Made in Germany: Ist lokale Textilproduktion immer nachhaltiger?

Wenn du wählen könntest, wo deine Kleidung hergestellt wird, wofür würdest du dich entscheiden?

Etikett "Made inn Germany"

Lokale Textilproduktion liegt wieder im Trend. Doch wie nachhaltig ist sie im Vergleich zur Textilproduktion im globalen Süden zum Beispiel? Wir erklären, welche Kriterien hierbei eine Rolle spielen, warum sich viele Fair Fashion Brands für Portugal als Produktionsort entscheiden und worauf Labels achten sollten, wenn sie lokal produzieren.

Was macht das Etikett in der Kleidung mit uns?

Hand aufs Herz: Wer hat ein besseres Gewissen, wenn im Etikett Made in Europe steht? Bevor ich verschiedene Produktionsstätten in Vietnam, Bangladesch und Irland besuchte, dachte ich, dass in Europa produzierte Kleidung per se besser ist: in Bezug auf Arbeitsbedingungen, Lieferketten und Transparenz. 

Dieser Gedanke ist durchaus problematisch und unterstützt nicht nur Machtgefälle zwischen Globalem Süden und dem Globalen Norden. Er zeugt von Privilegien und Arroganz, noch dazu ist er schlichtweg falsch. Denn: Die Aufschrift „Made in Europe“ ist leider kein Garant für eine faire Produktion. Dies zeigt insbesondere die Produktion in Osteuropa.

Die Kampagne für saubere Kleidung hat mehrere Berichte veröffentlicht, in denen sie über die schlechten Umstände in osteuropäischen Fabriken berichtet wie zum Beispiel in Ungarn, Serbien und der Ukraine. Das größte Problem sei oftmals die schlechte Bezahlung der Arbeitskräfte, die die Existenz nicht sichern. Deswegen widmen wir uns in diesem Text dem Thema Lokalismus, und wie dieser in Verbindung zur globalen Bekleidungsproduktion steht.

Historische Einordnung der lokalen Textilproduktion

Bis vor etwa 70 Jahren war die produzierende Textil- und Bekleidungsindustrie in Deutschland und vielen weiteren Teilen Europas ansässig. Heute gibt es nur noch wenige Betriebe, die in Deutschland fertigen lassen. Dies war ein Resultat der gestiegenen Kaufkraft in Europa sowie der neuen Möglichkeiten, im Rahmen der sich entwickelnden globalen Vernetzung schneller und günstiger im Ausland produzieren zu können, um somit die gestiegenen Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen. 

Die Textil- und Bekleidungsindustrie begann deswegen, ihre Produktionsstätten in Länder des globalen Südens auszulagern. Was für die Kundschaft günstigere Preise und mehr Produkte bedeutete, mündete für viele Städte in Deutschland in einen massiven Strukturwandel durch das Wegfallen einer ganzen Industrie. Viele deutsche Städte leiden immer noch unter diesem massiven Wandel, so auch die Samt- und Seidestädte Krefeld und Mönchengladbach.

In Deutschland gibt es heute noch circa 1.400 in der Textilproduktion aktive Unternehmen mit etwa 100.000 Beschäftigten, was etwa einem Zehntel der Beschäftigten in den 70er Jahren entspricht.

Was ist Lokalismus in Bezug auf die Herstellung von Textilien?

Die lokale Textilproduktion wird vor allem durch die britische Nachhaltigkeitsexpertin Kate Fletcher angetrieben. Sie hat Anfang der 2000er das Slow Fashion Movement ausgerufen und ist seitdem eine der renommiertesten Nachhaltigkeitsforscherinnen in Bezug auf Kleidung.

Laut ihr ist Lokalismus ein zentraler Gegenstand der Nachhaltigkeit und ein Mittel, sich gegen das kapitalistische Modell von Wachstum und Überkonsum zu stellen. Ihr Ansatz geht dem Drang nach, in einer kleinen lokalen Community zu agieren  quasi als Selbstversorgende und nur zu produzieren, was möglich ist, unter Berücksichtigung von lokalen Ressourcen wie Material, Arbeitskraft und Know-how.

Das Konzept lokaler Produktion bespielt also verschiedene Dimensionen. Das Bedürfnis, wieder ein Gefühl für die textile Geschichte der eigenen Heimat zu bekommen und zu verstehen, wie Kleidung hergestellt wird, wächst. Gleichzeitig unterstützt lokale Textilproduktion auch das benötigte Umdenken: Welche Mittel stehen mir lokal zur Verfügung? Muss ich neue Rohstoffe beziehen oder kann ich auch neue Kreisläufe schaffen, zum Beispiel durch Nutzung gebrauchter Kleidung?

Beispiele für lokale Projekte

Neben den wenigen, schon lange bestehenden Betrieben gibt es auch neue Firmen, die sich in diesem Nischensegment ansiedeln: so zum Beispiel Bridge and Tunnel aus Hamburg. Das Unternehmen fertigt in einer Manufaktur kleine Auflagen für Fair Fashion Brands. Das Konzept der eigenen Brand ist sehr zirkulär und nachhaltig: aus Alttextilien werden neue Produkte hergestellt. In der Produktion arbeiten unter anderem auch Geflüchtete. Die gesamte Geschichte des Unternehmens kann im Podcast Talk Slow verfolgt werden. 

Auch Hessnatur hat eine Made-in-Germany-Produktlinie. Sie lassen Damen- und Herrenwäsche in einem alten Unternehmen in Deutschland fertigen. Ein weiteres Projekt, dass den lokalen Anbau von textilen Rohstoffen verfolgt ist das „Linen Project“ in Arnheim, eine Kooperative zwischen dem Studiengang „Practice Held in Common“ der ArtEZ und dem Craft Council Netherlands. Hier wird Leinen lokal angebaut und zu Garn verarbeitet, unter Betrachtung von sozialen, ökologischen und kulturellen Aspekten. Das gesamte Projekt kann über verschiedene Social-Media-Kanäle verfolgt werden. 

Diese beispielhaften Vorzeigeprojekte sind sehr wichtig für Bewusstseinsbildung, Umdenken und Wandel innerhalb unserer Gesellschaft, jedoch können sie – zumindest jetzt noch nicht – die Produktion von Kleidung abdecken, die in Deutschland konsumiert wird. Gleichzeitig setzen immer mehr Fair Fashion Brands auf europäische Produktionsorte. Die Kleidung wird also nicht mehr auf einem anderen Kontinent produziert, sondern „nur” drei Länder weiter. Immer öfter fällt die Wahl auf Portugal als Produktionsland.

Ist Portugal der neue „place to be“ für Fair Fashion Brands?

Portugal erlebt seit einigen Jahren eine wieder aufblühende Textilindustrie. Dies liegt zum einen daran, dass das Land sehr stark in diesen Industriezweig investiert hat. Inzwischen arbeiten rund 130.000 Beschäftigte in der portugiesischen Textilindustrie in mehr als 12.000 Unternehmen. Viele Unternehmen sind Familienbetriebe, die in langjähriger Tradition bestehen. 

Zum anderen lockt die gute Infrastruktur: Nicht nur Nähereien, sondern die gesamte textile Kette wird hier abgedeckt. Dies bedeutet kurze Lieferketten innerhalb des Landes, aber auch ein vergleichsweise kurzer Lieferweg von der Produktion zu europäischen Kund*innen. Dadurch sind die Auswirkungen für das Klima nicht so massiv wie bei Produkten mit einem längeren Lieferweg. Gleichzeitig ist es auch möglich, kleinere Mengen produzieren zu lassen. Das macht Portugal zu einem ernstzunehmenden Produktionsstandort für Bekleidungsfirmen.

Der Mindestlohn liegt bei etwa 740 Euro pro Monat, bei 14 Gehältern pro Jahr. Die Lebenshaltungskosten in Portugal sind durchschnittlich circa 20 Prozent geringer als in Deutschland. Mit einem Gehalt, das dem Mindestlohn entspricht, ist die Deckung der Lebenshaltungskosten also möglich, sehr viel mehr bleibt aber nicht übrig.

Kurze Lieferketten und kleinere Produktionsmengen ermöglichen eine transparentere Produktion. Deshalb setzten gerade Fair-Fashion-Firmen immer bewusster auf die Produktion in Portugal. Das Land scheint ein solider Standort zu sein, wenn es um die Herstellung fairer Kleidung geht. Hier produzieren beispielsweise die Fair Fashion Labels Dariadéh, Lanius, Wildling und Salzwasser.

Aber auch bei großen Unternehmen wie den Fast-Fashion-Giganten Zara oder Massimo Dutti ist es schon seit Jahren gängige Praxis in Spanien und Portugal fertigen zu lassen. Die Intentionen hier jedoch andere: Lokale Produktion ermöglicht sowohl eine schnelle Reaktion auf Trends als auch die Produktion kleiner Mengen quasi vor der Haustüre der Kund*innen.

Die lokale Textilproduktion bietet viele Vorteile

Für eine lokale Textilproduktion, die möglichst nah am Verkaufsland liegt, sprechen die folgenden Argumente: 

  • Schnelle Reaktionsfähigkeit.
  • Waren können schneller nachgefertigt werden.
  • Geringere Klimabelastung durch kürzere Lieferketten: Der CO2-Fußabdruck verringert sich im Vergleich zu einer Produktion auf einem anderen Kontinent. Zum Vergleich: Berlin – Lissabon 438 kg CO2 pro Person / Frankfurt – Saigon 686,5 kg CO2 pro Person.
  • Produktion kleiner Stückzahlen ist möglich im Vergleich zu asiatischen Wettbewerbern: Fabriken in Asien sind zum Teil auf Massenlieferungen für große Konzerne wie H&M und Inditex fokussiert, deswegen bieten Firmen aus Europa eine willkommene Alternative gerade für kleine Brands, die noch in der Gründungsphase sind.
  • Auch in Produktionsstätten in Asien steigen langsam die Produktionskosten, deswegen werden europäische Produktionsländer wieder wettbewerbsfähig.

Nachhaltigkeitsbewertung von lokaler Textilproduktion

Eine lokale Textilproduktion bedeutet nicht direkt, dass alle Aspekte an ihr besser sind. Die Dimensionen von Nachhaltigkeit sind multidimensional (sozial, ökologisch und ökonomisch). Momentan wird neben der sozialen Dimension, die durch die jährliche Fashion-Revolution-Kampagne „Who made my clothes?“ extrem gepusht wurde, die ökologische Nachhaltigkeit immer wichtiger, denn ein gesunder Planet ist wortwörtlich überlebenswichtig für die Erfüllung der anderen Dimensionen. 

In die soziale Dimension der Nachhaltigkeit fallen Entlohnung, Arbeitsplatzgestaltung und Rechte der Arbeiter*innen entlang der Wertschöpfungskette. Dieser Nachhaltigkeitsaspekt kann über länderspezifische Regularien definiert werden, aber auch über Zertifizierungen und Siegel der Produktionsstätten. Sind keine Siegel oder Zertifizierungen vorhanden, können Werte und Standards zumindest transparent über die Website kommuniziert werden. 

In der sozialen Nachhaltigkeit ist aber auch die folgende Fragestellung sehr wichtig, die jede*r individuell beantworten muss: Wie gehe ich als Konsument*in mit meiner Kleidung um? Wie lange trage ich sie? Wie pflege ich meine Kleidung richtig

Die ökologische Dimension der Nachhaltigkeit berücksichtigt die Umweltstandards, die in dem jeweiligen Land gelten, die verwendeten Rohstoffe, Materialien und Chemikalien, Emissionen, sowie die Entfernung der einzelnen Betriebe in der Lieferkette zueinander. Die ökonomische Dimension der Nachhaltigkeit misst sich in suffizienten Ansätzen, implementierten Lebenszyklusmaßnahmen und Verkaufsstrategien, die Schnelligkeit und Masse nicht in den Vordergrund stellen.

Für Konsument*innen machen folgende Tools eine Einschätzung leichter: 

  • Rückverfolgbarkeit der Produkte zum Beispiel über retraced.
  • Transparenz, zum Beispiel über die Webseite oder Social-Media-Kanäle.
  • Zertifizierungen im Bereich Sozialkriterien: Fair Wear Foundation.
  • Zertifizierungen im Bereich Ökologie: Blue Sign, Oeko Tex, GOTS (wobei GOTS auch Sozialkriterien misst).

Ist lokale Textilproduktion nun nachhaltiger und fairer?

Die Produktion in Europa hat nicht ausschließlich positive Auswirkungen. Wie bereits erwähnt: Nicht jeder Arbeitsplatz hier ist fair. In Ländern des globalen Südens wurden in den vergangenen Jahrzehnten Infrastruktur und Know-how aufgebaut. Besonders Letzteres sollte in Zukunft weiter gestärkt und ausgebaut werden, denn auch im globalen Süden sind immer mehr Produktionsstätten zum Beispiel durch die Fair Wear Foundation zertifiziert. 

So hat sich beispielsweise Vietnam als Standort für die faire Produktion von Rucksäcken und Schuhen etabliert. Auch DAWN Denim zeigt, wie Nachhaltigkeit aus sozialer und ökonomischer Perspektive in Vietnam etabliert werden kann. Die eigene Produktionsstätte in Saigon involviert ihre Arbeiter*innen in Verbesserungsprozesse innerhalb der Firma und arbeitet kontinuierlich an einer positiven Veränderung der Textilindustrie.

Aus ökologischer Perspektive sollten Lieferwege so kurz wie möglich sein, um entsprechend CO2 einzusparen. Meiner Meinung nach wäre es falsch, vollständig auf die Produktion in Ländern außerhalb der EU zu verzichten, nachdem dort über Jahrzehnte Menschen zu Gunsten des westlichen Konsums beschäftigt wurden. Die Textilindustrie bleibt weiterhin ein globales Geschäft, das Menschen in allen Ländern erreichen muss. Es ist wichtig, sich nicht auf eine lokale Produktion zu versteifen, denn ein Großteil der textilen Rohstoffe kommt weiterhin aus Ländern, die nicht in Europa liegen. 

Für Baumwolle ist Indien eines der größten Produktionsländer. Deswegen müssen soziale und ökologische Standards etabliert werden. So macht es auch das Label Jyoti. Sie haben eine textile Wertschöpfungskette etabliert, die konsequent nachhaltig ist und stark auf den Ausbau von sozialen Standards in Indien setzt.

Ein Label, das komplett in Indien produziert, kann unter Umständen auch in Sachen Transport nachhaltiger sein, als eines dessen Etikett Made in Germany vermerkt. Denn: In Deutschland passiert häufig nur der letzte Arbeitsschritt. Es kann also durchaus sein, dass die Baumwolle beispielsweise aus Indien importiert wurde, die Knöpfe aus Portugal und die Farbe aus Vietnam. Dieser Rechnung nach wäre der Transportweg von Jyoti nachhaltiger, da hier die ganze Wertschöpfung in ein einziges Land verlagert wird. Die fertigen Produkte werden am Ende nach Deutschland transportiert.

Eine weitere Dimension der sozialen Nachhaltigkeit ist die Bewusstseinsschaffung: Es sollte allen Konsumierenden klar sein, dass die Arbeit in der Textilindustrie egal in welchem Land dieser Welt extrem anstrengend und belastend für die Gesundheit ist. Im Sinne globaler Gerechtigkeit sollten textile Lieferketten zu fairen Lieferketten ausgebaut und betreut werden, welche auf sozialen und ökologischen Grundsätzen beruhen. 

Dies wäre eine nachhaltigere Lösung, als bestimmte Produktionsländer mit negativen Vorurteilen zu behaften und auszuschließen. Aus diesem Grund lässt Lanius bewusst in ausgewählten Betrieben rund um die Welt produzieren, auch in China. Außerdem muss das Bewusstsein der Konsument*innen geschärft werden, um die schwere Arbeit, die in Textilien steckt, entsprechend wertzuschätzen. Inzwischen ist es bei Fair Fashion Brands üblich, dass auf der Website nachverfolgbar ist, wo und wieso produziert wird. Diese Transparenz ist ein erster Schritt zu faireren Lieferketten. Nachverfolgbarkeit, zum Beispiel durch Anbieter wie retraced, sind weitere Schritte, um globale Strukturen sichtbar und verständlich zu machen.

Informiert ihr euch im Vorfeld zu den Nachhaltigkeitsstrategien eurer liebsten Brands? Achtet ihr dabei auf lokale Textilproduktion? 

Titelbild: Chanikarn Thongsupa/ Rawpixel

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2 Antworten auf „Made in Germany: Ist lokale Textilproduktion immer nachhaltiger?“

Wir sind ein junges Startup Unternehmen, das ausschließlich in Deutschland fertigt. Unser erstes Programm kommt aus Hamburg, mittlerweile übernehmen wir die Produktentwicklung in Herne selbst und arbeiten mit Produktionspartnern in Herne und Herten, keine 10km vom Unternehmenssandort entfernt. Wir versuchen, unsere Stoffe ebenfalls aus Deutschland zu beziehen, was sehr schwer ist und uns teilweise zwingt, ins europäische Ausland zu schauen. Wir schwören auf die Fertigung vor Ort, weil es uns erlaubt, selbst aktiv die gesamte Wertschöpfungskette zu beeinflussen und unsere Versprechen zu halten. Hinzu kommt mehr Flexibilität und kurze Lieferzeiträume, die uns die Möglichkeit geben, auf Marktveränderungen zu reagieren. Obwohl wir ganz am Anfang stehen haben wir schon festgestellt, wie viel Know-How verloren durch die Auslandsfertigung verloren gegangen ist und man bekommt das Gefühl, dass die Verbraucher überhaupt kein Bewusstsein mehr dafür haben, wie viele Arbeitsschritte hinter der Bekleidungsproduktion stecken und wie viele Menschen daran beteiligt sind. Mode erfährt keine Wertschätzung mehr. Das ist traurig.