Sind Zertifizierungen wirklich zu teuer? Wie läuft eine Auditierung in einer Textilfabrik ab und wie kann Veränderung in den Lieferketten wirklich gelingen? Über diese Fragen haben wir mit Expertin und Fashion-Changers-Collective-Beraterin Lavinia Muth gesprochen. Mit über 10 Jahren Erfahrung in der Branche weiß sie nicht nur, wann welche Zertifizierung Sinn macht, sondern auch, wieso es so wichtig ist, die Grenzen von Auditierungs-Berichten zu kennen.
Lavinia, du beschäftigst dich schon seit knapp einem Jahrzehnt mit Textilsiegeln. Kannst du einen kurzen Überblick über die verschiedenen Zertifizierungen geben?
Lavinia Muth: „Wenn wir über Siegel im deutschen Markt sprechen, die man am Endprodukt erkennen kann, haben wir zum Beispiel: GOTS, Fairtrade, Grüner Knopf, Bluesign, Blauer Engel (macht aber eigentlich keiner), Oekotex-100, IVNbest und das freiwillige Label der Fair Wear Foundation. Wichtig zu wissen ist: Hinter all diesen Siegeln stehen Managementsysteme. Das heißt: Es sind Systeme, die in der Regel auf Betriebsebene – also in der Fabrik – implementiert werden. Mit ihrer Hilfe sollen bestimmte Dinge eingehalten werden und Unternehmen sollen anhand von unterschiedlichen Kriterien ihrer Sorgfaltspflicht nachkommen. Es gibt es Siegel, die sich auf Umweltmanagementsysteme konzentrieren. Andere fokussieren soziale Aspekte, also Arbeitsbedingungen und -sicherheit. Und dann gibt es die Siegel, die auf Druck aus Industrie, Lobbyismus oder von NGOs versuchen beides zu kombinieren.”
Welchen Textilsiegeln vertraust du als Expertin denn am meisten?
„Wenn es jetzt zum Beispiel darum geht, dass ich sichergehen will, dass keine schädlichen Chemikalien in der Lieferkette oder dann auch bei mir zu Hause landen, würde ich den GOTS präferieren. Da rede ich jetzt aber erst mal nur über die Verarbeitung, nicht über Materialien. Für die Outdoorbranche, die sehr viel Synthetikfasern einsetzt, ist außerdem der Bluesign Standard sehr gut und streng, wenn es um Chemikalienmanagement geht.
Bei der Absicherung von ethischen Arbeitsbedingungen in der Lieferkette wird es sehr rar und schwierig. Da habe ich nicht wirklich viel zu empfehlen. Bei Fairtrade gibt es die Kennzeichnung ‚Fairtrade Baumwolle‘, die zumindest eine faire Entlohnung der Bauern sicherstellen soll. Was aber danach in der Lieferkette passiert, wird hier meiner Meinung nach nicht ausreichend betrachtet. Falls man jedoch ein Kleidungsstück mit dem ‚Fairtrade Textilstandard‘ findet, ist das auch sehr, sehr gut, das schafft aber bisher fast niemand.“
Was hältst du vom Grünen Knopf?
„Ich habe die Hoffnung, dass in der Zukunft – vielleicht in fünf bis sieben Jahren – der Grüne Knopf ökologische und soziale Aspekte verbindet. Das Problem ist natürlich, dass der Grüne Knopf aktuell nicht die ganze Lieferkette abdeckt, weshalb man bisher nicht sicher davon ausgehen kann, dass das gekennzeichnete Produkt wirklich fair und nachhaltig hergestellt wurde. Ich bin aber positiv gestimmt, weil ich die Idee dahinter an sich super finde, da hier meines Wissens nach keine Geldmaschinen hinter ein weiteres Siegel gebaut werden und viel Geld in Akkreditierungs- und Audit-Prozesse fließt anstatt wirkliche Veränderungen in den Fabriken anzustoßen. Jetzt brauchen wir nur noch mehr politischen Willen beim Grünen Knopf.“
Viele Labels meinen, sie können sich nicht zertifizieren lassen, weil sie es sich nicht leisten können. Eine GOTS-Zertifizierung kostet bis zu 3000 Euro. Sind Zertifizierungen wirklich so aufwendig oder ist das eher eine Ausrede?
„Die Aussage, dass Zertifizierungen allein wegen des finanziellen Aufwands zu teuer sind, ist nicht korrekt. Wir müssen aber natürlich unterscheiden: eine Bluesign-Zertifizierung für einen Veredler, bei dem Chemikalien, Abwasser, etc., alles durchgecheckt wird, kann wirklich sehr teuer werden und in den sechstelligen Bereich gehen. Wenn wir aber über die anderen Zertifizierungen am Produkt sprechen wie GOTS, GRS oder OCS sind das ja minimale Kosten, wenn wir 3000 Euro für Auditierung und Zertifizierung haben – inklusive Produktionsebene.“
Für kleine Labels oder Kleinstunternehmen kann das unter Umständen aber auch schon viel sein.
„Muss ich widersprechen. Wenn wir die 3000 Euro mit anderen Geldflüssen, die auch kleine Unternehmen haben, vergleichen, ist es nicht viel. Niemand kann mir erzählen, dass das im Vergleich zum Marketingbudget oder dem Geld, was oft für ein einzelnes Fotoshooting ausgegeben wird, viel ist.
Was natürlich dazu kommt, ist der Administrationsaufwand, aber auch da muss ich sagen: Das kann eigentlich nur helfen, wenn man es am Anfang implementiert. Du brauchst ja einen Überblick über deine Lieferkette und was produktionsseitig passiert. Früher oder später musst du das sowieso selbst implementieren: eigenes Chemikalienmanagement, eigene Qualitätschecks und so weiter. Du solltest ja deine Warenflüsse kennen und über Excel-Dateien und EDV-Systeme kontrollieren. Ein Siegel ist ein Managementsystem – und ein Managementsystem schon sehr früh zu implementieren ist sinnvoll, da es Struktur reinbringt.“
Heißt das im Umkehrschluss auch, dass große Marken eigentlich keinerlei Gründe haben, sich nicht zertifizieren zu lassen? Wirst du pauschal skeptisch, wenn eine große Marke kein Siegel hat?
„Ich nicht, nein. Es kommt stark darauf an, um welche Marke es geht und welche eigenen Managementsysteme sie implementiert haben. Einer großen Marke würde ich zum Beispiel auch manchmal von einer GOTS-Zertifizierung abraten, weil GOTS nicht so leicht integrativ mit anderen Managementsystemen eingesetzt werden kann, falls man schon ein Tool zur Rückverfolgung und Produktökologie hat. Das kann bei der Produktentwicklung dann sehr kompliziert werden.
Wenn ein Unternehmen ein eigenes Chemikalienmanagement, eine eigene MRSL und RSL (Anm. d. Red.: (Manufacturing) Restricted Substances List: Positiv-/Negativliste zum Einsatz von chemischen Substanzen und Mixturen) hat, eigene Forschungsprojekte im Bereich Ökologie, Toxikologie und Materialien verfolgt und ein eigenes Third-Party-Auditierungsverfahren in der Lieferkette implementiert hat – dann braucht dieses Unternehmen das meiner Meinung nach nicht. Zumal auch das Chemikalienmanagement beim GOTS nicht viel strenger ist als das, was die meisten RSLs und MRSLs definieren. Für kleine Unternehmen und Mittelständler, die eben keine eigenen Textil-Chemiker*innen einstellen können, ist es aber, wie gesagt, sehr sinnvoll.“
Gleichzeitig gibt es auch genügend große Textilunternehmen, die entweder ihre eigenen „Siegel“ etablieren oder sich einfach gar nicht mit der Thematik befassen. Wie stehst du dazu?
„Ganz wichtig beim Gespräch über Textilsiegel ist, dass es um die Third-Party-Auditierung geht. Das heißt also: eine dritte Partei, die kein kommerzielles Interesse am Produkt hat, ist involviert. Das ist essenziell, denn sonst kann keine neutrale Bewertung entstehen. Wenn ich in meinem Job bei Armedangels interne Audits gemacht habe (also First-Party), dann habe ich versucht so neutral wie möglich zu sein, aber ich kann es nicht 100 Prozent garantieren. Da liegt also auch einer der großen Vorteile bei Textilsiegeln – die neutrale, externe Bewertung.
Die Unternehmen, die eigene ‚Siegel‘ kreieren, lassen diesen wichtigen Punkt aus, denn da findet die neutrale Bewertung meistens nicht statt. Außerdem sind solche Siegel keine Managementsysteme, durch die Prozesse in der Lieferkette eingesetzt werden – dieser Aspekt fehlt also auch. In der Regel ziehen solche Unternehmen nur irgendwelche Daten aus ihren Lieferketten oder definieren Kriterien wie zum Beispiel ‚Produkt aus 50 Prozent Biobaumwolle‘. Es kann natürlich sein, dass das Produkt aus 50 Prozent Biobaumwolle ist, aber ich weiß nicht, was mit der Verarbeitung passiert ist, weil eben kein Chemikalien-Managementsystem dahintersteht.“
Apropos Third-Party-Auditierung. Nimm uns mal kurz mit in einen Audit-Prozess, für alle, die es sich schwer vorstellen können: Wie läuft das genau ab?
„Auditierungen kommen ja aus dem Finanzbereich – wenn Wirtschaftsprüfer ins Unternehmen stiefeln und sich die ganze Dokumentation der Geldströme genauer anschauen und damit Transparenz schaffen. Genau so findet das im Prinzip auch bei der Überprüfung von ökologischen Parametern und sozialen Arbeitsbedingungen statt. Es gibt angekündigte und unangekündigte Audits. Da gibt es unterschiedliche Meinungen: viele denken, dass unangekündigte Audits besser sind, aber sie sind eben auch sehr invasiv und damit kolonialistisch aus meiner Sicht.
Den Ablauf einer Auditierung kann man sich in der Regel so vorstellen: Es gibt ein Gespräch mit dem Management, die zuvor E-Mails bekommen haben, was sie vorbereiten sollen, zum Beispiel, dass es Zugang zu jeglicher Dokumentation geben muss. Dann startet man mit einem Betriebsrundgang, je nach Zertifizierung kann es da einen unterschiedlichen Fokus geben, aber man achtet zum Beispiel auf Feuerlöscher, Notausgänge, Notfall-Kits, die Sauberkeit der Toiletten oder aber auch die Stimmung. Läuft zum Beispiel ein Radio?“
Was sagt denn ein Radio aus?
„Das ist natürlich kulturell abhängig, aber in einigen Ländern wird generell noch sehr viel Radio gehört, die Leute summen einen Song mit, es bringt Leben rein. In Portugal werde ich zum Beispiel stutzig, wenn ich kein Radio höre.”
Und wie geht es nach dem Betriebsrundgang weiter?
„Nach dem Betriebsrundgang gibt es einen riesigen Dokumenten-Check, der sehr aufwendig ist und trotzdem seine Limits hat, da man natürlich nicht die Arbeitszeiten-Dokumentation von 500 Mitarbeitenden aus den letzten fünf Jahren checken kann, sondern mit Stichproben arbeiten muss. Wie das passiert, hängt stark von den Auditor*innen selbst ab. Ich habe nie vorgelegte Stichproben akzeptiert, sondern mir zum Beispiel Namen beim Betriebsrundgang notiert und dann die Lohnzettel dieser Mitarbeiter*innen aus zufälligen Zeiträumen eingefordert.”
Welche Rolle spielen Mitarbeiter*innen bei solchen Audits?
„Im Sozialstandard-Bereich gibt es zusätzlich Interviews mit den Mitarbeitenden, einzeln und anonymisiert oder in Gruppeninterviews. Die sind das A und O bei Sozialauditierungen, denn die Dokumentation kann schick aussehen, aber in Interviews erfährt man eventuell, dass doch mal Überstunden gemacht werden oder der Lohn zu spät kommt. Das ist natürlich alles eine sehr sensible Sache. Oft weiß das Management, wer in den Interviews war und als Auditor*in muss man sicherstellen, dass die Arbeitnehmer*innen dann keine Folgeschäden tragen und entlassen oder diskriminiert werden.“
Hier tun sich also auch schon ganz klare Limitierungen auf, was überhaupt und wie es überprüft werden kann. Welche Grenzen siehst du noch bei Auditierungen?
„Bei ökologischen Standards ist es natürlich einfacher, da Werte im Abwasser zum Beispiel messbar sind. Bei Sozialstandards ist es viel komplizierter, denn wie stellt man genau fest, ob es Diskriminierung gibt, oder nicht?
Auditierungen allein reichen aber ohnehin nicht, um wirklich Veränderung zu bewirken, denn die eigentliche Arbeit fängt erst nach dem Audit an. In Nachhaltigkeitsberichten steht oft, wie viele Auditierungen durchgeführt wurden. Das ist nichtssagend, weil es erstmal nur Statusanalysen sind. Wichtig ist, was danach passiert. Wie findet die Kommunikation mit den Lieferanten nach dem Audit statt? Wie einigt man sich, an einer Verbesserung der kritischen Punkte zu arbeiten? Wie wird der Lieferant dabei unterstützt? Wie sind die Machtstrukturen, wer entscheidet was? Wie arbeitet man dann mit NGOs oder Gewerkschaften vor Ort zusammen und wie werden die sogenannten Korrekturmaßnahmen umgesetzt?
Audits sind also nicht schlecht, man muss nur einfach wissen, was sie leisten können und was nicht. Es kann zum Beispiel sein, dass eine Verletzung der Arbeitsnorm festgestellt wird, weil zu viele Überstunden gemacht und im Bericht steht, dass das innerhalb von drei Monaten ausgebessert werden soll. Das ist eine utopische Aussage. 10 bis 12 Monate wären vielleicht realistisch. Auditor*innen sind gut darin festzustellen, was nicht gut läuft, aber nur wenige Professionals in dem Bereich wissen, wie man etwas umsetzt und verändert, weil sie die Realität vor Ort nicht kennen. Die meisten Menschen, die Audit-Berichte lesen und Korrekturmaßnahmen veranlassen, waren noch nie oder vielleicht nur zehn Mal in einer Fabrik.
Die Branche ist hier also auch gefragt, mehr in die Weiterbildung ihrer Leute zu investieren. Um gutes Nachhaltigkeitsmanagement zu machen, reicht es einfach nicht einen Nachhaltigkeitsabschluss an der Uni gemacht zu haben. Du musst verstehen, wie Produktion funktioniert und auch ganz viel interkulturelles Wissen mitbringen. Ausbildungsprogramme, die das gut abdecken, kenne ich bisher gar nicht.“
Für Veränderung in den Lieferketten brauchen wir also auch grundlegende, neue Arbeit, was Ausbildungen angeht. Was noch?
„Wir müssen Lieferanten zuhören, uns in ihre Lebensrealitäten hineinversetzen und dann gemeinsam Lösungen finden, die auf sie zugeschnitten sind. Wir sollten Machtstrukturen hinterfragen und zum Beispiel stärker in Co-Creation-Prozesse gehen, an denen alle beteiligt sind. Da habe ich auch ganz viel Hoffnung, weil ich aus meiner Erfahrung weiß, dass das funktionieren kann.
Ich weiß, dass wir Audit-Berichte besser verstehen und alle Prozesse danach besser organisieren können und wir dann auch zu besseren Lösungen kommen, weil ich das schon gesehen und begleitet habe. Ich habe Fabriken gesehen, die in 12 Monaten alles auf den Kopf gestellt haben, aber auf empowernde Weise. Die sind losgerannt und haben am Ende viel mehr gemacht, als im Audit-Bericht gefordert war, weil sie auch selbst die Vorteile gesehen haben. Es ist möglich, wenn wir gut und auf Augenhöhe zusammenarbeiten.“
Das ist ein schönes Schlusswort. Vielen Dank für die spannenden Einblicke und das Gespräch, Lavinia.
Lavinia Muth ist Nachhaltigkeits-Expertin und Beraterin und verfügt über mehr als 10 Jahre Erfahrung im Nachhaltigen Wirtschaften, mit Schwerpunkt auf Textilien und globale Landwirtschaft. Bevor sie die letzten Jahre die Unternehmensverantwortung bei ARMEDANGELS leitete, forschte sie im Bereich Kinderarbeit im globalen Handel, prüfte, beriet und unterstützte zahlreiche Hersteller*innen, Produzent*innen und Marken weltweit: in China, Bangladesch, Europa, Indien, Myanmar, der Türkei und Südamerika bei der Umsetzung ökologischer und sozialer Standardanforderungen. Sie liebt es, vor Ort tätig zu sein und tiefer zu graben. Ihre Leidenschaft sind Menschen, sie glaubt an einen dekolonisierenden Ansatz und möchte daran arbeiten, gemeinsam kaputte Systeme wirklich zu transformieren.