„Viele Modeschaffende kommen während ihrer Inspirationssuche zwangsläufig in Berührung mit anderen Ländern, Kulturen oder kreativem Handwerk – das ist ja auch sehr schön und wichtig“ erzählt uns Viktoria Heinzel im Gespräch. Leider ginge diese Inspiration dann häufig aber nicht wertschätzend genug weiter – angefangen bei der Kommunikation auf Augenhöhe, einer Entlohnung oder auch schlicht durch fehlende Authentizität, die dazu führen kann, dass der Grundgedanke eines Kulturguts verloren gehen kann. Mit ihrem frisch gegründeten Accessoires-Label cen., will Viktoria dieser Entwicklung etwas entgegensetzen und geht eine auf den ersten Blick ungewöhnliche Kooperation ein: Für ihre erste Kollektion arbeitet sie sizilianischen Künstlern zusammen, die normalerweise Holzkarren bemalen. Wie sie zu dieser Kollaboration kam und wieso kulturelle Vielfalt so wichtig ist, lest ihr im Interview.
Du hast dich bei cen. dafür entschieden über einen Co-Creation-Ansatz mit Kunsthandwerker*innen aus Sizilien zusammenzuarbeiten. Wieso ist dir die Zusammenarbeit mit Kunsthandwerker*innen ein Anliegen?
Viktoria Heinzel: „Meine Vision als Gründerin war es ein besonderes Label zu entwickeln, welches einen entscheidenden Beitrag zur Wahrung internationaler Kulturgüter im Bereich des kreativen Handwerks leistet. Kunsthandwerk ist Teil unseres kulturellen Erbes und war ein wichtiges Element bei der Herausbildung kultureller Identitäten. Dies spiegelt sich in den vielen traditionellen Artefakten verschiedener Gemeinschaften und indigener Völker auf der ganzen Welt wider.
Für Co-Creation habe ich mich entschieden, um näher an den Wahrer*innen eines Kunsthandwerks dran zu sein und das Handwerk glaubwürdig in unseren Designs wiederzugeben. Kein Mensch kann wichtiges Wissen um Symbole, Geschichten, Techniken oder gewählte Materialien so authentisch weitergeben, wie die Kulturwahrer*in selbst. Diese Kooperationen bergen kreative Momente, aber auch herausfordernde Situationen wie z.B. der Vertrauensaufbau aus der Ferne oder die Kommunikation, wenn man nicht die gleiche Sprache spricht. Auf diese möchte ich mich aber gerne einlassen.
Für unsere erste Kollektion ‚Sicily‘ haben wir mit dem Künstlerduo Cinabro Carrettieri zusammengearbeitet. Durch eine Reise nach Sizilien und Forschungsarbeiten vor Ort bin ich auf sie in Ragusa gestoßen. Hier haben sie ein kleines Atelier, in dem sie das traditionelle Handwerk, die Malerei auf sizilianischen Karren, aufrechterhalten und nach wie vor praktizieren. Ihr Wissen um dieses Handwerk haben sie von alten Meistern dieses Gebiets vermittelt bekommen und bieten nun selbst Einblicke in das Handwerk sowie Führungen in ihrem Atelier an. Damiano und Biagio waren beide sehr aufgeschlossen die Wahrung ihres Handwerks auf neuem Wege zusammen mit cen. auszuprobieren und so sind wir für die erste Kollektion zusammengekommen.“
Wie genau sieht dein Co-Creation-Ansatz aus und planst du in Zukunft weitere Kollaborationen?
Viktoria Heinzel: „Kulturwahrer*innen gestalten unsere Produkte mit und werden so ein Teil von cen. Ein fairer und respektvoller Umgang ist mir dabei besonders wichtig. Unsere Partner*innen entscheiden selbst, ob sie durch eine Beteiligung am Erlös oder eine Vorauszahlung für ihre kreative Leistung, finanziell beteiligt werden.
Wir möchten jedes Jahr nur eine kleine, neue Kollektion an Couture Accessoires herausbringen, die ein neues Kulturgut thematisiert. Im Vorfeld stehe ich im engen Austausch mit verschiedenen Bewahrer*innen der Handwerksschätze. Wir recherchieren und entscheiden uns dann für ein bestimmtes Handwerk, zum Beispiel eine Zeichen- oder Sticktechnik, dessen Erhalt uns besonders wichtig erscheint. Wenn wir mehrere handwerkliche Schätze in einer Region identifizieren, werden wir uns ihnen über mehrere Jahre hinweg einzeln pro Jahr widmen.
Für die nächste Kollektion in 2023 planen wir den Fokus auf ein weiteres Kulturgut aus Sizilien zu legen. Anders als bisherige Modelabels, möchten wir länger an einer Region wie Sizilien dranbleiben, um uns tiefergehend damit auseinander zu setzen und unsere cen. Community nachhaltig über lokale kulturelle Schätze aufzuklären. Wir werden nicht jedes Jahr das Land wechseln, dafür aber neu entdeckte Kulturgüter thematisieren.“
Mit deinem Label möchtest du Kultur bewahren und wertschätzen – etwas, das in der Modebranche oft zu kurz kommt oder übergangen wird. Wir denken da an die vielen Fälle, in denen Designs geklaut oder kulturell angeeignet werden. Was wünschst du dir diesbezüglich von anderen Modeschaffenden?
Viktoria Heinzel: „Ja, das stimmt. Kulturelle Aneignung ist ein großes Problem in der westlichen Modeindustrie. Elemente verschiedener Kulturen der Welt werden oft verwendet, ohne die ‚Urheber*innen‘ oder Kulturwahrer*innen – wie wir sie bei cen. nennen – zu würdigen.
Was ich mir von anderen Modeschaffenden wünsche ist, dass sie ähnlich wie wir bei cen. versuchen die Problematik konkret anzugehen. Jede noch so kleine Maßnahme in diese Richtung zählt. Viele Modeschaffende kommen während ihrer Inspirationssuche zwangsläufig in Berührung mit anderen Ländern, Kulturen oder kreativem Handwerk – das ist ja auch sehr schön und wichtig. Hierbei könnten sie darauf achten, dass sie die entlehnten Elemente authentisch weitergeben. Dies kann zum Beispiel über eine tiefergehende Erforschung der Geschichten und Hintergründe oder den direkten Austausch mit Kulturwahrer*innen passieren.
Darüber hinaus ist natürlich der respektvolle und faire Umgang miteinander sehr wichtig. Dies kann in einem wertschätzenden Kommunikationsstil zum Ausdruck gebracht werden und durch die Beteiligung der ‚Urheber*innen‘ an den Verkaufsumsätzen oder eine vergleichbare finanzielle Entlohnung für geleistete Gestaltungsarbeit.“
Was denkst du, müsste passieren, dass es in der Modebranche insgesamt mehr Wertschätzung für bestehendes (textiles) Kunsthandwerk gibt?
Viktoria Heinzel: „Um die Wertschätzung für bestehende Techniken des Kunsthandwerks zu steigern, müsste die Modebranche insgesamt das Konzept der kulturellen Nachhaltigkeit ernster nehmen und entsprechend agieren. Der Begriff ‚kulturelle Nachhaltigkeit‘ bezieht sich auf die vierte Säule der nachhaltigen Entwicklung. Das dahinterstehende Konzept wurde im Rahmen der Allgemeinen Erklärung der UNESCO zur kulturellen Vielfalt von 2001 entwickelt. Um nach den Werten der kulturellen Nachhaltigkeit zu handeln, sollten Vertreter*innen der Modebranche besonders darauf achten, dass kulturelles Erbe nur so weit genutzt und angepasst wird, dass künftige Generationen nicht in ihrer Fähigkeit beeinträchtigt werden, die vielfältigen Bedeutungen und Werte dieses Erbes zu verstehen und zu leben.
Zudem sollte sich die Modebranche um eine größere Transparenz sowie die authentische Kommunikation des Wissens rund um Kulturen, kulturelle Identitäten und Traditionen bemühen. Dadurch könnten auch Konsumen*:innen dafür sensibilisiert werden. Wenn Traditionen nicht mehr lebendig gehalten werden, braucht es viel Zeit, Geduld und Wissen, um sie wiederzubeleben.“
Bei cen. setzt du nicht nur auf Co-Creation, sondern auch auf eine möglichst nachhaltige Produktion mit 3D-Technik. Kannst du uns deinen Produktionsprozess genauer erklären?
Viktoria Heinzel: „Wir verfolgen den Slow Fashion-Ansatz und entwickeln nur eine Kollektion pro Jahr, mit wenigen Designs und einer limitierten Stückzahl, um Überproduktion entgegenzuwirken. Außerdem verwenden wir hauptsächlich Textilien, die aus Überproduktionen stammen. Wir beziehen sie über Fabric House, die hierfür sogar einen eigenen Standard, den Circular Fabric Standard, entwickelt haben.
Besonders an unseren Produkten ist sicherlich auch die Anwendung innovativer 3D-Drucktechnologien direkt auf Textilien. Hier arbeite ich als Designerin mit der Teilefabrik von alphacam GmbH in Schorndorf zusammen, insbesondere mit Jana Jancke als Expertin im Bereich der additiven Fertigung. Die aktuellen 3D-Drucke für die Kollektion ‚Sicily‘ sind mit Polyjet Druckern von Stratasys hergestellt worden. Verwendete Farben sind mit dem Material MED610 umhüllt worden, welches biokompatibel ist und eine hohe Formstabilität und Transparenz bietet. Das Material ist zugelassen für den dauerhaften Hautkontakt von mehr als 30 Tagen.
Alle Bestandteile unserer Schmuckstücke landen zur finalen Verarbeitung bei stitch by stitch, einem Social Business aus Frankfurt, das als Schneidermanufaktur sozial und ökologisch nachhaltig arbeitet, was mir als Gründerin ein besonderes Anliegen war. Außerdem wollte ich unbedingt, dass die Couture Accessoires ‚Made in Germany‘ sind, denn mit ‚Couture‘ assoziieren wir sonst eher andere Länder wie Frankreich oder Italien.“
Vielen Dank für das spannende Gespräch, die Einblicke und deine Gedanken zu kultureller Nachhaltigkeit, Viktoria!
Wenn ihr Viktoria in ihrem Vorhaben mit cen. und der Bewahrung von Kunsthandwerk und Kulturgütern unterstützen möchtet, könnt ihr das jetzt über ihr Crowdfunding tun. Dort findet ihr neben den Couture Accessoires selbst, auch beispielweise die Möglichkeit an einem Upcycling-Workshop teilzunehmen.
23 Antworten auf „„Die Modebranche sollte das Konzept der kulturellen Nachhaltigkeit ernster nehmen““
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