleidungsstück durchquerte also mehrere afrikanische Länder, um in einem Dorf im Herzen der Côte d’Ivoire zu enden.
Nachverfolgungssysteme wie diese zeigen, dass die Kleidung regelmäßig zwischen Lagern in Afrika und Europa hin und her wandert. Diese Lager gehören Zwischenhändlern, die auf die Sortierung von Second Hand Kleidung spezialisiert sind. Ein Pullover zum Beispiel gelang per Lkw nach Belgien, dann per Boot zu einem Lager in Tunesien, bevor er einige Wochen später zum Hafen von Rotterdam in den Niederlanden zurückkehrte, um wieder nach Afrika exportiert zu werden.
Europäischer Textilmüll unterwegs in Afrika
Laut der gemeinnützigen Organisation Oxfam landen schätzungsweise 70 Prozent der in Europa gespendeten Kleider in Afrika. Doch wie Dr. Vladimirova erklärt, sollten wir nicht Wohltätigkeitsorganisationen die Schuld an diesem Dilemma geben: Es sei schließlich nicht ihre Kernaufgabe, unsere Altkleidung zu sortieren. „Wohltätigkeitsorganisationen müssen die Mehrheit der gespendeten Kleidung an gewerbliche Sortierer und Wiederverkäufer verkaufen.“ Und diese genießen eine große Marktmacht, weil es so wenige von ihnen gibt.
Mögliche Second Hand Kleidung und Textilmüll wird an Kleinunternehmer*innen verkauft
„Ein großes Problem von den Ballen, die von gewerblichen Wiederverkäufern exportiert werden, ist, dass sie Kleidung von minderwertiger Qualität enthalten sowie beschädigte, fleckige und löchrige Ware“, so Dr. Vladimirova. „Und jene Textilballen werden an Kleinunternehmer*innen in Afrika, Asien und Südamerika verkauft.“ Von einem moralischen Standpunkt betrachtet sei dies inakzeptabel.
Wenn Länder ihren Plastik- oder Elektroschrottmüll exportieren, wird das Empfängerland in der Regel dafür bezahlt, dass es sich um den Abfall eines anderen Landes kümmert. Doch aufgrund der fehlenden beziehungsweise mehrdeutigen Gesetzgebung – in Europa und weltweit – ist die Situation bei Textilien umgekehrt. „Hier zahlen die Menschen vor Ort – in der Regel Kleinunternehmer*innen – viel Geld für unsere Kleidung – unseren Textilmüll, und nehmen dafür sogar Schulden auf.“
Länder wie Ruanda haben mittlerweile den Import von gebrauchter Kleidung verboten, um lokale Produzent*innen zu schützen. Kenia gehört jedoch weiterhin zu einem der größten Importeure von Secondhand Kleidung in Afrika und importierte vor der Pandemie im Jahr 2019 rund 185.000 Tonnen.
Die EU will den Export von Textilmüll regulieren
Der Kommissionsvorschlag für neue EU-Vorschriften zur Abfallverbringung wird den Export von Textilabfällen in Nicht-OECD-Länder nur unter bestimmten Bedingungen zulassen. Die Länder müssen der Kommission mitteilen, dass sie diese Abfälle importieren wollen, und nachweisen, dass sie in der Lage sind, diese nachhaltig zu bewirtschaften. Um zu vermeiden, dass Abfallströme beim Export aus der EU fälschlicherweise als Gebrauchtwaren gekennzeichnet werden, schlägt die Strategie die Entwicklung spezifischer Kriterien auf EU-Ebene vor, um Abfälle richtig zu unterscheiden. Die Kommission wird sich auch für mehr Transparenz und Nachhaltigkeit im weltweiten Handel mit Textilabfällen und Alttextilien einsetzen.
Derzeit gibt es in der EU ein begrenztes Recycling von Textilabfällen, aber auch dies soll sich in Zukunft ändern. Im Einklang mit dem europäischen Grünen Deal und dem Aktionsplan für die Kreislaufwirtschaft plant die Kommission, eine umfassende Textilstrategie zu verabschieden, um den Textilsektor und seine gesamte Wertschöpfungskette auf einen nachhaltigeren und zirkuläreren Weg zu bringen. Diese Strategie wird regulatorische Maßnahmen zur Ausweitung der Recyclingkapazität der EU in Betracht ziehen. Dies sollte zusammen mit laufender Forschung und Investitionen in neue Technologien für das Textilrecycling die Abfallbehandlungsstandards und -praktiken in der EU verbessern.
Die prekäre Arbeitssituation in europäischen Sortierfabriken
Ein Großteil der Altkleidung wird nach Osteuropa – vor allem Bulgarien, Moldawien und Rumänien – exportiert, um dort weiter sortiert zu werden oder auf Mülldeponien zu landen. „Das sind Länder mit weniger strengen Vorschriften, offenen Deponien und sehr niedrigen Löhnen.”
Wie die Situation in Sortieranlagen vor Ort ausschaut, hat die Journalistin Diljana Lambreva im November 2018 dokumentiert. Damals machte die Second Hand Branche in Bulgarien einen Jahresumsatz von 60 Millionen Euro. Die lokalen Händler würden jedes Jahr rund 50.000 Tonnen Textilien verarbeiten. Importiert wird vor allem aus Deutschland, Skandinavien, Italien und der Schweiz. „Partner der bulgarischen Firmen sind unter anderem Textil-Recycling-Firmen wie der Schweizer Textilkonzern Texaid oder das bayerische Entsorgungsunternehmen Lorenz Wittmann GmbH”, heißt es im Artikel.
Im Artikel geht es vor allem um Remix, einem bulgarischen Secondhand Unternehmen, das „ökologische Verantwortung und sozialem Engagement” vereint. So heißt es auch auf einer offiziellen Webseite der Europäischen Union, auf der das Unternehmen im Rahmen der Europäischen Stakeholder-Plattform für die Kreislaufwirtschaft vorgestellt wird. Interessanterweise ist Remix auch Teil von ThredUp, einem US-amerikanischem Recommerce-Händler mit einem Umsatz von knapp 252 Millionen US-Dollar im Jahr 2021.
Lambreva findet in ihrer Recherche heraus, dass die Arbeiter*innen des Unternehmens einerseits weit unter dem bulgarischen Durchschnitt verdienen, andererseits sehr viel Stress ausgesetzt sind. „Es sind immer neue Haufen staubiger Kleider, die ich schnell zuordnen muss”, erklärt ihre Interviewpartnerin im ZEIT-Artikel. „Dabei muss ich sehr gut schauen, ob sich nicht doch ein bisschen Lippenstift oder ein kleines Loch irgendwo versteckt.” Auf unsere Frage nach Updates seit der Veröffentlichung des Artikels erwiderte Lambreva, es sei schwierig an Informationen zu kommen und mit den Arbeiter*innen vor Ort zu sprechen.
Eine neue Studie des Hot or Cool Institute kritisiert den Überkonsum an Mode
Eine neue Studie des gemeinnützigen Think-Tanks Hot or Cool Institute, an der auch Dr. Vladimirova mitforschte, hat den globalen Modekonsum analysiert und stellt fest, dass Praktiken wie Kleiderspenden und Exporte von Secondhand Kleidung Umweltauswirkungen offenbaren, die oft nicht berücksichtigt werden, aber potenziell negativ sind. Die meisten Modekonsument*innen erkennen die nachgelagerten Auswirkungen ihres übermäßigen Konsums nicht. Die Studie hat unter anderem den CO₂-Fußabdruck durch die direkte Entsorgung exportierter Secondhand Kleidung untersucht. In Deutschland sind es beispielsweise 17 Kilogramm CO₂ jährlich pro Person, in den USA sogar 34,5 – also mehr als doppelt so viel.
Der Secondhand Markt für unerwünschte Kleidung aus Ländern mit hohem Einkommen, der von Wohltätigkeitsorganisationen und Secondhand Wiederverkäufern unterstützt wird, ist in den letzten zehn Jahren in einem beispiellosen Tempo gewachsen. Dies ist vor allem auf steigende Exporte in den afrikanischen Kontinent sowie in einige asiatische und lateinamerikanische Länder zurückzuführen. Am Ende ihres Lebens landen große Mengen von hauptsächlich synthetischen Kleidungsstücken auf offenen Mülldeponien, in Wasserstraßen und im offenen Meer und verursachen Umweltschäden. Geografisch betrachtet sind Konsumierende laut besagter Studie in Ländern mit hohem Einkommen von den negativen Auswirkungen ihrer Entscheidungen gut isoliert, was die Verbreitung einer Mentalität der schnellen und wegwerfbaren Mode ermöglicht. Sie konsumieren weiterhin zu viel und unterstützen dabei ein kaputtes, ausbeuterisches System.
Unterdessen hat die hohe Abhängigkeit einiger einkommensschwacher Länder von Modeexporten und das Risiko, die Lebensgrundlagen von Millionen von Arbeitnehmer*innen zu gefährden, dazu geführt, dass politische Dialoge über die Notwendigkeit, den übermäßigen Konsum von Mode in Ländern mit hohem Einkommen zu reduzieren, ins Stocken geraten. Insgesamt fehlt es an politischem Willen, die Nachfragerückgänge und die Auswirkungen auf die Produktion zu untersuchen, die notwendige Voraussetzungen für einen fairen Übergang zu einem nachhaltigen Modesystem sind.
Wie der Markt sozial gerechter gestaltet werden kann
Kleidung über einen längeren Zeitraum in Gebrauch zu halten, ist nicht dasselbe wie Zirkularität. „Secondhandexporteure können den Handel beliebig oft umbenennen, aber wenn sie nicht mit Märkten wie Kantamanto zusammenarbeiten, ist das nur Greenwashing“, meint Liz Ricketts, Direktorin der Or Foundation, im Interview mit Vogue Business. Die Or Foundation ist eine in Ghana ansässige gemeinnützige Organisation, die den Zustrom von Second Hand Kleidung im Land untersucht. Dieser Handel werde als „Wohltätigkeit” oder „Recycling” – mittlerweile sogar als „Kreislauf” vermarktet. Ricketts ist jedoch zunehmend skeptisch. „Kleidung einfach von einem Ort zum anderen zu bewegen, macht sie nicht kreislauffähig.“ (Anm. d. Red.: Dieser Teil wurde aus dem Englischen übersetzt.)
Wenn die Kleidung nicht angemessen gesammelt und wiederholt zu neuer Kleidung recycelt wird, entsteht laut Ricketts kein zirkuläres Modell, sondern ein lineares Modell, mit einem anderen Endpunkt an einem anderen Ende der Welt. Wo diese Kleidungsstücke ursprünglich auf Müllhalden im Westen landeten, landen sie jetzt auf Müllhalden in Afrika.
Laut der Or Foundation sind die steigenden Kosten für Textilballen aus zweiter Hand ein wichtiger Faktor, der sich auf die ghanaische Gemeinschaft auswirkt. Einzelhändler auf dem Kantamanto Market zahlen 120 bis 1000 US-Dollar für den Kauf von 55-Kilogramm-Ballen, die zwischen 50 und 800 Kleidungsstücke enthalten. Einzelhändler müssen mit jedem Ballen ein finanzielles Risiko eingehen, da sie verschimmelte, fleckige oder unverkäufliche Ware nicht zurückgeben können. Eine vorherige Besichtigung des Inhalts ist nicht gestattet. Dies führt dazu, dass viele Einzelhändler Kredite aufnehmen – weniger als 18 Prozent der Einzelhändler erzielen einen Gewinn mit den durchschnittlichen Ballen.
Interessanterweise arbeitet die Or Foundation auch mit dem Ultra-Fast-Fashion-Giganten Shein zusammen, der 15 Millionen US-Dollar an die NGO spenden wird, um das enorme Problem der Kleiderabfälle auf dem Kantamanto-Markt anzugehen. Auf die zahlreiche Kritik, warum die Spende angenommen wurde, meinte Liz Rickett, sie sei nur ihrer eigenen Community rechenschaftspflichtig – das Geld würde schließlich dringend gebraucht werden. Es soll unter anderem helfen, sicherere Arbeitsplätze zu schaffen und ein Faser-zu-Faser-Recycling-Pilotprojekt mit einem ghanaischen Textilhersteller zu launchen.
Wie können Unternehmen dem globalen Problem des Textilmülls kollektiv entgegenwirken?
The Revival, eine in Ghana ansässige NGO, versucht es durch Bildung. Gründer Yayra Agbofah beschäftigt sich seit einigen Jahren mit Textilmüll in seinem Heimatland und hat selbst jahrelang Vintage- und Secondhandschätze auf einem der größten Secondhand Märkte der Welt in Kantamanto gesammelt. Die zunehmend sinkende Qualität machte der lokalen Bevölkerung zu schaffen, denn sie konnte nicht verkauft werden. „Zudem wurde immer mehr Altkleidung importiert, die weder funktional war, wie etwa Winterkleidung, noch dem Stil der ghanaischen Bevölkerung entsprach”, erklärt Agbofah.
Zunehmend frustriert und wütend über die Umstände in seiner Heimat, fing Agbofah an, die importierte Secondhand Kleidung upzucyceln. So entstand The Revival. Die Mission ist simpel: Agbofah und sein Team bringen den lokalen Secondhand Händler*innen grundlegende Upcycling-Fähigkeiten bei, damit sie die Kleidung nicht nur reparieren können, sondern auch so umgestalten können, damit sie von der Konsumierenden wieder gekauft wird. „Die meisten Menschen in Ghana wissen nicht, dass sie Teil eines globalen, ausbeuterischen Systems sind. Wir lehren sie nicht nur, die Kleidung upzucyceln, sondern veranschaulichen auch die ganze Lieferkette dahinter.”
Vor Ort führen Agbofah und sein Team Interviews mit den Second Hand Händler*innen und halten deren täglichen Herausforderungen fest, damit sie besser auf diese reagieren können. Eine der wichtigsten Komponenten ist also, die lokale Community einzubinden. „Wir nutzen alles, was wir finden, und sortieren nichts aus. Denn das Aussortieren ist ja der Ursprung des globalen Problems des Textilmülls.” Agbofah und sein Team arbeiten eng mit den Kleinunternehmer*innen des Kantamanto-Markts zusammen, sowie mit Modestudierenden, Designer*innen und Konsumierenden. Ihr Wissen teilen Agbofah und seine Kolleg*innen außerdem in einem Onlinekurs auf der Plattform Future Learn.
Der Übergang zu einem fairen Second Hand System durch weniger Konsum an Neuware
Doch damit der Markt eine wirkliche Chance hat, gerechter zu werden, muss der Überkonsum im Globalen Norden reduziert werden. Die Studie des Hot or Cool Institute kam zu dem Entschluss, dass dieser zwischen und innerhalb der untersuchten G20-Länder sehr ungleich ist. Ein Beispiel: Während einerseits die reichsten 20 Prozent im Vereinigten Königreich etwa 83 Prozent über dem 1,5-Klimaziel emittieren, leben andererseits 74 Prozent der Menschen in Indonesien unter einem ausreichenden Konsumniveau für Mode. „Während meiner Recherche hat sich unter anderem herausgestellt, dass viele der gespendeten Kleider neu sind – mit Etikett dran“, berichtet Dr. Vladimirova. „Zudem werden einige der Produkte in gleich mehreren Größen gespendet – auch wiederum mit Etikett. Das zeigt, dass es günstiger ist, ein Produkt mehrfach zu bestellen und anschließend die Größen, die nicht passen, in einen Textilcontainer zu werfen, als sie zurückzuschicken.“
Wir müssen höhere Standards setzen
„Jedes Kleidungsstück hat ein Lebensende und wir müssen uns darüber im Klaren sein, wo es endet”, so Dr. Vladimirova. Es bräuchte dringend politische Intervention. „Kommerzielle Wiederverkäufer müssen lokal – also hier in Europa – in ihr Faser-zu-Faser-Recycling investieren. Wenn sie weiterhin Kleidungsstücke exportieren wollen, müssen wir sehr hohe Standards dafür setzen, welche Art von Kleidungsstücke in andere Länder exportiert werden können und dürfen”, erklärt die Wissenschaftlerin. Seitens der EU sind diese Schritte geplant, doch es wird noch Jahre dauern, bis die angekündigten Pläne auch Gesetzgebung sind.