Existenzsichernde Löhne sind in den textilen Lieferketten nach wie vor eine Seltenheit. Auch in den Diskussionen rund um Umwelt und klimaangepassten Fabriken wird die soziale Komponente weitgehend vernachlässigt. Warum das so ist und wo die Modebranche kollektiv anknüpfen kann, um eine sozialgerechtere Industrie zu fördern, erklärt Dr. Gisela Burckhardt im Interview. Als Gründerin und Vorstandsvorsitzende von FEMNET e.V., setzt sie sich seit 2007 für die Rechte von Frauen in der globalen Bekleidungsindustrie ein.
Am 1. Oktober 2024 wird Dr. Gisela Burckhardt ihre Expertise als Speakerin auf der Fashion Changers Konferenz teilen und spannende Einblicke in eine ganzheitlich nachhaltigere Textilbranche geben. Unserer Autorin Medina Imsirovic hat sie vorab ein Interview gegeben.
Bei der Fashion Changers Konferenz 2024 wird unter anderem um soziale Gerechtigkeit in den textilen Lieferketten gehen. Wie definierst du dieses Konzept?
Dr. Gisela Burckhardt: „Soziale Gerechtigkeit bedeutet für mich in erster Linie, dass die Beschäftigten vor Ort einen existenzsichernden Lohn erhalten. Zweitens geht es darum, Diskriminierung zu vermeiden, insbesondere die Diskriminierung von Frauen und die Bekämpfung geschlechtsspezifischer Gewalt. Ein dritter wichtiger Aspekt ist es, das Machtungleichgewicht zwischen dem globalen Norden und Süden auszubalancieren. Dieses Ungleichgewicht kann man nicht einfach abschaffen, aber es ist entscheidend, sich dessen bewusst zu sein und aktiv daran zu arbeiten, eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe zu erreichen.“
Hast du aus dieser Vision von sozialer Gerechtigkeit heraus FEMNET gegründet?
„Genau, die Gründung von FEMNET im Jahr 2007 war die Konsequenz aus meinen Erfahrungen als entwicklungspolitische Gutachterin in Asien, Afrika und Lateinamerika. Ich erkannte, dass es nicht ausreicht, nur vor Ort zu helfen, sondern dass wir in den Konsumländern an den Handelsbeziehungen arbeiten müssen, um die schlechten Arbeitsbedingungen in den Produktionsländern nachhaltig zu verbessern.“
Welche Fortschritte hast du in den letzten 20 Jahren bei den Arbeitsbedingungen in der Textilindustrie beobachten können?
„Ein großer Wendepunkt war der Einsturz des Rana-Plaza-Gebäudes. Nach dieser Katastrophe entstand der Bangladesh Accord, ein rechtlich bindendes Abkommen, das Modeunternehmen zur Verbesserung der Gebäude- und Brandschutzstandards in den Fabriken in Bangladesch verpflichtete. Dadurch wurde die Sicherheit erheblich verbessert, mit mehr Brandschutzmaßnahmen, besseren elektrischen Installationen und gesicherten Notausgängen. Doch trotz sicherer Fabriken haben sich die grundlegenden Arbeitsbedingungen und Löhne kaum verbessert.“
Wie schafft man es denn, existenzsichernde Löhne umzusetzen? Wer trägt hier die Verantwortung?
„Deutsche Unternehmen erkennen oft an, dass die Mindestlöhne in den Produktionsländern unzureichend sind, behaupten jedoch, allein nichts ändern zu können, da sie nur einen kleinen Teil der Aufträge ausmachen. Sie argumentieren, dass Tarifverträge oder Regierungsmaßnahmen erforderlich wären. In Ländern wie Bangladesch zögert die Regierung jedoch, die Löhne signifikant zu erhöhen, aus Angst, Unternehmen könnten abwandern. Diese Sorge ist oft unbegründet – China hat die höchsten Löhne und bleibt dennoch der größte Exporteur von Kleidung.“
Gibt es neben den Löhnen noch andere Herausforderungen, bei denen es nach wie vor schwierig ist, Fortschritte zu erzielen?
„Vor allem nach der Corona-Pandemie hat der Arbeitsdruck in den Fabriken stark zugenommen, da viele Unternehmen Stellen – besonders von gewerkschaftlich organisierten Arbeiter*innen – abgebaut haben. Die verbliebenen Beschäftigten müssen nun in kürzerer Zeit ein höheres Arbeitspensum bewältigen, was das Tempo drastisch erhöht.
Ein weiteres drängendes Thema ist die geschlechtsspezifische Gewalt am Arbeitsplatz, die in Indien und Bangladesch stark verbreitet ist, im Gegensatz zu China oder Vietnam, wo patriarchale Strukturen weniger ausgeprägt sind. Frauen werden beispielsweise sexuell belästigt. Auch werden sie häufig gezwungen, länger zu arbeiten oder erleiden körperliche Misshandlungen, wenn sie ihre Arbeitsziele nicht erreichen.“
Gibt es auch positive Entwicklungen im Kampf gegen geschlechtsspezifische Gewalt in der Modebranche?
„Ein kleiner Erfolg ist das 2022 entstandene Dindigul Agreement in Indien, das nach der Vergewaltigung und Ermordung einer jungen Frau durch ihren Aufseher ins Leben gerufen wurde.
Infolge einer Kampagne von Asia Floor Wage Alliance (AFWA) wurden Unternehmen wie H&M, PVH und GAP dazu gezwungen, ein rechtlich bindendes Abkommen gegen geschlechtsspezifische Gewalt am Arbeitsplatz zu unterzeichnen. Es bleibt abzuwarten, welche Erfolge das Abkommen letztlich erzielen wird.“
Apropos Gewerkschaften. Bei Fashion Changers haben wir recherchiert, warum so wenige deutsche Unternehmen – auch Fair-Fashion-Unternehmen – mit Gewerkschaften zusammenarbeiten. Was denkst du darüber?
„Viele deutsche Unternehmen sehen Gewerkschaften als störend an, weil sie ihre Geschäftspraktiken behindern könnten. Diese ablehnende Haltung gegenüber Gewerkschaften in Deutschland spiegelt sich auch in den Produktionsländern wider, wo Gewerkschaften oft vermieden oder unterdrückt werden. Wie und warum wir diese Abwehrhaltung abbauen müssen, diskutieren wir auf der Konferenz.“
Ein Vorwurf von Produzentenseite ist, dass viele Gewerkschaften in Indien oder Bangladesch mit politischen Parteien verbunden sind. Schränkt das ihre Unabhängigkeit ein, oder können Gewerkschaften dennoch erfolgreich arbeiten?
„Politische Verbindungen können den Zugang zu finanziellen Ressourcen verschaffen. Problematisch wird es jedoch, wenn die Gewerkschaften nur die Vorgaben der Parteien wiederholen, da dies ihre Unabhängigkeit und ihre Fähigkeit schwächt, die Interessen der Arbeiter*innen effektiv zu vertreten.
Ich beobachte jedoch auch ein anderes Problem: die geringe Präsenz von Frauen in Führungspositionen innerhalb der Gewerkschaften, besonders in Indien und Bangadesch. Dies reflektiert das patriarchale Gesellschaftsbild, das auch in den Strukturen der Gewerkschaften fest verankert ist. Obwohl Gewerkschaften oft behaupten, für Gleichberechtigung einzutreten, werden Frauen meistens nicht als gleichwertig angesehen, was dringend geändert werden muss.“
Du hast Aktien bei Unternehmen wie Hugo Boss und Zalando gekauft. Warum hast du das gemacht?
„Der Besitz einer Aktie gibt mir das Recht, an Hauptversammlungen teilzunehmen und dort zu sprechen. Bei einer Hugo-Boss-Hauptversammlung war ich zum Beispiel mit einer indischen Kollegin, die vor Ort gesprochen hat. Kürzlich haben wir im Rahmen der Clean Clothes Campaign auf der Adidas-Hauptversammlung zusammen mit einem Gewerkschafter aus Kambodscha gesprochen. Es macht einen großen Unterschied, wenn die direkt Betroffenen selbst zu Wort kommen.“
Wie bereitest du dich auf solche Aktionärsversammlungen vor?
„Ich lese mir zum Beispiel die Nachhaltigkeitsberichte durch und formuliere gezielte Fragen für die Hauptversammlungen. Beim letzten Stakeholder-Treffen von Hugo Boss wurden fünf Nachhaltigkeitsziele vorgestellt, aber keines davon war von sozialer Natur. Öffentlicher Druck und kontinuierliche Nachfrage sind wichtig, um auch soziale Themen auf die Agenda zu bringen.
Eines der Hauptziele ist es, die Aufmerksamkeit der Medien zu gewinnen, damit über diese Themen berichtet wird. Durch die Präsenz auf Hauptversammlungen gewinnt man Gehör – sei es bei Aktionär*innen, im Aufsichtsrat oder im Vorstand.
Bei meiner ersten Teilnahme an einer Hugo-Boss-Hauptversammlung erhielt ich Unterstützung von anderen Aktionär*innen. Das erhöht den Druck auf das Unternehmen, sich mit diesen Fragen auseinanderzusetzen. Interessanterweise wollen CSR-Leute innerhalb der Unternehmen manchmal genau das Gleiche wie wir.“
Apropos CSR – das steht ja für Corporate Social Responsibility. Doch die sozialen Aspekte von CSR, wie faire Arbeitsbedingungen und existenzsichernde Löhne, werden oft außer Acht gelassen, wie man am Beispiel von Hugo Boss sehen kann.
„Richtig. Wir sehen, dass viel in Sachen Umwelt getan wird, auch auf EU-Ebene mit der Textilstrategie oder dem Lieferkettengesetz. Dennoch werden die sozialen Aspekte immer noch weitestgehend vernachlässigt. Ich freue mich, genau dieses Thema im Detail auf der Konferenz zu besprechen.“
Vielen Dank für das aufschlussreiche Gespräch, Gisela.
Du willst mehr zum Thema globale Gerechtigkeit in der Modebranche erfahren? Dann bist du bei uns genau richtig!
Unsere Interviewpartnerin Dr. Gisela Burckhardt wird auf der Fashion Changers Konferenz 2024 eine tiefgehende Interview-Session zu dem Thema „More than solidarity: Was braucht die Modebranche jetzt für globale Gerechtigkeit?” halten.
Dabei wird sie unter anderem auf folgende Aspekte eingehen:
- Warum findet die Zusammenarbeit zwischen „fairer“ Mode und Gewerkschaften nur selten statt?
- Wie können die Rechte und Belange von Textilarbeiter*innen weltweit besser unterstützt werden?
- Welchen Einfluss haben Zertifizierungen und Siegel wirklich auf die Arbeitsbedingungen in der Modeindustrie?
- Welche Rolle kann und sollte die Modebranche in der Förderung globaler Gerechtigkeit spielen?
Dieser Programmpunkt orientiert sich an den SDG’s 5 „Geschlechtergleichheit“, Ziel 8 „Menschenwürdige Arbeit und Wirtschaftswachstum”, Ziel 10 „Weniger Ungleichheiten“ und Ziel 17 „Partnerschaften zur Erreichung der Ziele“ der 17 Ziele für Nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen.
Wenn du mehr über diese wichtigen Themen und die Perspektiven einer jahrzehntelangen Aktivistin erfahren möchtest, dann sichere dir jetzt dein Konferenz-Ticket.
Über Gisela Burckhardt
Dr. Gisela Burckhardt ist Expertin und Aktivistin im Bereich Menschenrechte und fairer Arbeitsbedingungen in der Textil- und Bekleidungsindustrie. Sie hat in den 1990er Jahren als entwicklungspolitische Gutachterin in verschiedenen Ländern, darunter Äthiopien, Pakistan und Nicaragua, gearbeitet. Ihre Erfahrungen in diesen Ländern führten zu der Erkenntnis, dass globale Gerechtigkeit und faire Arbeitsbedingungen nur durch Veränderungen in den Konsumländern erreicht werden können.
Im Jahr 2007 gründete sie daher FEMNET e.V., eine Organisation, die sich für die Rechte von Frauen in der globalen Textilindustrie einsetzt und die aktives Mitglied der Clean Clothes Campaign (CCC)- einem Zusammenschluss von rund 200 Organisationen in 45 Ländern – ist. Unter ihrer Führung hat FEMNET zahlreiche Projekte initiiert, die die Lebens- und Arbeitsbedingungen von Textilarbeiter*innen in Produktionsländern verbessern.
Dr. Gisela Burckhardt ist zudem regelmäßig auf Hauptversammlungen großer Unternehmen präsent, um dort als Aktionärin kritische Fragen zu stellen und auf Missstände aufmerksam zu machen.