Walk the talk: Wie wir soziales Unternehmer*innentum ehrlich kommunizieren

Wie kommuniziert man Social Entrepreneurship und die dahinterstehenden Werte und Botschaften nach außen, wenn sogar Ultra-Fast-Fashion-Unternehmen wie Shein 50 Millionen US-Dollar in die gemeinnützige Organisation OR Foundation investieren, um den eigenen Social Cause zu vermarkten? Und wie vermeiden wir post-koloniale Machtstrukturen oder gar White Saviourism, wenn wir Gutes kommunizieren? Wir haben unter anderem bei Naomi Ryland, Blessing Adejoro und Lavinia Muth nachgefragt.

In diesem Deep Dive zum Thema Social Entrepreneurship und Kommunikation gibt es Input von 

  • Naomi Ryland, Autorin (Starting A Revolution und Unlearn Patriarchy) und Co-Gründerin von tbd*
  • Blessing Adejoro, Beraterin zu den Themen Diversity, Equity und inklusives Storytelling
  • Lavinia Muth, Nachhaltigkeits-Expertin und Beraterin 
  • Anna Yona, Gründerin und Co-Geschäftsführerin bei Wildling Shoes
  • Philip Heldt, Umwelt-Experte bei der Verbraucherzentrale NRW
Take-Aways
  • Beim Sozialunternehmer*innentum geht es vor allem auch darum, veraltete Prämissen aus dem klassischen, konventionellen Unternehmer*innentum nicht zu reproduzieren. 
  • Zertifizierungen und Siegel sind nicht die Lösung gegen Greenwashing, können aber dennoch wichtig sein, um bestehende Systeme zu stärken.
  • Es ist wichtig, das richtige Vokabular zu verwenden. Welche „Communitys” will das Unternehmen „empowern”? 
  • Bevor es in den Globalen Süden geht, sollten Gründer*innen und Unternehmer*innen sich mit (post-)kolonialen Strukturen auseinandersetzen und schauen, was sie in Europa beziehungsweise in Deutschland verändern können. Wie können sie (auch) hier Equity schaffen für Menschen, die nicht die gleichen Ressourcen und/oder Chancen haben?

Social Entrepreneurship wird immer beliebter. Aber wie gestalten wir es so, dass wir weder kapitalistische Glaubenssätze reproduzieren noch Social Washing betreiben? „Wenn bestimmte Konzepte, Begriffe oder Business Models populärer werden, werden sie auch schnell verwässert”, meint Naomi Ryland, Autorin und Co-Gründerin von tbd*, einer Karriere-Plattform für Jobs mit Sinn. „Es besteht immer die Gefahr, dass Social Washing betrieben wird und dass ein Unternehmen gar nicht das tut, was es vorgibt zu tun.” Welche Tools müssten Gründer*innen sich im Idealfall also aneignen, um soziales Unternehmer*innentum wirklich neu zu denken und die Gesellschaft positiv, und vor allem langfristig zu transformieren? 

Warum ist authentische Kommunikation für ein Social Entrepreneurship so wichtig?

Ein nachhaltige(re)s Modelabel, das sich für faire Löhne einsetzt und diese auch zahlt, ist längst kein Sozialunternehmen. Und spätestens nach den jüngsten Green- und Social-Washing-Skandalen (mehr dazu gleich) sind sich viele Unternehmer*innen einer Sache bewusst geworden: Authentische und transparente Kommunikation ist wichtiger denn je, in allen Aspekten. Wenn man den eigenen Impact nicht mit Zahlen messen und diese konkret nachweisen kann, sollte man damit am besten gar nicht erst damit werben, denn sonst riskiert man, Social Washing zu betreiben. 

Was ist Social Washing?

Der Überbegriff Social Washing umfasst alle Arten ethischer Aktivitäten, oder vielmehr Inaktivität(en), und geht über den schonenden Umgang natürlicher Ressourcen hinaus. Er umfasst Arbeits- und Menschenrechte, Gleichstellung, moderne Sklaverei und vieles mehr. Trotz des gestiegenen Bewusstseins gibt es immer noch viele Unternehmen, die versuchen, sich besser darzustellen, als sie es eigentlich sind. Jüngste Beispiele: der Fall Kliemann und das GOT-Bag-Debakel.

Die Kliemann-Causa und das GOT-Bag-Debakel

Gleich zu Beginn der Corona-Pandemie, im April 2020, fing Fynn Kliemann an, mit seinem vermeintlich öko-fairen Label Oderso Masken zu verkaufen. Die Produktion verlief in Zusammenarbeit mit Global Tactics, einem Unternehmen mit Sitz in Nordrhein-Westfalen, das sich selbst als „Textilmanufaktur für faire & umweltfreundliche Textilien – made in Europe” bezeichnet. Kliemanns Mission: Masken zum Selbstkostenpreis, also ohne Gewinn, zu verkaufen – schließlich sollte sich niemand an einer Pandemie bereichern. Social Business halt. 

Durch eine Investigativrecherche des ZDF Magazins Royale mit Jan Böhmermann kam Anfang Mai 2022 aber heraus: Die Masken wurden scheinbar doch nicht, wie angegeben, „fair in Europa” produziert, sondern unter eher fragwürdigen Bedingungen in Bangladesch und Vietnam. Binnen weniger Wochen konnten dort Hunderttausende Masken hergestellt werden. Die Produktion lief auf Hochtouren – und das mitten in einer Pandemie. Schutz- und Hygienemaßnahmen in den Fabriken gab es laut NGOs wie Clean Clothes Campaign damals so gut wie keine. Nachdem diese Enthüllung online ging, verlor der Influencer innerhalb weniger Stunden Tausende seiner Follower*innen. Der Onlinehändler About You, der die Masken bis dato noch im Sortiment anbot, nahm diese kurzerhand aus dem Shop. Der Influencer und Unternehmer Kliemann musste sogar den Deutschen Nachhaltigkeitspreis zurückgeben, den er für sein Maskenprojekt bekommen hatte.

Anderes Beispiel: Der Rucksackhersteller GOT Bag warb damit, dass er die ersten Rucksäcke aus 100 Prozent Meeresplastik produziert und damit die Ozeane sauberer macht. Die Recherche-Ergebnisse von Zeit Online und des Medien-Start-ups Flip deckten jedoch auf: Der Rucksack besteht gar nicht zu 100 Prozent Meeresplastik – es handelt sich hier also ganz klar um Verbraucher*innentäuschung. Wissenschaftler*innen bezweifeln sogar, dass eine solche Recyclingaktion (zu wie viel Prozent auch immer) überhaupt einen Mehrwert für die Ozeane haben kann. Die Empörung war entsprechend groß, zumal das Maskendebakel um Fynn Kliemann erst wenige Wochen zurücklag.

Social Washing, wie das besser bekannte Greenwashing, tritt also auf, wenn es eine Diskrepanz zwischen vermeintlichem Engagement und echtem Handeln gibt. Die Praxis kann in Form von Markenaktivismus oder Unternehmenserklärungen zu einer Vielzahl sozialer Themen wie Vielfalt, Gerechtigkeit und Inklusion erfolgen, sowie Arbeitsnormen, Menschenrechte und Datenschutz. Und sowohl bei Kliemann als auch bei GOT Bag wurden sogenannte Hot Topics (Ozeanplastik bzw. in Europa fair hergestellte Masken während einer Pandemie) komplett zum eigenen Nutzen missbraucht. Sie wirtschafteten nicht, um die Welt ein kleines Bisschen besser zu gestalten, sondern nutzten gesellschaftliche und ökologische Probleme, um sich selbst daran zu bereichern. 

„Das Marketing rund um Oceanplastic ist interessant, um Menschen auf die eigentliche Problematik Meeresmüll zu sensibilisieren”, meint Philip Heldt, Umwelt-Experte bei der Verbraucherzentrale NRW. „Aus der Nachhaltigkeitsperspektive ist es eher witzlos. Garn aus Ozeanplastik ist sehr schwierig aufzubereiten und nutzt der Umwelt wenig bis gar nicht.”

Patagonia als Vorzeigeunternehmen?

Neulich dann aber ein anderes Szenario, das weltweiten Applaus bekam: Patagonias Gründer, Yvon Chouinard, „verschenkt” sein Unternehmen. Zwei Prozent aller Patagonia-Aktien (die sogenannten stimmberechtigten Aktien des Unternehmens, mit denen alle wichtigen Entscheidungen getroffen werden können) werden an einen neu gegründeten Trust gespendet – den Patagonia Purpose Trust –, der die Mission und Werte des Unternehmens überwachen wird.

Die anderen 98 Prozent der Aktien des Unternehmens gehen an eine gemeinnützige Organisation namens Holdfast Collective, eine gemeinnützige Organisation, die sich der Bekämpfung der Umweltkrise und dem Schutz der Natur verschrieben hat, und die den Gewinn zur Bekämpfung der Umweltkrise, zum Schutz der Natur und der biologischen Vielfalt verwenden wird. 

Da haben wir sie nun: drei sogenannte Social Businesses – drei Extreme –, die wohl kaum unterschiedlicher sein könnten. Und trotzdem haben sie eins gemeinsam: Sie vermarkten ihre Social Cause auch gewinnbringend oder haben dies zumindest getan. Und das ist am Ende auch gut für’s Geschäft und Kund*innenbindung.

Manch eine*r mag auch Patagonias Schritt kritisieren, da die Marke nach wie vor mit Polyester arbeitet und als gewinnorientiertes Unternehmen weiterarbeitet – mit einem jährlichen Umsatz von etwa einer Milliarde Euro. Interessanterweise kommuniziert Patagonia transparent(er), was die eigenen Schwachstellen angeht und ist selbstkritisch in puncto Chemiefasern und Mikroplastik. Aber reicht das?

Nachhaltigkeits-Expertin und Beraterin Lavinia Muth eklärt: „Ich glaube, dass die Antwort auf das ganze Washing, welches auch immer betrieben wird, transparente und ehrliche Kommunikation ist, in der alle Stakeholder*innen mit auf den Weg genommen werden. Und es gibt eine klare Regel: Kommuniziert nichts, was ihr nicht wirklich tut und wofür ihr keine Evidenzen und/oder Primärdaten habt. Und bitte hört alle auf zu kommunizieren, dass man mit Konsum die Erde retten kann. Kann man nicht!”

Wie wichtig sind Siegel für das Kommunizieren eines Social Enterprise?

Siegel können durchaus sinnvoll sein, um ein internes Ziel extern überprüfen zu lassen, sind aber nicht immer aussagekräftig. Nehmen wir das Siegel B CORP, das eine öffentliche Verpflichtung darstellt, die höchsten Standards für soziale und ökologische Leistung, öffentliche Transparenz und rechtliche Verantwortlichkeit zu erfüllen, um Gewinn und Zweck in Einklang zu bringen. Klingt doch gut. So sind auch Marken wie Patagonia B-CORP-zertifiziert, genauso wie seit Kurzem Wildling Shoes „Wir betrachten unsere ökologische und soziale Wirkung als primären Maßstab für den Erfolg unseres Unternehmens – sie ist für uns wichtiger als die Steigerung von Gewinnen”, erklärt Wildlings Gründerin und Co-Geschäftsführerin Anna Yona. „B CORP als Zertifizierung für ökologisch-soziales Wirtschaften passte da vom Ansatz am besten zu unserer Perspektive.”

Sie glaubt, dass die Zertifizierung einen guten Rahmen setze, um verschiedene Bereiche des Unternehmens selbst kritisch in Bezug auf das Gemeinwohl und den Impact unter die Lupe zu nehmen. Das B CORP Assessment – übrigens für jedes Unternehmen kostenlos zugänglich und laut Yona empfehlenswert – helfe dabei, diese kritische Betrachtung des eigenen Unternehmens zu leiten und zu strukturieren.

„Um eine B CORP zu werden, musste Wildling einen ziemlich strengen Prozess durchlaufen”, so Yona. Die B-CORP-Zertifizierung durchleuchtet nicht nur einzelne Produkte, sondern auch die Unternehmensführung, Mitarbeitende, Gesellschaft, Umwelt und Kundschaft. „Da geht es letzten Endes um harte, nackte Zahlen und Fakten. Es ist für uns eine unabhängige Kontrolle und Bestätigung des Engagements in bestimmten, aber eben nicht in allen Unternehmensbereichen. Die Prüfung müsste noch umfassender und tiefer dringen um die Möglichkeit des Greenwashings ausschließen zu können. Denn es gibt leider immer noch genug Beispiele dafür, wie Teile eines Unternehmens positiv ausgerichtet werden können, dabei aber der gesamte Impact insgesamt fraglich bleibt.”

Dennoch sei es ihrer Meinung nach gut, wenn das Momentum, das von B CORP zertifizierten Unternehmen erzeugt wird, dazu führt, dass sich auch große Unternehmen dem Zertifizierungsprozess stellen. Dadurch könne ein gewisser Transformationsprozess angestoßen werden. „Um Ökonomie neu – gerechter, sozialer, ökologischer – zu denken und um langfristig wirklich etwas zu verändern, braucht es nämlich alle. Die Kleinen und die Großen.”

Die Kritik hinter B CORP

Dass Unternehmen wie Patagonia und Wildling Shoes zertifiziert sind, stellt (fast) niemand infrage. Tricky wird’s aber, wenn auch Unternehmen wie Nespresso (das zu Nestlé gehört und Einweg-Kaffeekapseln herstellt) und Evian (ein Unternehmen, das Wasser in Einweg-Plastikflaschen verkauft) ebenfalls B-CORP-zertifiziert sind. Wie kommt das?

Manche Expert*innen sind mittlerweile überzeugt, die B-CORP-Zertifizierung sei zu allgemein, ginge nicht weit genug und unterstütze Greenwashing. Andere kritisieren, dass die Verpflichtungen nicht rechtlich durchsetzbar sind: Es gäbe zu viele Selbstberichte und es fehle an quantifizierbaren Auswirkungen. 

Aber so geht es vielen Zertifizierungen, denn sie sind nunmal nicht die Lösung für Greenwashing. Nachhaltigkeit und Co. sind leere Füllwörter”, Philip Heldt, von der Verbraucher*innenzentrale NRW. „Generell finden wir Siegel als Orientierungsmöglichkeit für Verbraucher*innen deshalb also sinnvoll. Was die Orientierung aber zunehmend schwierig macht: Es gibt vor allem in der Textilindustrie sehr viele, und auch viele sehr schwache Siegel. Wir sprechen von einem Labeldschungel, der die Orientierung letztlich trotzdem schwierig macht.”

Siegel und Zertifizierungen dienen ihrer Funktion nach – zumindest nach meinem Verständnis – als Zusatz zu bestehenden Geschäftsmodellen”, so Nachhaltigkeits-Expertin und Beraterin Lavinia Muth. „Sie sind in der Regel Management-Systeme, die bestimmte Teilbereiche des Unternehmens zertifizieren, nachdem eine Prüfung – im besten Falle – durch eine neutrale Instanz stattgefunden hat.” Kein Siegel und keine Zertifizierung der Welt decke alle Bereiche einer Geschäftstätigkeit ab und prüfe diese bis aufs Mark. Muth glaube dennoch, dass einige Siegel und Zertifizierungen wirklich in einigen Bereichen helfen können und bestehende Systeme stärken können. Das unterscheide sich aber sehr stark vom Siegel und/oder der Zertifizierung. 

Sind die Kritiken an Zertifizierungen wie B CORP berechtigt? Kritiken sind fast immer berechtigt, gerade im Bereich ethischer Geschäftspraktiken und der Nachhaltigkeitswelt”, so Muth. Ihr würde dennoch meistens die Substanz an der Kritik fehlen. Die meisten kritisieren ohne wirklich zu wissen worum es geht. Die B-CORP-Zertifizierung zum Beispiel deckt zum größten Teil sogenannte Governance-Themen ab, also inwieweit Unternehmen Prozesse und Strategien definiert haben, um künftig ethische Geschäfte zu machen. Das ist eine tolle Sache, das machen andere Zertifizierungen zum Beispiel nicht. Andererseits bedeutet das aber nicht, dass ein B-CORP-Unternehmen, das physische Produkte herstellt, all diese Produkte super nachhaltig produziert.”

Den Fall Nespresso empfindet sie als dennoch schwierig. Wenn ich den Auditvorgang und die Zertifizierung richtig verstanden habe, dann muss Nespresso viele wichtige Prozesse und Strategien auf den Weg gebracht und sich dazu verpflichtet haben, nachhaltiger zu werden.” Nespresso war aber im Jahr 2020 noch wegen Kinderarbeit in den Schlagzeilen und diese Art von Menschenrechtsverletzungen schaffe man nicht innerhalb von zwei Jahren ab. Was man von B-CORP hätte erwarten können, in Bezug auf Credibility: unabhängige Untersuchungen in allen Geschäftsbereichen und Lieferketten des Unternehmens durchführen.”

Nespresso sollte zudem dazu verpflichtet werden, Wiedergutmachung für die festgestellten Verstöße zu leisten, strukturelle Änderungen vorzunehmen und nachzuweisen, dass die neuen Unternehmens- und Betriebsprozesse solche Verstöße in Zukunft erfolgreich vermeiden und das über die gesamte Wertschöpfungskette hinweg. Das sei aber nicht passiert. „Somit finde ich es schwierig, der Zertifizierung und dem Apparat dahinter, zu vertrauen.”

Ihre Empfehlung an die Zertifizierungen und/oder Siegelhalter*innen: Bitte bereitet eure Kommunikationsbegleitdokumente für die Unternehmen besser auf. Die meisten Siegel und Zertifizierungen haben nämlich Kommunikationsregeln, an die sich Unternehmen halten sollen. Diese Unterlagen werden aber meiner Meinung nach mit wenig Liebe aufbereitet, denn es sind in der Regel sehr technische Informationen. Und die Unternehmen haben die Herausforderung, dass sie den eigenen Impact an unterschiedliche Stakeholder*innen kommunizieren müssen.” Hier sei mehr Feingefühl gefragt, was die unterschiedlichen Narrative angeht, in Bezug auf die Lieferkette, das generische Berichtswesen, das Marketing. Diese Verantwortung läge aber bei den Zertifizierungen und Siegelhalter*innen selbst.

Worauf kann man Aussagen zu Social Causes denn letztlich prüfen, wenn es nicht unbedingt über die Siegel erfolgt? Im Fashion Changers Podcast, erklärt Sozialunternehmerin Sidonie Fernau, dass sie sich erkundigt, ob das genannte Unternehmen Teil des Social Entrepreneurship Netzwerks Deutschland (SEND) sind. In dem Fall wäre zumindest klar ist, dass das Unternehmen mindestens 51 Prozent des Gewinns gemeinnützig investiert und die Mission sichergestellt ist.

Wie funktioniert Social Entrepreneurship im Kapitalismus?

Die Erde mit Konsum retten, geht nicht. Wie können Sozialunternehmer*innen also im Kapitalismus agieren? Oder eignen sich Social Businesses gar als ein Werkzeug zur Neugestaltung eines kapitalistischen Wirtschaftssystems?

„Ich habe lange gedacht, dass Social Entrepreneurship in einer kapitalistischen, patriarchalischen Gesellschaft funktionieren kann”, so Naomi Ryland. „Mittlerweile hat sich meine Meinung geändert, ich bin kritischer geworden und glaube nicht, dass man innerhalb der gleichen Strukturen wirklich nachhaltige Lösungsansätze findet.” Ryland ist selbst Co-Gründerin von tbd*, einer Karriereplattform für Jobs mit Sinn. Unter anderem werden hier auch Workshops zu den Themen Anti-Diskriminierung, mentale Gesundheit, Resilienz und New Work angeboten.

Wir bräuchten eine gesunde Portion an Kapitalismuskritik und müssten herausfinden, was am Kapitalismus nicht förderlich ist für ein Social Business. „Sozialunternehmer*innentum ist nicht so sexy, wie es von manchen vorgelebt wird. Wenn man langfristige, nachhaltige Wirkung erzielen möchte, muss man viele Dinge zunächst verlernen, neu lernen und neu denken. Das alles kostet viel Zeit und Energie. Viele Menschen haben diese Zeit und Energie aber nicht, andere wollen diese gar nicht erst investieren. Sie wünschen sich eine schnelle, einfache Lösung für ein unglaublich komplexes Problem, aber wenn man Machtstrukturen neu abhandeln muss, dann ist das komplex und zeitintensiv und man muss bereit sein, sich darauf einzulassen,” so Ryland.

Wie wir die Strukturen konventioneller Unternehmen (nicht) reproduzieren

Soziales Unternehmertum unterscheidet sich in vielerlei Hinsicht vom traditionellen Unternehmertum. Ein wichtiger Unterschied des Social Entrepreneurship ist das Ziel, das verfolgt wird. Während klassische Unternehmer*innen in der Regel darauf abzielen, ein Produkt, eine Dienstleistung oder einen Prozess zu schaffen, um kommerziellen Wert zu schaffen, handeln Sozialunternehmer*innen aus dem Gemeinwohl heraus: Sie schaffen Produkte, Dienstleistungen oder Prozesse, von denen die Gesellschaft profitiert und mit denen gesellschaftliche Probleme gelöst werden können. Klingt einfach in der Theorie, ist es aber nicht in der Praxis. 

„Mir fällt oft auf, dass veraltete Prämissen aus dem klassischen, konventionellen Unternehmer*innentum von Sozialunternehmer*innen kritiklos angenommen werden, wie etwa die Art und Weise, wie und wo investiert wird”, erklärt Naomi Ryland. Es bestehe zudem die Gefahr, dass man zu schnell wachsen möchte, Nebeneffekte eines solchen Wachstums missachtet und in alte Muster verfällt. „Es ist natürlich wesentlich, was man mit dem Unternehmen macht – welche Bereiche man beispielsweise angeht und welche Produkte oder Dienstleistungen man anbietet und wieso. Aber ich habe erkannt, dass es ebenso wesentlich ist, wenn nicht sogar noch wesentlicher, wer das Unternehmen leitet, wer den Purpose umsetzt und wie es gemacht wird.”

Naomi Ryland beobachtet in Deutschland eine Sozialunternehmer*innenschaft, die primär aus relativ privilegierten Gründer*innen bestehtweiße Männer und Frauen aus der Mittelschicht. Und diese Gründer*innen stellen oftmals Menschen ein, die genau gleich aussehen oder denken. Die eigenen Glaubenssätze, die man bewusst oder unbewusst gelernt hat, würden auch im Sozialunternehmer*innentum kaum hinterfragt. 

„Eine Vier-Tage-Woche ist auch innerhalb Social Business noch längst kein Thema. Warum?”, fragt Ryland. Solche Faktoren würden weiterhin Systeme und Strukturen fördern, die eigentlich nicht nachhaltig und gesellschaftsfördernd sind: „Ich glaube, das kann man weniger durch die Kommunikation, sondern viel mehr mit den Inhalten und dem eigentlichen Wirtschaften ändern. Wer hat Macht? Wer besitzt Eigentum? Wie und von wem werden Entscheidungen getroffen? Wie wird der Erfolg gemessen?”, so Ryland. 

Die Autorin und Unternehmerin rät dazu, sich beraten zu lassen und in interne Strukturen zu investieren – Geld, aber vor allem auch Zeit. „Ich empfehle auch, sich mit anderen Gründer*innen auszutauschen und Netzwerken beizutreten. Man merkt schnell, dass viele Unternehmer*innen vor ähnlichen Herausforderungen stehen.”

Das richtige Vokabular verwenden

Apropos Kommunikationsregeln. Es gibt bestimmte Begriffe, die gleichermaßen viel und nichts aussagen, wie etwa das Wort Nachhaltigkeit. Das Konzept wird von Marke zu Marke unterschiedlich definiert und vermarktet. 

Ähnliche Begriffe werden auch im Sozialunternehmer*innentum benutzt und eventuell sogar missbraucht. Wie oft begegnet man in dem Kontext dem Wort „Empowerment“? Die Empowerment-Theorie wird bereits seit Jahren kritisiert, da es eine fehlende universelle Definition und theoretische Grundlage gibt. Zudem basiert sie auf inhärenten Machtungleichgewichten. Wer bestimmt denn, was ermächtigend ist? Die Arbeitgeber*innen? Oder doch ein sogenanntes Impact-Unternehmen, dass Näher*innen empowern will?

„Es ist notwendig, Communitys aufzubauen und zu aktivieren”, erklärt Blessing Adejoro, Beraterin zu den Themen Diversity, Equity und inklusives Storytelling. „Aber Community Empowerment ist inzwischen ein solch extremes Buzzword geworden, dass ich sogar fast sagen würde, weiße Unternehmen sollten es lieber vermeiden. Denn es kann passieren, dass sich einige Menschen nicht in dieser vermeintlichen Community nicht repräsentiert fühlen, wenn nicht vorher genau kommuniziert wurde, um welche Art von Gemeinschaft es sich handelt. Es kann sein, dass diese Menschen der gleichen Kultur angehören oder der gleichen Religion oder dass sie sich über die gleichen Werte identifizieren, aber es kann letztlich alles Mögliche sein und das macht die Sache kompliziert.”

Wenn Unternehmer*innen das Wort Community verwenden, sollten sie die dahinterstehenden Werte ständig und immer wieder kommunizieren. Sie sollten gleichzeitig aber auch problematische Aspekte, die eventuell innerhalb dieser Gemeinschaft passiert sind, offen behandeln. Unternehmer*innen müssten aber auch zeigen, dass Fehler ernst genommen werden und sie aus diesen lernen wollen. „Solange diese Aspekte nicht umgesetzt werden, bleibt ,Community’ ein Schlagwort, das man eher vermeiden sollte”, so Adejoro.

So vermeiden wir postkoloniale Machtstrukturen 

Laut Blessing Adejoro seien die Diskussionen rund um White Privilege (sprich: eine Reihe an sozialer und wirtschaftlicher Vorteile, die weiße Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe haben) in Deutschland eher rar. „Es herrscht immer noch die Angst, Themen wie Race und Diskriminierung offen anzusprechen.” Das läge aber auch vor allem daran, dass die historische Basis von Kolonialismus und (post-)kolonialen Machtstrukturen weder an Schulen noch an Universitäten thematisiert wird. Kolonialismus war kein einvernehmliches Tauschgeschäft. Im Gegenteil, es war eine zutiefst gewalttätige Eroberung „fremder” Gebiete. „Dementsprechend herrscht in ehemals kolonialisierten Ländern auch heute noch ein kollektives Trauma. Und genau deshalb finde ich es so problematisch, als Unternehmen in den Globalen Süden zu gehen und sich dort, wieder einmal, in eine Kultur hineinzupflanzen, obwohl nicht danach gefragt wurde.”

Es gehe dabei vor allem um psychologische und sozial-theoretische Thematiken, mit denen sich Unternehmen erst einmal auseinandersetzen sollten. „Alle Parteien müssen sehr viel aufarbeiten, sei es als Täter*in oder als Opfer.”

Kein White Saviourism, bitte

Der White-Savior-Komplex, also Retterkomplex, auch bekannt als White-Knight-Syndrom, tritt auf, wenn sich Menschen nur dann gut fühlen, wenn sie jemandem helfen beziehungsweise glauben, dass ihre Aufgabe oder ihr Zweck darin besteht, den Menschen um sie herum zu helfen, und ihre eigenen Interessen und ihr Wohlbefinden „opfern”, um anderen zu helfen.

Wie lässt sich der Komplex vermeiden? „Es ist wichtig, dass weiße Unternehmer*innen sich mit postkolonialen Strukturen auseinandersetzen. Wie können sie diese Kolonialisierung, mit der sie vielleicht per se nichts zu tun haben, dekonstruieren? Wie thematisieren sie White Privilege?”

Das Problem sei, dass viele Gründer*innen direkt im Globalen Süden arbeiten wollen. „Das ist aber eine Form von Neokolonialismus. Es wäre besser, Unternehmer*innen würden die eigenen Privilegien zunächst adressieren und erst einmal Communitys in Europa beziehungsweise Deutschland unterstützen. Wie können weiße Unternehmen andere Unternehmen unterstützen, die beispielsweise hier in Deutschland ansässig sind, von BIPoC gegründet wurden und eine soziale Mission verfolgen, auf die sie selbst keine Einsicht haben, weil sie nicht der gleichen Kultur angehören? Und wie können sie Equity schaffen, damit diese BIPoC-Unternehmer*innen, die eben nicht die gleichen Ressourcen haben, letztlich doch dieselben Befähigungen haben, um die Leute in ihren Herkunftsländern zu supporten? Diese Equity sollte alle Menschen entlang des Businesses und der eigentlichen Mission erreichen.”

Gründer*innen und Unternehmer*innen sollten sich diese vier Kernfragen stellen:

1) Klinge ich wie ein*e „Retter*in”?
2) Mache ich pauschale Aussagen über eine Gemeinschaft oder eine Kultur?
3) Habe ich die Erlaubnis, die von mir geteilten Informationen zu teilen?
4) Fördere ich kulturelle Hegemonie?

Kollektives Verlernen und Neudenken

Social Entrepreneurship beinhaltet letztlich sehr viel innere Arbeit, ein kollektives Verlernen von veralteten Prämissen und ein Neudenken des Unternehmer*innentums. Und die Kommunikation von solchen Social Business geht über die soziale Mission und das nachhaltige(re) Wirtschaften hinaus. Ein nachhaltigeres Modelabel, das faire Löhne zahlt, ist noch längst kein Sozialunternehmen.

Es geht nicht nur darum, Arbeitskonditionen im Globalen Süden zu verbessern oder die Ozeane von Plastik zu befreien, sondern auch darum, die eigene soziale Mission holistisch zu denken und zu kommunizieren, aber auch immer wieder selbst zu hinterfragen, und das von Anfang an. Wie setze ich den eigenen Purpose in einer kapitalistischen Gesellschaft um? Welche (inklusive) Sprache eignet sich am besten, um diesen Purpose zu vermitteln? Worauf muss ich aufpassen? Muss ich mir Unterstützung holen bei bestimmten Aspekten, über die ich nicht gut genug informiert bin? „Jedes Unternehmen muss für sich herausfinden, wie die eigene Social Justice Journey aussehen soll”, so Blessing Adejoro. Und darauf die geeignete, holistische Kommunikation aufbauen. 

Weiterführende Lektüre

  • Buch: „Unlearn Patriarchy” (mit Beiträgen von u. a. Madeleine Alizadeh, Teresa Bücker, Kübra Gümüşay, Emilia Roig, Kristina Lunz)
  • Buch: „Starting a Revolution: Was wir von Unternehmerinnen über die Zukunft der Arbeitswelt lernen können” (Naomi Ryland und Lisa Jaspers)
  • Glossar des Vereins Neue Deutsche Medienmacher*innen e. V.
  • Glossar für diskriminierungssensible Sprache von Amnesty International

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