Textile Müllberge, die bereits aus dem Weltraum zu sehen sind; Recherchen, die das Vernichten von brandneuen Sneakern aufdecken; afrikanische Länder, die den Import von gebrauchter Kleidung stark regulieren – die Modebranche ist geprägt von Überproduktion wie kaum eine andere. Im Gegensatz dazu stehen Modemarken, die Upcycling Fashion aus bereits bestehenden Materialien anbieten. Ein Konzept, das in Zeiten von Ultra-Fashion-Fashion beinah revolutionär wirkt. „Upcycling ist in der Mode ein richtiges Anti-Konzept“, sagt Sophie Claussen. Sie ist Gründerin und Designerin der jungen Marke Avenir, die sie nach Stationen in London und Paris ins Leben rief. In einem Atelier in Berlin-Neukölln fertigt Sophie Claussen mit ihrem Team Designs, die für eine Upcycling-Marke eher untypisch wirken und Kund*innen von Premium Fashion ansprechen. Im Gespräch erfuhren mehr über diesen Ansatz, was Sophie sich für die Zukunft der Modebranche wünscht und wieso Einzelhändler sich unbedingt mehr für Upcycling-Marken öffnen sollten.
Kannst du uns mit auf deinen Weg nehmen, wie hast du mit deinem Modelabel Avenir angefangen?
Sophie Claussen: „Gestartet habe ich 2020, direkt vor Covid, perfekt also (lacht). Alle meine Pläne konnte ich deshalb gar nicht umsetzen und habe stattdessen tatsächlich erst einmal Gesichtsmasken verkauft, ob man es glaubt oder nicht. Das war natürlich nicht ideal, aber es war ganz cool, so einen Grundstock an Freund*innen als erste Kund*innen zu bekommen und eine Webseite aufzubauen. Und ein bisschen Geld hat man dabei auch gemacht, deswegen war es gar nicht so schlecht. Ende 2020 habe ich dann zum allerersten Mal Jeansjacken aus altem Denim verkaufen können. Das war toll, denn genau das war eigentlich meine Idee, warum ich mich selbstständig machen wollte. Ich hatte vorher in der Modebranche gearbeitet, zuletzt in London bei Rejina Pyo. Die sind heute nachhaltiger als sie damals waren. In dieser Zeit war ich bei vielen Fashion Weeks in London dabei, was spannend war, aber es hat mich genervt, dass man so wenig schöne Labels findet, die nachhaltig sind.“
Du hast Avenir also als Gegenentwurf zu dem, was du auf dem Modemarkt gesehen hast, gegründet?
Sophie Claussen: „Diese Überproduktion an Sachen hat mich genervt. Ich war immer schon daran interessiert, dass man am Ende des Tages das Textil retten kann. Nachhaltigkeit kann man auf so viele tolle Arten umsetzen. Für mich war es immer das Textil selbst, was mich am meisten bewegt hat, warum ich nachhaltig arbeiten möchte und vor allen Dingen zu sehen, dass es einfach schon so vieles gibt, was wieder benutzt werden kann. Ich bin dann nach Berlin gekommen relativ früh auf den Textilhafen aufmerksam geworden, die waren damals noch viel kleiner. Ich fand es toll, wie sie Sachen sammeln und wiederverwerten in ihrem eigenen System. Es bleibt aber trotzdem so viel übrig, was man als Designer*in nutzen kann. Vor allem bei Jeans war dieser Überfluss sehr präsent. Deswegen bin ich damals total auf Jeans gegangen und bin auch froh darüber, weil Jeans zum Upcycling optimal ist. Du kannst noch so viel daraus machen.“
Inzwischen hat Avenir nichts mehr mit Gesichtsmasken oder einzelnen Upcycling-Denim-Pieces zu tun. Du hast mehrfach auf der Berliner Fashion Week Shows gemacht und zeigst damit auch als eines der wenigsten Upcycling-Labels in Deutschland Kollektionen mit Premium Fashion Anspruch. Wie kam es dazu?
Sophie Claussen: „2022 haben wir eine Ausschreibung vom Fashion Council Germany gewonnen. Das war für mich der ausschlaggebende Punkt, überhaupt in Kollektionen zu arbeiten. Das war alles sehr kurzfristig und ich habe es mit meinem Team in dreieinhalb Wochen geschafft, eine coole, kleine erste Kollektion auf die Beine zu stellen. Zusätzlich arbeiten wir inzwischen in zwei Linien. Wir haben eine Blue Line, die aus dem Denim-Gedanken entstanden ist. Das sind alles Upcycling-Pieces, die wir in Berlin herstellen. Wir nehmen die Denim-Kleidung auseinander, waschen und verarbeiten neu. Das sind reproduzierbare Teile, die aber immer anders aussehen, weil es nicht derselbe Denim sein wird. Ich habe diese Produktion gerne in Berlin, um die Ästhetik mehr unter Kontrolle zu haben, damit es nicht nach DIY aussieht. Die Produktion ist außerdem kompliziert, manche Stücke haben 30 Einzelteile, man müsste erst einmal eine andere Produktion finden, die das macht. Unsere andere Linie heißt ‚Red Line‘ und besteht aus Restpostenstoffen. Die lassen wir in Portugal und Polen produzieren. Da laufen die Farben natürlich auch immer wieder aus, weil es sich eben um Restposten handelt, aber wir bieten dann immer wieder ähnliche Styles an, manchmal den gleichen Schnitt in einem anderen Stoff.“
Wie ist die Akzeptanz bei den Kund*innen für diese Veränderungen?
Sophie Claussen: „Das kommt bei unseren Kund*innen gut an, auch wenn es dann nicht das exakt gleiche Kleidungsstück ist. Upcycling erfordert an dieser Stelle ein Umdenken, weil nicht alles endlos verfügbar ist. Genau das Einzelhändlern zu erklären ist aber oft nicht einfach, gerade dem deutschen Einzelhändler. Einzelhändler aus anderen Ländern sind da oft offener, wir haben zum Beispiel Interesse in Japan. Dort gibt es mehr Flexibilität, wenn ein exakter Style nicht mehr verfügbar ist, die nehmen dann gerne auch etwas Anderes. Ich denke, in Deutschland fehlt oft der Mut. Genau diesen Mut bräuchte es aber, um Upcycling salonfähiger zu machen. Ich finde, viele Modelabels tun ihren Teil, um Upcycling zu pushen, aber es muss dann eben von der anderen Seite auch angenommen werden, da sehe ich Einkäufer*innen in der Verantwortung.“
Ist es eine große Herausforderung für dich, mit Upcycling wirklich eine Kollektion zustande zu bringen?
Sophie Claussen: „Ja und nein. Ich persönlich empfinde es als Ansporn, um kreativ nachzudenken. Ich glaube, es ist manchmal ganz gut, sich zu reduzieren, um dann aus der Essenz seine Kreativität zu schöpfen. In Kollektionen mit Upcycling zu denken, finde ich gar nicht so schwierig. Auch hier ist Denim gut ausgewählt, denn es ist saisonlos. Wenn man sich jetzt unsere Spring-Summer-24-Kollection und die Herbst-Winter-24-Kollektion genau anguckt, dann sieht man auch, dass einige Teile im Sommer wie jetzt auch im Herbst gelaufen sind. Es passt alles untereinander. Ich glaube, das ist auch der Auftrag von Nachhaltigkeit und Upcycling. Dass man jetzt nicht sagt, im Sommer mache ich Sachen, die passen definitiv gar nicht mit denen im Winter zusammen, es sollte am Ende des Tages ja eine Garderobe ergeben.“
Wie wird sich der Upcycling Fashion Markt in Zukunft deiner Meinung nach entwickeln?
Sophie Claussen: „Wenn man, glaube ich, Upcycling in Serie verkaufbar machen möchte, dann sollte man mit Materialien arbeiten, von denen es auch wirklich viel gibt. Zum Beispiel gibt es Handtücher in rauen Mengen. Upcycling ist natürlich nicht mit allem möglich. Deswegen ist die Qualität essentiell. Wenn die Grundmode einfach schon schlecht produziert wurde, dann muss es in den Müll. Dann würde es auch im Upcycling-Prozess nicht mehr schöner aussehen. Wenn die Mode weiterhin schlechter wird, wird es also vielleicht irgendwann schwierig. Aber bisher ist noch so viel da von allem. Es könnte sich auch dahin entwickeln – wenn Upcycling irgendwann noch viel, viel erfolgreicher ist – dass man noch besser mit den alten Dingen handeln kann und Leute damit noch viel mehr ihr Geld verdienen.“
Im Vergleich zu anderen Upcycling-Fashion-Brands sprichst du eher eine andere, klassische Mode-Zielgruppe an. War das eine bewusste Entscheidung?
Sophie Claussen: „Ich habe von vornherein darauf abgezielt, dass ich in einer anderen Gruppe lande, als die vielleicht reguläre Upcycling-Zielgruppe. Ich mag die Gruppe der Leute, die sich viel mit Upcycling, DIY und Nähen beschäftigen sehr, aber die können es eben auch schon alles selber machen. Und die sind am Ende des Tages, gerade weil sie auch alles selber machen könnten, viel preissensibler. Dementsprechend, und wegen meiner Vorliebe für eine eher cleane Ästhetik, bin ich in einer anderen Schiene gelandet, als die, die ohnehin schon gut bedient wird.“
Was wünschst du dir für die Zukunft der Modebranche generell?
Sophie Claussen: „Bildung für Handwerk sollte unbedingt angekurbelt werden. Das kann schon als Erziehungsmaßnahme anfangen, wenn Bezugspersonen klar machen, dass etwas jetzt nicht weggeschmissen werden muss, sondern man noch etwas daraus machen kann. In der Schule könnte man auch lernen, wie man etwas langlebiger machen kann. Dann geht es weiter im Studium. Dort wird man immer wahnsinnig gepusht dazu, kreativ zu sein und man kämpft sich als einzelner Designer durch mit seinen kreativen Ideen durch. Dabei beginnt Nachhaltigkeit eigentlich einem Community-Gedanken. Man ist stärker und nachhaltiger im Team, wenn man zum Beispiel handwerkliches Wissen austauscht.“
Was inspiriert dich?
Sophie Claussen: „Mich inspirieren unsere klimatischen Veränderungen – und damit meine ich wirklich das Wetter. Dass die Saisons nicht mehr so sind, wie sie waren, bewegt mich sehr. Alles ist ein Umbruch. Ich denke vielen anderen sensiblen Menschen geht das ähnlich. Ich war schon immer mehr naturverbunden und bin gerne draußen in der Natur. Das inspiriert mich. Ein großer modischer Inspirationsmoment war außerdem die letzte Kollektion von John Galliano für Maison Margiela. So etwas haben wir in der Modebranche einfach schon lange nicht mehr gesehen, das opulente Ausmaß; diese Körperformen, die da entstanden sind. Das war ein sehr eigenes Gedankengut, was nach außen getragen wurde und deshalb so einzigartig. Das konnte von nirgendwo anders herkommen als von jemandem ganz tief drin. Das war spannend. Abgesehen davon ist John Galliano aber leider absolut politisch inkorrekt.“
Vielen Dank für das spannende Gespräch, Sophie.