Welche Rolle spielen Gewerkschaften in der Modebranche?

Arbeiter*innen und Gewerkschaften in Bangladesch fordern einen gerechteren Lohn und wehren sich entschieden gegen die vorherrschenden Arbeitsbedingungen. Wir wollen wissen, welche Rolle Gewerkschaften für eine gerechtere und nachhaltigere Modebranche spielen und warum so wenige Fair-Fashion-Labels mit ihnen zusammenarbeiten.

Gewerkschaften

Arbeiter*innen und Gewerkschaften in Bangladesch fordern einen gerechteren Lohn und wehren sich entschieden gegen die vorherrschenden Arbeitsbedingungen. Wir wollen wissen, welche Rolle Gewerkschaften für eine gerechtere und nachhaltigere Modebranche spielen und warum so wenige Fair-Fashion-Labels mit ihnen zusammenarbeiten.

Take-Aways
  • Historische Entwicklung: Die Gründung der ersten Gewerkschaften im 19. Jahrhundert war eine direkte Reaktion auf die industrielle Revolution und ihre Auswirkungen auf die Arbeitsbedingungen. Die Gewerkschaftsbewegung hat sich über Jahrhunderte entwickelt und wichtige Verbesserungen in Löhnen, Arbeitszeiten und Arbeitsbedingungen erzielt. Die International Ladies’ Garment Workers’ Union (ILGWU) in den USA und der Streik der Schneider in New York im Jahr 1825 sind Beispiele für frühe gewerkschaftliche Aktivitäten in der Modebranche.
  • Gesetzliche Regelungen: Die gesetzlichen Regelungen zum Thema Gewerkschaften in der Modebranche sind komplex und vielfältig. In Deutschland sind das Tarifvertragsgesetz (TVG) und das Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) von zentraler Bedeutung. In der EU sorgen Richtlinien und Artikel der EU-Charta der Grundrechte für den Schutz kollektiver Arbeitsrechte. 
  • Engagement in Deutschland und darüber hinaus: In Deutschland hat die vereinte Dienstleistungsgewerkschaft ver.di erhebliche Fortschritte erzielt. Das Ziel ist es, die Existenzsicherung für Millionen von Menschen im Einzel- und Versandhandel zu gewährleisten.
  • Kaum Zusammenarbeit mit der Fair-Fashion-Branche: Die Herausforderungen in der Zusammenarbeit zwischen der Fair-Fashion-Branche und Gewerkschaften sind vielfältig. Einige Hindernisse sind die zersplitterten und miteinander konkurrierenden Gewerkschaften, insbesondere in Bangladesch, und die Schwierigkeit, Teilzeitbeschäftigte zu organisieren.

In diesem Deep Dive zum Thema Gewerkschaften gibt es Input von:

  • Rita Schuhmacher, Redakteurin bei der deutschen Gewerkschaft ver.di
  • Daniela Wawrzyniak, Koordinatorin der Auslandsprojekte bei der gemeinnützigen Frauenrechtsorganisation  FEMNET

In Bangladesch herrscht seit Wochen Unruhe in der Bekleidungsindustrie: Der neue festgelegte Mindestlohn von umgerechnet 106 Euro pro Monat (12.500 Taka) stößt auf Widerstand. Arbeiter*innen protestieren gegen die unzureichenden Löhne und erleben dabei massive Repressionen. Es kommt zu Verletzungen, unrechtmäßigen Anklagen und Inhaftierungen. Die Unterstützung der in Bangladesch einkaufenden Unternehmen für die Gewerkschaftsforderungen nach einem höheren Mindestlohn bleibt aus – gefordert wurden 23.000 Taka, umgerechnet 191 Euro. 

Angesichts der ernsten Lage in Bangladeschs Bekleidungsindustrie und der dringlichen Aufrufe von Gewerkschaften und Menschenrechtsorganisationen stellt sich die Frage, wie sich die Situation für die Textilbeschäftigte verbessern lässt. Diese Frage ist nicht nur für Bangladesch, sondern auch für die globalen Strukturen der Modebranche von Bedeutung.

Warum Gewerkschaften im Kampf für Arbeitsrechte so wichtig sind

Gewerkschaften sind Organisationen, die die Interessen von Arbeitnehmenden vertreten. Sie wurden als Reaktion auf die oft schwierigen Arbeitsbedingungen und die Machtungleichgewichte zwischen Beschäftigten und Arbeitgebern während der industriellen Revolution und in den folgenden Jahrhunderten gegründet. In vielen Ländern sind Gewerkschaften etablierte und geschützte Institutionen, die entscheidend zur Vertretung der Interessen der Arbeitnehmenden beitragen. Jedoch gibt es auch Länder, in denen Gewerkschaften verboten sind oder erheblichen Einschränkungen unterliegen, wie beispielsweise in China. Hier haben Arbeitnehmende kaum Möglichkeiten, sich zu organisieren und kollektiv für bessere Arbeitsbedingungen oder höhere Löhne einzutreten.

In Ländern, in denen Gewerkschaften mit besonderen bürokratischen Hürden konfrontiert sind, werden die Herausforderungen für gewerkschaftliche Aktivitäten besonders deutlich. In Bangladesch beispielsweise müssen Gewerkschaften für ihre Gründung die Unterstützung von mindestens 20 Prozent der Beschäftigten eines Betriebs erhalten. Diese Vorgabe stellt eine sehr hohe Hürde dar, insbesondere in großen Betrieben mit vielen Beschäftigten. Solche bürokratischen Anforderungen können die Bildung und das Wirken von Gewerkschaften erheblich erschweren, da sie die Organisierung der Arbeitnehmenden und die Durchführung von gewerkschaftlichen Maßnahmen wie Streiks oder Verhandlungen limitieren.

Das sind die Kernfunktionen von Gewerkschaften:

  • Arbeitnehmende vertreten: Gewerkschaften vertreten die Interessen der Arbeitnehmenden gegenüber Arbeitgebern und Verhandlungspartnern.
  • Kollektivverhandlungen: Durch Verhandlungen mit Arbeitgebern streben Gewerkschaften nach Vereinbarungen über Arbeitsbedingungen und Löhne, die häufig in Tarifverträgen festgehalten werden.
  • Arbeitnehmer*innenrechte schützen: Gewerkschaften setzen sich für die Einhaltung von Arbeitsgesetzen und -vorschriften ein und bieten rechtliche Unterstützung bei Verletzungen der Arbeitnehmer*innenrechte.
  • Arbeitsnormen fördern: Sie sind an der Entwicklung und Durchsetzung von Arbeitsnormen auf nationaler und internationaler Ebene beteiligt, um das Wohlergehen von Arbeitnehmenden zu unterstützen.
  • Sozialer Dialog: Gewerkschaften nehmen an Gesprächen mit Regierungen, Arbeitgeberorganisationen und anderen Stakeholdern teil, um eine ausgeglichene Arbeitspolitik und einen gerechten Arbeitsmarkt zu fördern.
  • Bildung: Sie bieten Mitgliedern Schulungen und Weiterbildungsmöglichkeiten an, um deren Fähigkeiten zu verbessern und sie auf veränderte Arbeitsmarktbedingungen vorzubereiten.
  • Internationale Solidarität: Gewerkschaften arbeiten über Ländergrenzen hinweg zusammen, um internationale Arbeitsstandards zu fördern und gemeinsame Probleme in der globalisierten Industrie anzugehen.
  • Arbeitsbedingungen verbessern: Gewerkschaften setzen sich aktiv für bessere Arbeitsbedingungen ein, insbesondere in Produktionsländern mit niedrigen Lohnkosten, und fördern sichere und humane Arbeitsumgebungen.
  • Faire Löhne aushandeln: Gewerkschaften spielen eine zentrale Rolle bei der Aushandlung angemessener und existenzsichernder Löhne.
  • Kinder- und Zwangsarbeit beenden: Gewerkschaften beteiligen sich aktiv an der Aufdeckung und Beendigung von Kinder- und Zwangsarbeit.
  • Nachhaltigkeit und ethische Produktion fördern: Gewerkschaften setzen sich für verantwortungsvolle Unternehmensführung in Bezug auf soziale und ökologische Auswirkungen der Produktion ein.
  • Gesetzgebung und Politik mitgestalten: Gewerkschaften gestalten Gesetze und politische Maßnahmen mit, um die Interessen der Arbeitnehmer zu schützen und zu fördern, was zu einer gerechteren, sicheren und nachhaltigeren Industrie beiträgt.

Gewerkschaften spielen dementsprechend eine wichtige Rolle bei der Förderung von Gerechtigkeit und Gleichstellung am Arbeitsplatz. Sie tragen dazu bei, die Machtdynamik zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmenden auszugleichen, indem sie eine kollektive Stimme bieten. Durch ihre Arbeit haben Gewerkschaften im Laufe der Geschichte signifikante Verbesserungen in Bezug auf Löhne, Arbeitszeiten, Arbeitsbedingungen und Arbeitsschutz erreicht. Sie sind ein wesentlicher Bestandteil einer demokratischen Gesellschaft und tragen zur sozialen und wirtschaftlichen Stabilität bei.

So entstanden die ersten Gewerkschaften in der Modebranche

Im 19. Jahrhundert, zur Zeit der industriellen Revolution, wurden die Grundsteine für die Gewerkschaftsbewegung in der Modeindustrie gelegt. Mit dem Beginn der Massenproduktion von Bekleidung, die zuvor ausschließlich ohne maschinelle Unterstützung handgefertigt wurde, kam es zu einem deutlichen Anstieg von Fabrikarbeiten, oft unter schwierigen Bedingungen. Arbeiter*innen, darunter zahlreiche Frauen und Kinder, waren mit langen Arbeitszeiten, niedrigen Löhnen und gefährlichen Arbeitsbedingungen konfrontiert.

Als Reaktion darauf begannen die Beschäftigten, sich zu organisieren. Die ersten Gewerkschaften in der Modebranche, die oft lokale oder berufsspezifische Gruppen waren, setzten sich für bessere Arbeitsbedingungen ein. Ein markantes Ereignis dieser frühen Phase war der Streik der Schneider*innen in New York im Jahr 1825, einer der ersten organisierten Arbeitskämpfe in den USA.

Das 20. Jahrhundert brachte einen signifikanten Machtzuwachs für die Gewerkschaften in der Modebranche. Angetrieben von der zunehmenden Massenproduktion und dem Aufstieg großer Modehäuser und Konfektionsmarken, wurden Organisationen wie die International Ladies’ Garment Workers’ Union (ILGWU) in den USA zu einflussreichen Akteuren. Sie setzten sich für höhere Löhne, kürzere Arbeitszeiten und sicherere Arbeitsbedingungen ein. Ein Wendepunkt war das Feuer der Triangle Shirtwaist Factory im Jahr 1911, bei der über 100 Arbeiterinnen ums Leben kamen, was in den USA zu strengeren Arbeitsschutzgesetzen und einer verstärkten Gewerkschaftsbewegung führte.

Mit der Globalisierung der Modebranche in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kam es verstärkt zur Offshore-Produktion, bei der die Herstellung von Waren und Dienstleistungen in Länder mit niedrigeren Produktionskosten und Löhnen verlagert wurde. Unternehmen nutzen diese Verlagerung, um von günstigeren Arbeitskräften, weniger strengen Regulierungen und niedrigeren Steuern zu profitieren. Dies führte jedoch in vielen Produktionsländern zu schlechten Arbeitsbedingungen. Als Reaktion darauf begannen Gewerkschaften, sich global zu organisieren und zu vernetzen, um ihre Effektivität zu bewahren und effektiv für bessere Arbeitsstandards und gerechtere Bedingungen in der globalisierten Modeindustrie einzutreten.

Im 21. Jahrhundert hat sich der Fokus der Gewerkschaften in der Modebranche weiterentwickelt. Zusätzlich zu traditionellen Themen wie Löhnen und Arbeitsbedingungen engagieren sie sich zunehmend für Nachhaltigkeit und gegen die Ausbeutung von Arbeitskräften. Katastrophen wie der Einsturz des Rana-Plaza-Gebäudes in Bangladesch im Jahr 2013, bei dem über 1.000 Textilarbeiter*innen starben, lenkten die Aufmerksamkeit auf die Notwendigkeit globaler Regulierungen und verantwortungsvoller Praktiken in der Modeindustrie.

Vereinigungsfreiheit und Kollektivverhandlungen

Die Gesetzgebung zum Thema Gewerkschaften in der Modebranche variiert weltweit erheblich und ist ein komplexes Feld, das von lokalen, nationalen und internationalen Rechtsrahmen abhängt. 

  • Internationale Rahmenbedingungen: Die ILO-Übereinkommen Nr. 87 (Vereinigungsfreiheit) und Nr. 98 (Recht auf Kollektivverhandlungen), beide aus dem Jahr 1948, definieren das Recht auf Vereinigungsfreiheit und Kollektivverhandlungen als internationale Arbeitsrechte. Diese gehören zu den Kernarbeitsnormen, die auch das Verbot von Zwangsarbeit, Kinderarbeit und Diskriminierung am Arbeitsplatz umfassen.
    • Nationale Umsetzung: Obwohl ILO-Mitgliedsstaaten selbst entscheiden, welche Übereinkommen sie ratifizieren, gelten die Kernarbeitsnormen in allen Mitgliedsstaaten, unabhängig von der Ratifizierung.
  • Deutsche Gesetzgebung:
    • Das Tarifvertragsgesetz (TVG) ermöglicht es Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden, bindende Tarifverträge auszuhandeln, die Arbeits- und Lohnbedingungen festlegen.
    • Das Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) ermöglicht die Mitbestimmung der Arbeitnehmenden durch den Betriebsrat, der das Recht hat, in bestimmten Angelegenheiten mit dem Arbeitgeber zu verhandeln.
  • EU-Rechtsrahmen:
  • USA: Der National Labor Relations Act gewährleistet das Recht von Arbeitnehmenden, Gewerkschaften zu gründen und kollektiv zu verhandeln, was für eine effektive Interessenvertretung am Arbeitsplatz entscheidend ist.

Es ist wichtig zu betonen, dass die Durchsetzung und Wirksamkeit dieser Gesetze stark variieren kann. In einigen Fällen gibt es erhebliche Lücken zwischen dem, was gesetzlich vorgeschrieben ist, und der Realität in der Modebranche, insbesondere in Ländern, in denen die Überwachung und Durchsetzung von Arbeitsstandards schwach ist.

Was Gewerkschaften in Deutschland bisher erreicht haben

In Deutschland regeln das Tarifvertragsgesetz (TVG) und das Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) die Beziehungen zwischen Gewerkschaften, Arbeitnehmer*innenvertretungen und Arbeitgebern. Diese Kollektivverhandlungsgesetze ermöglichen es Gewerkschaften, im Namen ihrer Mitglieder mit Arbeitgebern zu verhandeln. So ermöglicht das TVG Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden, Arbeits- und Lohnbedingungen in Tarifverträgen auszuhandeln. Diese Tarifverträge sind für alle beteiligten Parteien bindend und stellen somit eine zentrale Grundlage für die Arbeitsbeziehungen in Deutschland dar. Das BetrVG regelt hingegen die Mitbestimmung der Arbeitnehmenden in Unternehmen durch den Betriebsrat. Der Betriebsrat, der von den Arbeitnehmenden eines Betriebs gewählt wird, hat das Recht, in bestimmten Angelegenheiten mit dem Arbeitgeber zu verhandeln und die Interessen der Arbeitnehmenden zu vertreten. 

Eine der größten deutschen Gewerkschaften ist die vereinte Diensleistungsgewerkschaft ver.di mit rund zwei Millionen Mitgliedern. Sie wurde im Jahr 2001 durch den Zusammenschluss von fünf Einzelgewerkschaften gegründet und ist Teil des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB). ver.di vertritt Arbeitnehmende und Selbstständige aus über 1.000 verschiedenen Berufen, die hauptsächlich in verschiedenen Dienstleistungssektoren tätig sind, darunter öffentliche Dienste, Bildung, Gesundheitswesen, Einzelhandel, Medien, Industrie und Finanzdienstleistungen.

Durch ihre Arbeit unterstützt die Gewerkschaft nicht nur Arbeitnehmende in Deutschland, sondern nimmt auch auf internationaler Ebene Einfluss, um die Arbeitsbedingungen entlang der globalen Lieferketten zu verbessern.

„Es waren beispielsweise H&M-Betriebsräte, die damals, nach dem Einsturz des Rana-Plaza-Gebäudes, nach Bangladesch gereist sind, um sich vor Ort anzusehen, unter welchen Bedingungen die Menschen arbeiten”, erklärt Rita Schuhmacher, Redakteurin bei ver.di. „Gemeinsam mit den Betriebsräten haben wir mit anderen internationalen Gewerkschaften und Gewerkschaftsdachverbänden den sogenannten Bangladesh Accord durchgesetzt – ein Brandschutzabkommen für die Fabriken, die unter anderem für den deutschen Einzel- und Versandhandel Mode produzieren.”

In den letzten Monaten habe sich ver.di gemeinsam mit den Beschäftigten im Einzel- und Versandhandel auch für Gehaltserhöhungen in Deutschland eingesetzt. Insbesondere Mitarbeitende im stationären Einzelhandel, wie dem Textileinzelhandel, hätten aufgrund der Corona-bedingten Herausforderungen erhebliche Einbußen erlitten. „In diesen unsicheren Zeiten ist es von entscheidender Bedeutung, Schutzregelungen und Existenzsicherung für die fast drei Millionen Menschen, überwiegend Frauen, im Einzel- und Versandhandel in Deutschland sicherzustellen. Das übergeordnete Ziel dieser Tarifrunde ist es, durch signifikante Einkommenssteigerungen einen Beitrag zur Eindämmung von drohender Armut und Altersarmut im Handel zu leisten, insbesondere im Hinblick auf Frauenaltersarmut, da der Frauenanteil im Einzelhandel etwa 66 Prozent beträgt.”

Als Teil der Mindestlohnkommission setzt sich ver.di für einen höheren Mindestlohn in Deutschland ein. „Der Sprung des Mindestlohns im Jahr 2022 von 10,45 Euro auf 12 Euro pro Stunde wäre ohne unseren anhaltenden Einsatz nicht möglich gewesen. Wegen der durch die Inflation stark gestiegenen Preise, vor allem auch für grundlegende Waren wie Lebensmittel, fordern wir jetzt einen weiteren großen Sprung auf mindestens 14 Euro Mindestlohn”, so Rita Schuhmacher.

Ein wesentlicher Baustein in den Bemühungen gegen Kinderarbeit und für faire Bedingungen in der Textilindustrie sei aus Schuhmachers Sicht  ein starkes Lieferkettengesetz, weshalb ver.di Teil der Initiative Lieferkettengesetz ist. „Seit Januar 2023 tragen Unternehmen hierzulande die Verantwortung für die Einhaltung der Menschenrechte entlang ihrer Lieferketten”, so Schuhmacher. „Das ist durchaus ein positiver Schritt, reicht aus unserer Sicht aber nicht aus. Wir brauchen ein europaweites Lieferkettengesetz, um wirklich effektiv gegen Kinderarbeit vorzugehen, faire Löhne zu sichern und klimabezogene Sorgfaltspflichten zu etablieren. Deshalb setzen wir uns weiterhin dafür ein, dass Unternehmen ihre Verantwortung wahrnehmen und die Arbeits- sowie Lebensbedingungen der Beschäftigten in der Textil-, Sport-, Schuh- und Lederindustrie weltweit verbessern.”

Warum die Fair-Fashion-Branche so wenig mit Gewerkschaften zusammenarbeitet

Unsere Recherche zeigt, dass in der Fair-Fashion-Branche eine Zusammenarbeit mit Gewerkschaften eher selten anzutreffen ist. „Aus meiner Sicht liegt das vor allem daran, dass es in den Fabriken kaum Gewerkschaften gibt und zu wenig Kenntnisse und Connections vor Ort bestehen”, erklärt Daniela Wawrzyniak, Koordinatorin der Auslandsprojekte bei der gemeinnützige Frauenrechtsorganisation  FEMNET. FEMNET setzt sich für die Rechte von Textilarbeiterinnen ein und hat dementsprechend relevante Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit Gewerkschaften. Ihre Kenntnisse basieren auf der Arbeit in Ländern mit intensiver Textilproduktion, wie etwa Bangladesch. Diese Erfahrung ermöglicht es der NGO, fundierte Einblicke in die Beziehung zwischen Gewerkschaften und der Modeindustrie zu geben. Ihre Aussagen zu den Herausforderungen bei der Zusammenarbeit zwischen der (Fair-) Fashion-Branche und Gewerkschaften basieren daher auf praktischen Erfahrungen und direkten Beobachtungen. 

Laut Wawrzyniak müsse man ein gutes Netzwerk haben und die Regionen kennen, um mit Gewerkschaften zusammenzuarbeiten. „Es ist aber auch ein komplexes Feld: Man hat die Gewerkschaften auf Fabrikebene, die es nur in den seltensten Fällen gibt. Dann gibt es die Federations, die pro Region mehrere Gewerkschaften zusammenbringen und dann wiederum die Federations und andere Plattformen auf nationaler Ebene. Gerade in Bangladesch kommt noch eine große Zersplitterung und gegenseitige Konkurrenz unter Gewerkschaften hinzu. Da muss man schon eine gewisse Kenntnis und Erfahrung vor Ort haben, um sinnvolle Kooperationen hinzubekommen.”

Die Zusammenarbeit mit lokalen Gewerkschaften sei nicht so leicht wie mit NGOs, es gebe mehr Sprachbarrieren und die Themen seien „ungemütlicher oder direkter”. „Außerdem kommt hinzu, dass Unternehmen es sich nicht mit den eigenen Zulieferfabriken verscherzen wollen – wobei man bei öko-fairen Brands hoffen sollte, dass die Lieferanten es ebenfalls wichtig finden, Gewerkschaften zu haben”, sagt Daniela Wawrzyniak.

In Bangladesch sind von den rund vier Millionen Arbeitnehmer*innen im Bekleidungssektor insgesamt 286.351 Personen in Gewerkschaften eingebunden. Das geht aus der im Jahr 2021 Studie „Social Dialogue in the 21st Century“ hervor, einem Gemeinschaftsprojekt der Cornell University und der Strategic Partnership for Garment Supply Chain Transformation. Beteiligt an diesem Projekt sind die Fair Wear Foundation, sowie die CNV Internationaal und Mondiaal FNV. Die Studie geht davon aus, dass die Gewerkschaftsdichte im bangladeschischen Bekleidungssektor 7,2 Prozent beträgt, was laut Wawrzyniak realistisch scheint, wenn auch sehr wenig. „Wir gehen von einer Gewerkschaftsdichte von fünf bis sieben Prozent aus.“ (Anm. d. Red.: CNV Internationaal ist ein Teil des Christlichen Nationalen Gewerkschaftsbundes der Niederlande und engagiert sich für Arbeitsrechte im Globalen Süden, insbesondere durch die Förderung von fairen Arbeitsbedingungen und den Aufbau von Gewerkschaften. Mondiaal FNV, der internationale Arm des größten niederländischen Gewerkschaftsbundes FNV, konzentriert sich auf die Förderung von Arbeitnehmerrechten weltweit und legt einen besonderen Fokus auf die Bekämpfung von Kinderarbeit und die Unterstützung von sozialen Dialogprozessen.)

Auch in Deutschland arbeiten kaum Modeschaffende aus der Fair-Fashion-Branche mit Gewerkschaften zusammen. Rita Schuhmacher von der Gewerkschaft ver.di führt dies hauptsächlich auf die jüngsten wirtschaftlichen Herausforderungen zurück, mit denen sich die Modebranche konfrontiert sieht. Besonders während der Corona-Pandemie erlitt die Branche signifikante Einbußen: Viele Geschäfte blieben während der Lockdowns geschlossen, was zu einem deutlichen Rückgang der Umsätze führte. Infolgedessen mussten zahlreiche Modeketten Filialen schließen und Personal entlassen. „Dazu kommt, dass gerade in der Fashion-Branche sehr viele Teilzeitbeschäftigte arbeiten und das oftmals auf Minijob-Basis, die nur schwer zu organisieren sind.” Die Organisation von Teilzeitbeschäftigten und Minijobber*innen in der Modebranche ist besonders herausfordernd, hauptsächlich aufgrund ihrer flexiblen und unregelmäßigen Arbeitszeiten sowie eines oft mangelnden Bewusstseins für Arbeitsrechte. Zudem kann die Angst vor Jobverlust und eine geringere Bindung zum Arbeitsplatz die Motivation für gewerkschaftliches Engagement bei diesen Beschäftigungsgruppen weiter einschränken.

Die Fähigkeit der Gewerkschaften, höhere Löhne oder bessere Arbeitsbedingungen auszuhandeln, hänge laut Rita Schuhmacher demnach nicht nur vom Verhandlungsgeschick ab. „Die Grundformel ist einfach: Je mehr Mitglieder, desto mehr Durchsetzungskraft, desto bessere Tarifverträge.” Dasselbe gelte auch für Selbstständige in der Modebranche: „Je mehr Selbstständige sich zusammentun, desto schlagkräftiger können sie ihre spezifischen Interessen in der Arbeitswelt, der Gesellschaft und auch der Gewerkschaft vertreten.”

Bessere Zusammenarbeit mit Gewerkschaften

Rukmini Vaderapura Puttaswamy, Präsidentin der Garment Labour Union (GLU) in Indien, schlägt wichtige Punkte hervor, die für die Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der globalen Modebranche entscheidend sind. In einem Gespräch mit den Co-Gründerinnen von Fashion Changers, Vreni Jäckle und Nina Lorenzen, die Anfang 2023 mit Fairtrade Deutschland nach Indien gereist sind, betonte Puttaswamy die Bedeutung einer engeren Zusammenarbeit zwischen Marken im globalen Norden und Gewerkschaften. Sie fordert, dass Marken Verträge bevorzugt mit Fabriken abschließen sollten, die mit Gewerkschaften zusammenarbeiten. Zudem plädiert sie dafür, dass Gewerkschaften in Auditierungen einbezogen und Siegel nicht nur in Kooperation mit Geschäftsunternehmen, sondern auch mit Grassroots-Organisationen entwickelt werden.

Daniela Wawrzyniak betont die finanzielle Unterstützung lokaler Gewerkschaften. „Brands und Einzelpersonen, die die Gewerkschaftsbewegung unterstützen möchten, können direkt Geld spenden, wie etwa an die National Garment Workers Federation (NGWF) und die Bangladesh Garment and Industrial Workers Federation (BGIWF), die Gewerkschaft der Aktivistin Kalpona Akter.“ Kalpona Akter leitet zudem eine NGO, das Bangladesh Center for Workers’ Solidarity, das ebenfalls direkt durch Spenden unterstützt werden kann. „Allerdings ist das Annehmen ausländischer Gelder oft mit Bürokratie und komplexen Antragstellungen verbunden. Daher ist es so wichtig, die Organisationen genau zu kennen, um eine effektive Unterstützung zu gewährleisten.“

FEMNET selbst unterstützt lokale Gewerkschaften finanziell und legt den Fokus dabei eher auf größere Fabrikverbände als auf kleinere Gewerkschaften. Diese Strategie ermöglicht es, die Mittel effizienter einzusetzen und einen breiteren Einfluss auf die Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der Textilindustrie zu erzielen.

FEMNET arbeitet aktuell auch an einem Projekt, dem „Worker-based Monitoring“ (WBM), das in Kooperation mit dem SÜDWIND-Institut, INKOTA-netzwerk, HEJSupport sowie lokalen Organisationen in Bangladesch – darunter die Environment and Social Development Organization (ESDO) und das Bangladesh Institute of Labour Studies (BILS) –, entwickelt wird. Das WBM ist ein Verfahren, das durch Befragungen von Textilarbeiter*innen außerhalb der Fabriken durchgeführt wird, um Arbeitsbedingungen in der Textilindustrie zu erfassen und zu analysieren.

Diese Methode liefert Daten direkt von den Beschäftigten, die Risiken und Verstöße gegen das Arbeitsrecht aufzeigen. Die gewonnenen Informationen werden mit dem bangladeschischen Arbeitsrecht abgeglichen, online aufbereitet und jährlich aktualisiert. Das macht das Tool besonders wertvoll für Gewerkschaften, da es ihnen konkrete Daten für Verhandlungen mit Zulieferfabriken an die Hand gibt, um substantielle Verbesserungen in den Produktionsbedingungen zu erreichen. Das Projekt wird mit Mitteln des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) gefördert und läuft in der ersten Projektphase von September 2023 bis August 2026.

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