Warum Veränderung nicht immer laut sein muss

Wenn wir als Fashion Changers andere dazu mobilisieren, Themen zu verbreiten, fordern wir oft im gleichen Atemzug dazu auf, unbequem und laut zu sein. Klar, um gehört und gesehen zu werden, hilft es, laut(er) zu sein. Aber setzen diejenigen, die laut sind, deswegen ihre Anliegen erfolgreicher durch?

Als Jana Jenni vom Blog Mehr als Grünzeug beim Fashion Changers Community Talk zum Thema Scheitern interviewte, teilte Jenni sehr eindrücklich ihre eigenen Erfahrungen, wie man sich als introvertierter Mensch in einer Gesellschaft zurechtfindet, in der das Idealbild des Extrovertierten vorherrscht. Während Jenni sprach, musste ich immer wieder auf das Poster hinter ihr schauen, auf dem in Großbuchstaben stand: „Be Loud. Stay Loud. Change Is Not And Never Has Been A Thing That Is Quiet.”

Können nur extrovertierte Menschen Veränderung herbeiführen?

Wir scheinen in einer Gesellschaft zu leben, in der angesichts der aus den Fugen geratenen Welt, wir alle dazu aufgefordert sind, für unsere Werte privat und öffentlich einzustehen. Wir gehen auf Demos und halten unsere Gesichter in die Handykamera. Und übersehen dabei diejenigen, die nicht so laut schreien wie wir, die nicht ununterbrochen reden, die nicht permanent von Veranstaltung zu Veranstaltung rennen, um zu netzwerken. Wir sprechen selbst immer wieder von Diversität, aber suggerieren unbewusst, dass nur extrovertierte Menschen Veränderung herbeiführen können. Susan Cain schreibt in ihrem Buch „Quiet. The Power of Introverts in a World That Can’t Stop Talking” (danke für die Leseempfehlung, Jenni):

“We perceive talkers as smarter than quiet types. We […] see talkers as leaders.” – Susan Cain, Quiet.

Susan Cain zeigt in ihrem Buch, wie sich die Ideale im Laufe der Jahrhunderte gewandelt haben – von Charakter zu Persönlichkeit. Während man sich einst mit Fleiß, Integrität und Verantwortung Respekt und Ansehen verschaffen konnte, wurde es Anfang des 20. Jahrhunderts immer wichtiger, eine Persönlichkeit zu entwickeln. Mit Grauen erinnere ich mich daran, als Heidi Klum in ihrer Castingshow Mädchen dafür kritisierte, nicht genug „Personality” zu haben. Doch was heißt das eigentlich? Laut Cain haben Menschen mit Persönlichkeit per Definition ein mitreißendes, charismatisches, dominantes Auftreten; von ihnen geht oftmals eine faszinierende Anziehungskraft aus. Es geht nicht mehr darum, was gesagt wird, sondern wie etwas gesagt wird. Sprich wie wir unsere Erfahrungen am wirkungsvollsten in Geschichten verpacken und letztlich an unser Publikum verkaufen.

Kein Platz mehr für introvertierte Menschen

Auch wenn der Fokus in „Quiet” auf der US-amerikanischen Gesellschaft liegt, sind Susan Cains Beobachtungen mitunter auch auf andere Gesellschaftsgruppen anwendbar. Cain beschreibt, wie das US-amerikanische Schulsystem, Schüler*innen und Studierende gezielt zu extrovertierten Leadern ausbildet. Als wäre die Welt nicht schon konkurrenzbetont genug, wird unter der Annahme, dass Kreativität und Wissen nur in einem sozialen Umfeld gefördert werden können, mehrheitlich auf Gruppenarbeit gesetzt. Und auch in der Arbeitswelt steigt die Anzahl an Meetings und Teamarbeit – auch der Trend zu offen gestalteten Büroräumen, in denen es kaum noch Rückzugsorte gibt, ist ein Spiegel unserer extrovertierten Gesellschaft.
Aber nicht nur im Business gilt die Gleichung laut + sozial = Erfolg. Auch in der (amerikanischen) evangelikalen Kirche (ähnlich einer Freikirche in Deutschland) wird der extrovertierte Archetyp angebetet, so Cain. Die Gottesdienste sind auf Partizipation ausgelegt, die Predigt gleicht einer Performance – und das, obwohl Religion ja auch ein Angebot für Innensicht und Meditation ist. Cain besucht nicht nur Gottesdienste, sondern kauft sich auch ein Ticket für eine Tony Robbins-Convention – dem erfolgreichsten Guru für persönliche Weiterentwicklung. Cain kann es kaum glauben: In der Konzerthalle stehen alle Besucher*innen auf den Stühlen, klatschen und schreien wie in Trance. Nicht nur Tony Robbins genießt das Rampenlicht und inszeniert sich selbst, seine Anhänger*innen tun es ihm gleich. Ist persönliche Weiterentwicklung auch nur noch extrovertierten Menschen vorbehalten?

Potenzial statt Anpassung

Unsere Werte sind sehr auf den extrovertierten Idealmensch ausgelegt, denn wir leben in einer extro-normativen Welt. So sprechen wir oft von Macher*innen, Power-Frauen, Leadern und verknüpfen damit bestimmte Assoziationen, wie diese Idealtypen auszusehen und sich zu verhalten haben.
Was wir dabei oft vergessen: Auch ruhige Menschen können Großes schaffen und unsere Gesellschaft nachhaltig prägen. Charles Darwin und Marie Curie haben bahnbrechende Theorien entwickelt, ohne die ganze Zeit von Teams umgeben zu sein. Virginia Woolf hat Weltliteratur geschrieben und am liebsten zurückgezogen an ihren Romanen gearbeitet. Rosa Parks hat mit ihrer stillen und gewaltfreien Protestaktion die Schwarze Bürgerrechtsbewegung in den USA ausgelöst. Und Greta Thunberg stellt sich mit einer klaren Sprache und Haltung gegen das Establishment und setzt sich für den Klimaschutz ein. Sie alle haben Dinge hervorgebracht, die bleiben, andere inspirieren und mitreißen. Sie alle haben nicht der gängigen Norm entsprochen, wie sich Wissenschaftler*innen, Künstler*innen, Bürgerrechtler*innen und Schüler*innen zu verhalten haben. Aber alle haben sich dazu entschlossen, ihr Potenzial für die Sache zu nutzen, statt sich in Anpassung zu verlieren.

Britta Moser von introversiert sagt im emotion-Podcast “Kasia trifft”, dass man als introvertierter Mensch nicht aus seiner vermeintlichen Schwäche („Du bist zu ruhig”, „Du bist zu empfindlich”, „Du bist zu unscheinbar”) eine Stärke machen soll, um sich anzupassen. Denn Introvertiertheit bringt viele Stärken mit sich, auf die man sich konzentrieren soll, wie Kreativität, Konzentrationsfähigkeit, Bedachtheit. Energie tanken Introvertierte, indem sie sich regelmäßig zurückziehen. Das bedeutet aber nicht, dass introvertierte Menschen Sozialphobien haben – sie können nur nicht permanent äußere Reize auf sich einprasseln lassen. Und trotzdem können laut Britta Moser auch introvertierte Menschen in der Öffentlichkeit stehen und leidenschaftlich Vorträge halten, nämlich besonders dann, wenn ein sogenanntes „Purpose Element” vorliegt, also etwas, in das man Sinn erkennt. Wenn man also aus der eigenen Überzeugung heraus Dinge macht, dann können Introvertierte für einen bestimmten Anlass auch ihre Grenzen verschieben, so Moser.

Auch in unserer Community gibt es viele Menschen, die nicht in der ersten Reihe stehen wollen. Ohne Frage, kann es viel Druck aufbauen, sich in einer Filterblase zu bewegen, in der der Community-Gedanke so viel Gewicht hat und es dauernd Events gibt, auf denen man auf neue Menschen trifft. Interessanterweise stellt Susan Cain in ihrem Buch Studien vor, die zeigen, dass Introvertierte dazu tendieren, online mehr persönliche Einblicke zu geben als extrovertierte Menschen. Das Internet und insbesondere Social Media hat somit einen Raum geöffnet, in dem wir Gedanken mit anderen teilen können, ohne dabei sozialen Situationen ausgesetzt zu sein, die Energie ziehen statt geben.

Dass Alleinsein ein Katalysator für Kreativität und Innovation sein kann, wird häufig unterschätzt. Mich inspiriert der persönliche Austausch mit anderen Menschen zwar, aber Ideen bekomme ich in der Regel dann, wenn ich ganz für mich bin. Bei den Fashion Changers arbeiten wir in flachen Hierarchien, aber mit Verantwortungsbereichen, von denen viele regelmäßig wechseln. So kann jede auf ihre Weise den jeweiligen Bereich verantworten und sich da entfalten – und zwar in ihrem ganz eigenen Führungsstil. Auch das bedeutet Diversität.

Wir wollen nicht vorgeben, wie man zu sein hat, wenn man für Veränderung einsteht. Wir möchten, dass die Bewegung, die wir als Community vorantreiben wollen, eine Bewegung ist, die alle einschließt, die sich für das Thema Fair Fashion interessieren. Dabei ist es egal, ob man laut oder leise ist. Ob man offline auf Demos geht oder online eine Petition startet. Ob man Vorträge vor vielen Menschen hält oder das Einzelgespräch sucht. Denn wir alle können alle auf unsere Weise einen Unterschied machen. Wir müssen uns nur den Raum dafür geben.

Susan Cain: Quiet. The Power of Introverts in a World That Can’t Stop Talking. Penguin UK: 2012.

Titelbild: © Scott Umstattd/unsplash.com

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2 Antworten auf „Warum Veränderung nicht immer laut sein muss“

Hey! Dieser Artikel ist sehr schön geschrieben und ich bin froh, dass inteovertierte dadurch auch ein bisschen aufmerksamkeit bekommen, danke dafür!