Größeninklusion rückt immer mehr in den Fokus der Modebranche. Doch unsere Recherche zeigt: Große Größen werden längst nicht überall angeboten, vor allem nicht in der DACH-Region. Woran das liegt und wo wir kollektiv ansetzen, damit Größeninklusion zum Mainstream wird – vor allem im Handel –, erzählen uns unter anderem Stylistin Michaela Leitz, Redakteurin Christine Scharf und Unternehmerin Kim van Langelaar.
In diesem Deep Dive zum Thema Größeninklusion gibt es Input von:
- Michaela Leitz, Plus-Size-Fashion-Stylistin & Size-Inclusive-Fashion-Expertin
- Kim van Langelaar, Co-Gründerin des Onlineshops Shop like you give a damn
- Christine Scharf, Chefredakteurin und Herausgeberin des Online-Magazins Plus Perfekt
- Ines Rust, Creative Director und Geschäftsführerin beim Label Dawn Denim
- Prof. Sabine Resch, Professur für Modejournalismus an der AMD
- Christina Wille, Gründerin und Geschäftsführerin; Laura Roth, Einkauf & Produktdatenmanagement; Lina Zuppke, Kommunikation & PR beim Fair-Fashion-Shop Loveco
- Oftmals fehlt es an großen Größen im stationären Handel. Einkäufer*innen im sollten sich daher besonders mit dem Thema Größeninklusion befassen, damit Menschen mit größeren Größen auch stationär shoppen können und nicht nur auf Onlineshopping angewiesen sind.
- Um große Größen zu bewerben, müssen auch Models mit großen Größen engagiert werden.
- Es herrscht eine große Diskrepanz zwischen Fair-Fashion und (Ultra-) Fast-Fashion-Unternehmen. Letztere bieten deutlich mehr Auswahl an großen Größen an – vor allem online.
Größeninklusion scheint immer noch eine Seltenheit in der DACH-Region zu sein – vor allem im Einzelhandel. Doch woran liegt das und was muss sich ändern, damit Größeninklusion zum Mainstream wird?
Größeninklusion ist immer noch eine Seltenheit
Bei der Recherche zum Thema Größeninklusion fällt schnell auf: Zunächst scheint es, als würde sich sehr viel tun, aber auf den zweiten Blick wird deutlich, dass wir von einer wahrhaftig größeninklusiven Modebranche noch sehr weit weg sind – und das hauptsächlich in der DACH-Region.
„In den USA und in UK sind viele Brands bereits weiter und bieten ihre Kollektionen in All-Size-Ranges an”, berichtet Christine Scharf, Redakteurin beim Online-Magazin Plus Perfekt. „Das entspricht auch den Erwartungen unserer Leser*innen und sollte die Zukunft sein. Solange es Brands gibt, die ihre Kollektion nur bis Konfektionsgröße 40 oder 42 produzieren und kein Problem darin sehen, gibt es noch viel zu tun. Menschen, die eine große Größe tragen, sind eine kaufstarke Zielgruppe und obwohl das längst bekannt ist, werden sie noch immer stark vernachlässigt.”
Fehlende Verfügbarkeit großer Größen in den Läden
Finden Kund*innen mittlerweile große Größen online, ist dies noch längst nicht der Fall in physischen Geschäften. Der Handel muss noch viel lernen, meint Michaela Leitz, Plus-Size-Fashion-Stylistin & Size-Inclusive-Fashion-Expertin. „Es ist nicht fair oder gar kund*innenfreundlich, dass Menschen mit großen Größen nicht in den Läden willkommen sind und Kleidung in diversen Größen teilweise nur online angeboten wird. Das macht die meisten Kund*innen nicht nur traurig, sondern auch extrem wütend. Aber leider sind wir machtlos – wir können diese Marken aufgrund mangelnder Alternativen auf dem Markt noch nicht mal boykottieren.”
Leitz hat es sich zum Ziel gemacht, Frauen mit großen Größen nicht nur aktiv zu unterstützen, sondern auch die Modewelt auf den Kopf zu stellen und Inklusion einzufordern. „Ganz uneigennützig ist das natürlich nicht – ich leide als Frau mit großer Größe genauso sehr unter der Ungleichheit, wie meine Kund*innen auch.”
Ihre Herausforderung als Stylistin sei überhaupt erst einmal modische Kleidung, abgestimmt auf die passende Passform und Farbpalette für ihre Kund*innen zu finden. „Es gibt nach wie vor sehr wenig auf dem Markt, insbesondere an Kleidung in hochwertiger Qualität. Wenn ich Kund*innen mit speziellen Anforderungen bediene – wie etwa Kurz- oder Langgrößen –, wird es noch viel schwieriger, weil hier auf dem Markt so gut wie nichts verfügbar ist, vor allem nicht in Deutschland.”
Dabei beobachtet die Expertin durchaus auch einen großen Unterschied zwischen Fair-Fashion-Unternehmen und (Ultra-) Fast-Fashion-Unternehmen. „Besonders Ultra-Fast-Fashion-Giganten arbeiten größeninklusiv. Shein bietet zum Beispiel sehr viele, modische Kleidung bis Größe 52 an, während viele Fair-Fashion-Marken nicht über die Größe 42/44 hinaus produzieren. Auch, wenn ich mir den Online-Händler Asos ansehe, merke ich schnell wie inklusiv dieser arbeitet. Wenn ich hier nach Plus-Size-Damenmode suche, werden mir aktuell über 4.000 Produkte angezeigt.” Kund*innen, die große Größen tragen, möchten sich modisch kleiden, aber davon sei die Fair-Fashion-Branche „leider noch sehr weit entfernt und momentan sogar von der Fast-Fashion-Industrie weit überholt.”
Große Größen schaffen es nicht in den Einzelhandel
Christine Scharf kritisiert die Arbeit der Einkäufer*innen im Einzelhandel. „Oft berichten mir Plus-Size-Labels, dass ihre Kollektionen nicht den Weg in den Textileinzelhandel finden, weil sie von den Einkäufer*innen nicht ins Sortiment aufgenommen werden. Wenn Designer*innen große Größen in ihrem Ästhetikverständnis und ihren Kollektionen berücksichtigen, Stylist*innen Frauen jeder Figur und Körpergröße bestmöglich und modisch kleiden und Agenturen vielfältige Models beschäftigen, erweitert sich unser Verständnis für Schönheit. Und Schönheit ist eben auch eng mit gesellschaftlicher Akzeptanz von verschiedenen Körperformen verbunden, was wiederum Inklusion nach sich zieht.”
Michaela Leitz bekommt unterdessen viele Anfragen für Personal Shopping, die sie oftmals ablehnen muss. „Ich kann mit Kund*innen nicht in physischen Läden einkaufen. Meistens hört es in den Läden schon bei Kleidergröße 42/44 auf – meine Kund*innen aber tragen oft noch viel größere Größen. Auf ausschließlich Onlineshopping haben viele verständlicherweise keine Lust. Sie möchten so gerne einfach wie jeder andere Mensch auch in Läden spazieren und Mode anprobieren, das geht aber leider kaum. Die Kund*innen, die mit mir arbeiten, sind glücklich, dass sie eine Person an der Seite haben, die sie nicht nur emotional versteht, sondern auch weiß, wie man mit Kurven arbeitet und diese richtig einkleidet, ohne sie zu verstecken.”
Repräsentation? Fehlanzeige.
Ein weiterer Kritikpunkt: Sogar wenn Mode in großen Größen angeboten wird, fehlt es an Models, mit denen sich Kund*innen identifizieren können und die einen ähnlichen Körper haben, so Michaela Leitz.
Modelagenturen müssen also auch gewillt sein, tatsächlich Models mit großen Größen in ihre Kartei aufzunehmen. „Bedauerlicherweise wird bei Shootings nach wie vor extrem gemogelt und die Fotos werden im Nachhinein gephotoshoppt. Oder ein Model mit Konfektionsgröße 38/40 wird für ein Shooting gebucht, aber mit den gleichen Bildern wird dann Mode in 46/48 beworben. Das ist nicht nur komplett realitätsfern, sondern verunsichert die Käufer*innen komplett.” Das gleiche gilt für Schaufensterpuppen, die kaum unterschiedliche Körperformen repräsentieren.
Online gibt es für Träger*innen großer Größen mehr Auswahl
Vor allem (Ultra-) Fast-Fashion-Unternehmen bieten inzwischen ein großes Sortiment an Plus-Size-Größen an. Ein auf große Größen spezialisierter Online-Händler ist der 2009 gegründete Shop Navabi. Das Team verkauft Kollektionen von knapp 20 Plus-Size-Marken – mehrheitlich Fast-Fashion. Seit 2014 produziert der Shop auch eigene Linie, die von Konfektionsgröße 42 bis 62 geht.
Im Jahr 2020 erzielte das Unternehmen einen Umsatz von 10,4 Millionen Euro und hatte 5,8 Millionen Kund*innenbesuche auf seinen Websites. Vor der Pandemie waren es sogar mehr als 10 Millionen Besucher*innen. (Anm. d. Red.: Aktuellere Umsatzzahlen konnten wir nicht finden.)
Navabis Erfolgsformel: trendorientiertes Inventar, das regelmäßig aktualisiert wird. Zudem bietet der Shop eine Modeberatung von einem eigenen Style Council von Plus-Size-Influencer*innen, Redakteur*innen und Models an.
Warum (Ultra-) Fast Fashion der Modebranche einen Schritt voraus ist
Wenn es um Größeninklusion geht, scheinen (Ultra-) Fast-Fashion-Giganten wie Shein und Boohoo allen anderen Unternehmen einen Schritt voraus zu sein. Shein erlaubt Kund*innen beispielsweise nach Passform zu shoppen, wie etwa „Tall”, „Petite” oder „Fit” – die Kategorie „Große Größen” geht sogar bis 9XL und beinhaltet verschiedene Stilrichtungen, von „Party” über „Boho” bis hin zu „Lässig”. Ähnlich sieht es bei Boohoo aus. Der britische Ultra-Fast-Fashion-Gigant bietet eine eigene Plus-Size-Kategorie an, mit Größen bis zu 5XL. Im Fall von Größeninklusion scheinen diese Unternehmen den demokratischen Fast-Fashion-Ansatz einzulösen und Menschen abseits normierter Passformen an Mode teilhaben zu lassen.
Khloé Kardashian und Rihanna und machen es vor
Das von Reality-Star Khloé Kardashian im Jahr 2016 mitgegründete Unternehmen Good American hat eine einzigartige Philosophie: Interessierte Einzelhändler müssen alle angebotenen Größen kaufen und diese können im Geschäft nicht voneinander getrennt werden – sprich: es darf kein eigenes Plus- oder Petite-Size-Sortiment geben. Im Interview mit der Zeitschrift Emirates Woman aus dem Jahr 2020, erklären Khloé Kardashian und ihre Co-Gründerin Emma Grede, es sei vor allem anfangs schwierig gewesen, Handelspartner zu finden, die sich auf diese Bedingungen einließen. Traditionellerweise werden Standardgrößen von Übergrößen im Einzelhandel voneinander getrennt. Doch genau hier wollten die Unternehmerinnen anknüpfen, denn nur so entstehe ein Dialog. Mit ihrer Unternehmensphilosophie versuchen sie, mit Branchenleuten ins Gespräch zu kommen, um Repräsentation und Vielfalt zu fördern.
Auch das von der US-Sängerin Rihanna gegründete Unternehmen Savage x Fenty bietet seit 2018 Kleidung bis US-Größe 22 an, umgerechnet eine deutsche 52. Zudem besetzte das Unternehmen Plus-Size-Models in seinen Kampagnen und seiner Modenschau.
Im Fair-Fashion-Raum gibt es bei großen Größen weniger Auswahl
Anders sieht es bislang in der Fair-Fashion-Branche aus: Hier gibt es wenig bis gar keine Auswahl, was große Größen angeht. Einen spezialisierten Fair-Fashion-Shop für Größeninklusion konnten wir bei unserer Recherche nicht finden.
Stattdessen haben wir den Marktplatz Shop like you give a damn interviewt, der zum Teil auch größere Größen anbietet. Bei Damenbekleidung konnten wir 963 Produkte in Größe XXL ausfindig machen, 44 Produkte in 3XL und 5 Produkte in 4XL. Zum Vergleich: Bei Konfektionsgröße XS werden 3604 Produkte gefunden, bei Größe S sind es sogar 4394 Produkte. Bei den Größen M und L lassen sich jeweils 4118 und 4393 Produkte finden.
„Inklusion ist einer unserer Grundwerte, und dies geht weiter als das Kuratieren einer Kollektion, die für Menschen mit Übergröße geeignet ist”, erklärt Kim van Langelaar, Co-Gründerin des Onlineshops SLYGAD. „Auch längere und kleinere Menschen haben Schwierigkeiten, Kleidung zu finden, die zu ihrer Körpergröße passt – und das sollten sie nicht müssen. Dies gilt auch für unsere eigenen Teamkolleg*innen.”
Als Marktplatz habe SLYGAD keinen Einfluss darüber, welche Größen die Labels produzieren: „Alles, was wir tun können, ist, die Diskussion am Laufen zu halten und ethische Marken dazu zu drängen, bei ihren Größenentscheidungen so umfassend wie möglich zu sein. Letztlich können wir auf unserer Plattform nur das anbieten, was es bereits auf dem Markt gibt – sprich: was unsere Verkäufer anbieten. Und wir bevorzugen die umfassendsten Marken, sprich: die, die All-Range-Größen anbieten.”
Die Distribution in Fair-Fashion-Läden ist schwierig
Das Jeanslabel Dawn Denim hat 2022 eine neue Größenrange herausgebracht und produziert Jeans nun in den Größen 24 bis 40. Davor produzierte es von Größe 24 bis 33. Nun gilt es, die neue Denim zu verkaufen – doch die Distribution gestaltet sich schwierig. „Bislang werden größere Größen eher in spezialisierten Geschäften verkauft”, berichtet Ines Rust, Creative Director und Geschäftsführerin beim Label Dawn Denim. „Für diese Stores geht unsere Größenrange aber bislang noch nicht weit genug. Und für die Entwicklung weiterer Größen müssen wir zunächst die bestehende Erweiterung – bis Größe 40 – am Markt testen.”
Obwohl das Label die neue „Jeans for every size” mit der Community entwickelt hat – sprich: mit einer eigenen Testimonial-Gruppe – sei es eine große Herausforderung, diese letztlich zu erreichen. „Die Kund*innen kennen ihre Geschäfte und Marktplätze, in denen sie sich wohl fühlen und wo sie ihre Lieblingsteile finden. Leider sind diese Größen im stationären Handel noch zu selten zu finden.”
Als Beispiel nennt Rust die Zusammenarbeit mit dem Fair-Fashion-Store Glore in Luzern. „Sie haben im Rahmen eines Aktionsmonats unsere neuen Größen angeboten. Unsere Jeans war aber das einzige Produkt in der Größenkategorie und Kund*innen sind nicht vertraut damit, dass es das Produkt – und somit auch die Größen – dort im Laden gibt.”
Es werden deutlich mehr Produkte in „Standardgrößen” als großen Größen angeboten
Das Unternehmen Glore verkauft ökofaire Mode online und offline – in der ganzen DACH-Region. Online geht die Größenrange in der Regel von XS bis XL. In der Produktkategorie „T-Shirts, Polos und Tops” für Damen haben wir beispielsweise 44 Artikel in Größe XL gefunden, jedoch 95 Artikel in Größe S, M und L. Bei XS waren es immerhin 76 Artikel. In einigen wenigen Kategorien geht das Sortiment bis XXL, darunter auch in der Kategorie „Kleider & Röcke”. Hier konnten wir jedoch nur 3 Produkte in XXL finden. Zum Vergleich: Bei Größe S, M und L finden wir 52 Artikel.
Zu ähnlichen Resultaten kommen wir auch beim Fair-Fashion-Shop Werte Freunde in Hamburg, der nicht nur offline, sondern auch online verkauft. Bei den T-Shirts für Damen werden online insgesamt 40 verschiedene Produkte gezeigt: 39 davon gibt es in den Größen S, M und L; 21 Produkte in Größe XS; 33 Produkte in XL, aber nur 2 in XXL. (Anm. d. Red.: Aus zeitlichen Gründen konnten Glore und Werte Freunde bis zur Veröffentlichung dieses Artikels keine Stellungnahme zum Thema Größeninklusion nehmen.)
Letztlich haben wir uns auch den Berliner Fair-Fashion-Shop Loveco angeschaut, welcher auch sowohl offline als auch online verkauft. Online geht die Größenrange bei Damenmode in der Regel von XXS bis XXL. Auch hier haben wir uns ähnliche Produktkategorien angeschaut. In der Kategorie „T-Shirts und Tops” ließen sich 130 Produkte in Größe XS finden; 138 Produkte in S; 148 Produkte in M; 189 Produkte in L; 160 Produkte in XL und 36 Produkte in XXL. In der Kategorie „Kleider und Jumpsuits” kamen wir zum folgenden Ergebnis: 65 Artikel in Göße S und L; 75 Artikel in M; 59 Artikel in XL und nur 2 Artikel in XXL. (Anm. d. Red.: Alle Webseiten dieser Onlineshops wurden am 30.01.2023 durchforstet.)
Viele der verkauften Marken würden im Bereich der Womenswear aktuell nur bis XL produzieren – teilweise sogar nur bis L, bestätigten uns Christina Wille (Gründerin und Geschäftsführerin bei Loveco), Laura Roth (Einkauf & Produktdatenmanagement) sowie Lina Zuppke (Kommunikation & PR) schriftlich. Bei größeren Brands wie Armedangels oder Nudie Jeans könnten sie auch größer einkaufen. „Einkauf trägt aber auch für uns immer ein gewisses Risiko. Wenn es also Styles gibt, die sehr speziell sind, auf die wir aber gerade deswegen nicht im Sortiment verzichten wollen, dann versuchen wir diese trotzdem in kleinen Mengen abzubilden – jedoch mit den für uns im Abverkauf stärksten Größen.” Das Feedback ihrer Kund*innen würden sie an die Marken, die sie aktuell anbieten, weitergeben. „Leider tut sich da nicht allzu viel.” (Anm. d. Red.: Bei Armedangels werden im Bereich Damenmode aktuell 416 Produkte in Größe XXL angezeigt; 503 in XL; 648 in L; 539 in M; 531 in S; 517 in XS. Zu finden sind insgesamt 798 Produkte. Nudie Jeans produziert Jeans in Größe 24 bis 38 und Damenoberbekleidung in den Größen XS bis XL.)
Loveco sucht seine Marken vorrangig nach den Kriterien Nachhaltigkeit, fairer Produktion und Tierschutz aus. „Größeninklusion käme dann tatsächlich nachgelagert. Wenn eine Marke da aber auch sehr weit ist, fällt das natürlich positiv auf.” Wille, Roth und Zuppke ergänzen: Andere Gründe, warum es an der Kooperation mit teilweise inklusiveren Marken scheitert, sei, dass einige von ihnen noch nicht marktreif seien – sprich: sie erfüllen noch nicht die Margen, die Loveco zum Verkauf benötigt. Wenn sie an die letzte Fashion Week in Berlin zurückdenken, wurden sie von keiner Brand angesprochen, die explizit auf Plus-Size-Mode abzielt.
In den von uns analysierten Onlineshops fällt auf: Die meisten Models tragen „Standardgrößen”, oftmals eine S. Für das Bildmaterial online greife das Team von Loveco auf die Produktbilder der einzelnen Labels zu. „Wir würden uns freuen, wenn unsere Marken für unterschiedliche Größen auch unterschiedliche Models auf den Bildern abbilden. Das ist aber aktuell leider noch nicht der Fall”, so Lina Zuppke. Feedback für die Marken gibt es in der Regel auch. „Ob sich dann zur nächsten Saison Änderungen ergeben, liegt ganz bei der Brand.“
Eigene Fotoshootings sind bei Loveco eine Seltenheit. „Wenn wir schon Ressourcen in eigene Shootings stecken, müssen wir die Bilder so lange es geht für unsere Zwecke nutzen zu können, um das meiste aus so einem arbeits- und kostenintensiven Shooting herauszuholen. Da wir von Plus-Size-Mode oftmals nicht so viel ordern, wird es hier schwierig, diese auch realistisch abzubilden“, erklärt Zuppke. „Oftmals war es viel leichter, XS-S Models oder XL-XXL Models zu finden. M oder L war wiederum schwierig, dabei würden diese Models unserer Kund*innengruppe am besten entsprechen.”
Geduld ist gefragt
Bei der Fashion Changers Konferenz im November 2022 hielt Norah Joskowitz, Gründerin des größeninklusiven Labels Valle ō Valle, einen Vortrag zum Thema Größeninklusion und Design. Auch sie meinte, dass Labels, die sich entscheiden, große Größen anzubieten, nicht gleich davon ausgehen könnten, dass sich diese genauso gut verkaufen, wie die bisherige „Standardgrößenrange” S bis L. Letztere seien bei vielen Labels seit langer Zeit etabliert – die Kund*innen wüssten das und seien dies gewohnt.
Menschen mit großen Größen wüssten aber oftmals nicht, wenn Labels große – und somit oftmals neue – Größen anbieten. Sie seien jahrelang strukturell vom Markt ausgeschlossen und diskriminiert worden. Joskowitz’s Devise: Geduld haben und den Menschen eine Chance geben, die eigene Marke (neu) kennenzulernen. Aus eigener Erfahrung kann sie sagen, dass sie mit der Zeit immer mehr große Größen verkauft hat.
Die (eigenen) Kund*innen kennen
Labels, die größeninklusiver arbeiten wollen, müssen ihre Zielgruppe kennen, so Christine Scharf. „Wer ist die Person, für die sie Kleidung entwerfen? Was sind ihre Bedürfnisse? Labels sollten keine Angst vor einem Mix aus modischen und funktionalen Pieces haben. Viele Plus-Size-Kund*innen sind Modetrends gegenüber sehr aufgeschlossen und interessiert, möchten sich genauso stylisch kleiden wie Straight-Size-Kund*innen. Andere Plus-Size-Kund*innen fühlen sich dagegen in ihrem Körper nicht zu 100 Prozent wohl und möchten sich eher dezent und funktional kleiden. Es gilt, diese Bedürfnisse zu kennen. Alles in allem stehen Plus-Size-Träger*innen neuen Brands sehr aufgeschlossen gegenüber.”
Personalschulungen sind eine Lösung
Im Januar 2021 gab die zu Gap gehörende Athleisure-Marke Athleta bekannt, dass sie von ihren 5.500 Einzelhandelsmitarbeiter*innen verlangen würde, dass sie größenbezogene Schulungen absolvieren, um ihre Expansion in Plus-Size-Angebote zu ergänzen. Laut CEO Mary Beth Laughton kaufen Plus-Size-Kund*innen von Athleta doppelt so häufig ein und geben fast 90 Prozent mehr aus als Kund*innen, die nicht in die Kategorie XL bis 3XL fallen.
Die Mitarbeitenden werden nach der Teilnahme an der Schulung bodySTRONG-zertifiziert, die speziell dafür entwickelt wurde, um körperpositive Sprache und Tools zur Bewertung von Passform und Komfort zu vermitteln.
Modelagenturen, Stylist*innen, Designer*innen: Alle tragen Verantwortung
Wenn es nach Christine Scharf geht, tragen alle Akteur*innen Verantwortung, die Modebranche größeninklusiver zu gestalten – seien es die Designer*innen, Modelagenturen oder Stylist*innen. „Unser Empfinden für Schönheit wird maßgeblich von unserem Sehverhalten geprägt. Sieht man etwas häufiger, findet man es irgendwann schön und erhält damit mehr gesellschaftliche Akzeptanz. Ein gutes Beispiel dafür ist aktuell die kurvige Figur der Penelope Featherington in der Netflix Serie Bridgerton. Bisher immer als Mauerblümchen in unvorteilhaften Kleidern, erfährt sie als Protagonistin der zweiten Staffel ein Glow-Up mit figurbetonten Looks, die ihre Kurven in Szene setzen.”
Ähnlicher Meinung ist auch Prof. Sabine Resch, die Modejournalismus an der AMD unterrichtet. „Diversity wird gepredigt, aber nicht wirklich gelebt”, erklärt sie. „Beim Blick auf die Kilofrage der Models läuft es ähnlich: Eine Handvoll Curvy-Models sind bekannt, mehr nicht. Neben – ich nenne mal drei – Paloma Elsesser, Ashley Graham und hierzulande Angelina Kirsch fallen nicht viele Namen.”
Daher sei es gut und wichtig, wenn Zeitschriften wie das Curvy Magazine an den Kiosk kommen. „Wichtig ist auch, wenn etablierte Magazine wie Cosmopolitan und Glamour Curvy-Models Sichtbarkeit verschaffen durch das wichtigste Shooting überhaupt, das digital und im Print für die größtmögliche Aufmerksamkeit sorgt – das Cover.” Für viele mag es noch zu wenig sein oder nur langsam vorangehen. Prof. Resch betont, dass der Prozess erst begonnen hat und dauern wird.
Sie beobachtet, dass auch Modedesign-Studierende aus verschiedenen Gründen noch nicht häufiger oder wie selbstverständlich Mode für größere Größen entwerfen – „aus Angst, für den Markt nicht im Zeitgeist zu sein oder nicht den Ansprüchen einer festgefahrenen Branche zu entsprechen.” Auch sei es für junge Kreative manchmal schwierig, sich vom kollektiven Ideal zu lösen. „Ich beobachte bei den jungen Modedesigner*innen enorm viel kreative Kraft für innovative und nachhaltige Materialien. Sie stellen sich beispielsweise auch den technischen Herausforderungen beim Entwickeln von digitaler Mode – ihnen wird tagtäglich und überall vom Metaverse und dem Einsatz von KI gepredigt. Offenbar bleibt aber kein Platz und keine Wertschätzung mehr für große Größen. Nicht weil die jungen Studierenden das nicht wollen, sondern weil es offenbar nicht wirklich gefördert oder gefordert wird in der Branche.”
Prof. Resch ist überzeugt: „Menschen, die große Konfektionsgrößen tragen, den Zugang zur High Fashion und zu trendiger, begehrter Mode zu verwehren, ist arrogant und ignorant.” Eine Zeitenwende ist längst überfällig.
Kein Angebot, keine Nachfrage?
Plus-Size-Kleidung darf keine Nischenecke des Marktes sein und dennoch ist sie weitestgehend immer noch – vor allem in der DACH-Region. Es scheint tatsächlich ein Teufelskreis zu sein: Brands produzieren keine großen Größen – aus den unterschiedlichsten Gründen (mehr dazu in unserer Membership-Recherche zum Thema Größeninklusion und Design) und Shops verkaufen keine großen Größen – sei es, weil Brands diese in erster Linie ohnehin nicht herstellen oder weil große Größen aktuell nicht zu den umsatzstärksten Größen gehören.
Aber wie können sie denn auch zu den umsatzstärksten Größen gehören, wenn sie nicht einmal angeboten werden? Und wenn Kund*innen nicht einmal wissen, dass sie angeboten werden, wenn es doch jahrelang nicht der Fall war? Dabei ist die Gleichung doch leicht verständlich: Das, was nicht angeboten wird, kann auch nicht verkauft werden. Haben wir uns jahrelang nur selbst etwas vorgemacht und uns an Verkaufszahlen geklammert, die in Wirklichkeit nicht der Realität entsprechen? Es ist wohl an der Zeit, Menschen, die große Größen tragen, abzuholen, zu bedienen, als Kund*innen wahrzunehmen – mit modischen Bedürfnissen.
Titelbild: Mafalda Fonseca für Dariadeh