Warum wir ein geschlechtergerechtes EU-Lieferkettengesetz brauchen

Pünktlich zum feministischen Kampftag heute, am 8. März, haben wir mit Anne Munzert von FEMNET e. V. darüber gesprochen, wie wichtig ein geschlechtergerechtes Lieferkettengesetz ist.

Für ein starkes Lieferkettengesetz: Unterzeichne jetzt die Petition von der Initiative Lieferkettengesetz

Disclaimer: In diesem Artikel geht es um ein geschlechtergerechtes Lieferkettengesetz. Auch wenn wir in diesem Zusammenhang vor allem über Frauen und Mädchen reden, meinen wir die gesamte FLINTA* Community, die unter patriarchalischen Machtstrukturen leidet. Geschlechtergerecht auf die globalen Lieferketten zu schauen, bedeutet also auch auf mehrfache und intersektionelle Formen der Diskriminierung zu achten.

Geschlechtsspezifische Auswirkungen treten in allen Sektoren auf, von der Rohstoffgewinnung und der Landwirtschaft bis hin zur Lebensmittelindustrie und dem Bekleidungssektor, in dem Frauen etwa 80 Prozent der Erwerbstätigen ausmachen. Circa 71 Prozent der Menschen, die in moderner Sklaverei leben, sind Frauen. Die Europäische Union hat nun die Möglichkeit, durch die bevorstehende Richtlinie zur nachhaltigen Unternehmensführung zum Schutz der Rechte der Frauen beizutragen, die in globalen Lieferketten arbeiten.

Wir haben mit Anne Munzert, Referentin für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit bei FEMNET e. V. darüber gesprochen, wie wichtig es ist, das EU-Lieferkettengesetz geschlechtergerecht zu gestalten. 

FEMNET hat zusammen mit anderen NGOs einen offenen Brief an die EU geschrieben und diese aufgefordert, das EU-Lieferkettengesetz geschlechtergerecht zu gestalten. Was würde ein solches Gesetz beinhalten? 

Anne Munzert: Grundsätzlich würde es bedeuten, dass wir die Benachteiligung von Frauen und Mädchen besonders berücksichtigen. Vor allem in der Textil- und Bekleidungsindustrie sind die Wertschöpfungsketten relativ lang und erstrecken sich über mehrere Länder: Die Materialien müssen angebaut, geerntet, verarbeitet und zugestellt werden. Dabei gibt es wichtige Unterschiede zwischen Frauen und Mädchen auf der einen Seite und Männern auf der anderen. 

Geschlechtergerechtes EU-Lieferkettengesetz

Am 29. November 2021 (Internationaler Tag der Menschenrechtsverteidigerinnen) haben 60 NGOs einen offenen Brief an die Europäische Union gesendet. Diese wird aufgefordert, das bevorstehende EU-Lieferkettengesetz geschlechtergerecht zu gestalten. Dazu gehören unter anderem folgende Aspekte: 

  • Verweisung auf die UN-Konvention zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW) und die UN-Wanderarbeiterkonvention sowie das ILO-Übereinkommen 190 über die Beseitigung von Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt 
  • solide Haftungsregeln schaffen, die es den Opfern ermöglichen, Zugang zu Gerichten zu erhalten und wirksame Abhilfe zu erwirken
  • Unternehmen jeder Größe mitdenken, da zu den Sektoren, in denen Frauen am stärksten von geschlechtsspezifischen Menschenrechtsverletzungen betroffen sind, auch viele kleine und mittlere Unternehmen gehören (dies gilt insbesondere für den Bekleidungssektor)
  • geschlechtsspezifische Gewalt und sexuelle Belästigung als schwerwiegende Risiken für Menschenrechtsverletzungen identifizieren

Welche Unterschiede sind das?

Diese Unterschiede sind ganz verschieden. Frauen stehen beispielsweise häufig am Anfang der Lieferketten und damit im informellen Sektor. Das bedeutet wiederum, dass sie oftmals keine richtigen Arbeitsverträge haben und unter sehr prekären Bedingungen arbeiten – rechtlich sind sie nicht gut abgesichert. 

Gleichzeitig sind sie durch Machtstrukturen und anderen sozio-ökonomischen Strukturen weiteren Risiken ausgesetzt. In den Textilfabriken arbeiten beispielsweise überwiegend Frauen. Hier können wir feststellen, dass die Arbeiter*innen weiblich sind, die Aufseher*innen aber häufig männlich – ein großes Ungleichgewicht also. Frauen werden somit Opfer von geschlechtsspezifischer Gewalt am Arbeitsplatz – sie werden beschimpft oder belästigt. Wenn etwas passiert, gibt es keine oder nur wenige Beschwerdemechanismen. Während der Sozialaudits von Fabriken, wurde zum Beispiel festgestellt, dass sich Frauen oftmals nicht einmal trauen, Vorfälle von sexualisierter Gewalt zu melden. In diesem Zusammenhang wären Gewerkschaften von großer Bedeutung, denn wenn Frauen sich nicht gewerkschaftlich organisieren können, sind sie häufig der Willkür der Vorgesetzten ausgeliefert. Die Gewerkschaftsfreiheit und das Recht auf Kollektivverhandlungen würden Frauen besser schützen.

An dieser Stelle ist es wichtig zu erwähnen, dass Menschenrechtsverteidigerinnen besonderen geschlechtsspezifischen Risiken ausgesetzt sind – nicht zuletzt, weil sie mit ihrer Tätigkeit diskriminierende Geschlechterrollen infrage stellen. Sie sind besonders häufig von geschlechtsspezifischen Bedrohungen und Gewalttaten betroffen, wie zum Beispiel sexuelle Gewalt, Belästigung ihrer Kinder und Diskriminierung in ihren Gemeinschaften. 

In den Fabriken gibt es außerdem nicht immer fließendes Wasser, nicht ausreichend Toiletten, keine Hygieneartikel. Solche Aspekte der Arbeitsplatzgestaltung müsste ein geschlechtergerechtes Lieferkettengesetz aus unserer Sicht aber auch berücksichtigen. 

Gestern, am 7. März, war Equal Pay Day. Wie sieht es bei den Löhnen aus und wie würde ein geschlechtergerechtes Lieferkettengesetz diesen Aspekt berücksichtigen?

Entlang der globalen Lieferketten werden auch globale Probleme sichtbar, wie etwa das Gender Pay Gap – Männer und Frauen verdienen unterschiedlich viel. Frauen bekommen häufig keinen existenzsichernden Lohn. Schwangere Frauen oder Frauen in Elternzeit werden nicht durch bezahlt.

Zudem sind Frauen in einem überwiegendem Maße für Care-Arbeit, also Sorgearbeit, zuständig. Insgesamt kümmern sie sich auch um mehrere Familienmitglieder gleichzeitig. Ein geschlechtergerechtes Lieferkettengesetz würde auch diese Art der Arbeit anerkennen. 

Bei der Forderung von existenzsichernden Löhnen muss man bedenken, dass auch Kinder davon betroffen sind. In vielen Produktionsländern gibt es durchaus einen Mindestlohn, aber dieser reicht oft nicht zum Leben aus. Der Begriff „existenzsichernd” impliziert, dass das Gehalt für mehrere Personen reichen muss – eine Familie. Doch das, was ein Elternteil verdient, reicht oftmals nicht aus, um alle zu ernähren. Dies führt wiederum zu mehr Kinderarbeit. Ein geschlechtergerechtes Lieferkettengesetz denkt die Existenzsicherung von Kindern oder kranken Angehörigen ebenso mit. 

Inwiefern fehlt der geschlechtsspezifische Aspekt im deutschen Lieferkettengesetz?

Das deutsche Lieferkettengesetz spricht von Menschenrechtsverletzungen und nicht explizit von Rechtsverletzungen gegen Frauen. Diese richtig zu benennen, wäre eigentlich der erste Schritt gewesen. Ja, Frauenrechte sind Menschenrechte, aber es gibt klare Unterschiede. Frauen stehen vor anderen Herausforderungen, sind anderen Risiken ausgesetzt – das ist jedoch kein explizit genannter Punkt im deutschen Lierferkettengesetz. Somit werden wichtige soziokulturelle Unterschiede übersehen.

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Das deutsche Lieferkettengesetz behandelt Umweltaspekte nur marginal. Inwiefern macht das auch einen Unterschied für Frauen und Mädchen?

Wir reden immer wieder über Arbeitsbedingungen, aber Umweltschäden sind genauso wichtig. Frauen und Mädchen sind auch in diesem Zusammenhang unverhältnismäßig betroffen. Generell kann man beobachten, dass Frauen und Mädchen anders und häufig stärker vom Klimawandel betroffen sind. Kommt es beispielsweise durch Dürren oder anderen Katastrophen zu Migration, bleiben sie häufiger zurück, als Männer. Nach Umweltkatastrophen haben sie häufig schlechteren Zugang zu Nahrung oder Produktionsmitteln, als Männer.

Auch hier ist wieder die generelle sozio-ökonomische Stellung der Frauen ein wichtiges Stichwort. Frauen werden nicht schwerer vom Klimawandel getroffen, weil sie Frauen sind, sondern weil mit ihrem Frausein eine ganz bestimmte Rolle in der Gesellschaft einhergeht und damit oft eine Benachteiligung gegenüber Männern. Sie kümmern sich häufiger um kranke oder verletzte Angehörige nach Katastrophen, arbeiten häufiger im informellen Sektor wie der Landwirtschaft, der besonders vom Klima abhängt. Nach einer Klimakatastrophe oder auf der Flucht werden sie häufiger Opfer von sexualisierter Gewalt. Auch hier sind die Unterschiede sehr vielschichtig.

Wichtig ist deshalb auch das Thema Klimagerechtigkeit geschechtsspezisch zu betrachten. Es wäre aber grundsätzlich sehr wünschenswert, wenn das Thema Klima und Umwelt im deutschen Lieferkettengesetz mehr Beachtung finden würde. 

Geschlechtsspezifische Risiken identifizieren und handeln

Unternehmen können geschlechtsspezifische Risiken unter anderem durch Konsultationen mit potenziell betroffenen Frauen, Frauenorganisationen und Gewerkschaften identifizieren.

Geschlechtsspezifische Maßnahmen zur Prävention und Abhilfe können in allen relevanten Unternehmensprozessen integriert werden. Dazu gehören unter anderem: 

  • die Veränderung eines laufenden Projekts, um nachteilige Auswirkungen auf Frauen zu verhindern
  • die Bereitstellung wirksamer Abhilfe, wenn die nachteiligen Auswirkungen bereits eingetreten sind.
  • die Sicherstellung, dass Geschäftspartner*innen in der Lage sind, Menschenrechte einzuhalten und die Standards zur Gleichstellung der Geschlechter zu erfüllen (z. B. durch Schulungsangebote, direkte Investitionen und Geschäftsbedingungen)
  • das Organisieren von Sensibilisierungs-Trainings zum Thema sexualisierter und geschlechtsbasierter Gewalt
  • die Anerkennung sexueller und reproduktiver Gesundheit und Rechte als Aspekt des Arbeitsschutzes
  • die Förderung von Gewerkschaftsfreiheit

Die EU-Kommission hat ihren Richtlinienvorschlag am 23. Februar präsentiert. Inwiefern greift der Entwurf zu kurz, wenn es um Geschlechtergerechtigkeit geht? 

Das europäische Lieferkettengesetz ist zunächst einmal ein großer Vorstoß. Es gilt unter anderem schon für kleinere Unternehmen, im Gegensatz zum deutschen Lieferkettengesetz. Auch wird hier das Thema Klima explizit genannt. Ein Fortschritt also. Aber auch im europäischen Lieferkettengesetz wird, ähnlich wie im deutschen, nicht auf geschlechtsspezifische Besonderheiten eingegangen. Dabei ist der wichtigste Schritt zur Behebung von vielen Rechtsverletzungen die Sensibilisierung dafür, wie etwa geschlechtsspezifische Gewalt am Arbeitsplatz. Nur so kann man auch wirksame Maßnahmen dagegen entwickeln. 

Danke für das aufschlussreiche Interview, Anne.

Titelbild: Mignon Hemsley via Unsplash

Über Anne Munzert und FEMNET e. V.

Anne Munzert hat interkulturelle Kommunikation studiert und ist seit 2020 Referentin für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit bei FEMNET.

FEMNET unterstützt Frauen in der globalen Textil- und Bekleidungsindustrie bei der Durchsetzung ihrer Rechte. Das Team setzt sich vor allem  für verbindliche Regeln für Unternehmen ein und unterstützt die Arbeit von Gewerkschaften und Nichtregierungsorganisationen in Indien und Bangladesch.

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