Modeschaffende in der Ukraine: „Aufgeben ist keine Option”

Russlands Invasion in der Ukraine zerstörte ganze Städte und löste eine weltweite Nahrungsmittel- und Energiekrise aus. Ein Ende des Konflikts scheint nicht in Sicht. Wir haben fünf ukrainische Modeschaffende interviewt. Sie berichten über das Leben und Arbeiten während des Krieges und warum sie trotz allem optimistisch bleiben.

Ukraine, Ukrainian fashion Labels, Titelbild

Der Krieg in der Ukraine jährt sich. Anfang Februar 2023 schätzte das Büro des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte (OHCHR) die Zahl der zivilen Opfer in der Ukraine auf 7.155 Menschen. Vor knapp einem Jahr haben wir bereits mit verschiedenen ukrainischen Modeschaffenden gesprochen, die uns berichteten, was sie erlebt haben, was sie fühlen, wonach sie sich sehnen. Heute – ein Jahr später – sprechen wir nochmal mit Modeschaffenden und bitten sie, uns zu erzählen, wie sie die aktuelle Situation wahrnehmen.

Für Millionen von Ukrainer*innen geht das Leben weiter – es muss. „Wir fühlen uns unsicher, aber wir versuchen, weiterzumachen und optimistisch zu bleiben”, schreibt uns Iryna Kokhana, Gründerin des ukrainischen Labels Chereshnivska, das vorwiegend auf Upcycling und genderneutrale Kleidung setzt. Ihre jüngsten Drucke widmete Kokhana ukrainischen Bildhauer*innen. Mit unseren neuen Styles möchten wir der Welt von den Talenten erzählen, die die Ukraine schon immer hatte.” Sie sei stolzer denn je auf ihr Heimatland und dessen Bevölkerung

Obwohl Kokhana und ihr Label knapp 95 Prozent des Umsatzes verloren haben, möchte sie sich nicht zu sehr auf negative Dinge konzentrieren. Wir können viel managen. Was wir jetzt wirklich benötigen, sind neue Partner im Ausland, um die Möglichkeit zu haben, weiterzumachen.”

Mode als integraler Bestandteil von Widerstand und Identität

Bei den Interviews mit den ukrainischen Modeschaffenden wird eines deutlich: Weitermachen ist die einzige Lösung. So auch bei Gunia, einer Mode- und Lifestylebrand, die nicht nur Wollmützen und Schmuck anbietet, sondern auch buntes Geschirr aus Keramik – hergestellt von Kunsthandwerker*innen aus der ganzen Ukraine. Jeden Tag stehen wir bei der Produktion und der Logistik vor vielen Herausforderungen, aber wir wissen, weshalb wir weitermachen – Aufgeben ist keine Option”, erzählen die Gründerinnen Natasha Kamenska und Maria Gavrilyuk. Sie seien überzeugt von der Wichtigkeit ihrer Arbeit. „Wir verstehen Mode und Kultur als starke Kommunikationskanäle, die genutzt werden sollten, um Haltung zu zeigen. Mode als kulturelles Erbe eines Landes ist ein integraler Bestandteil von Widerstand und Identität.”

Natasha Kamenska und Maria Gavrilyuk beobachten, dass der Krieg viele Marken nur noch resilienter gemacht hat. „Die ersten Monate waren für uns am schwierigsten. Zu Beginn mussten wir die Aktivitäten unserer Marke kurzzeitig komplett einstellen. Mittlerweile haben wir umstrukturiert und viele Prozesse angepasst. Das sehen wir auch bei anderen Unternehmen. Der Krieg hat uns alle gelehrt, flexibel zu sein, schnell zu reagieren und zu handeln.”

Mode wurde auch bei der Designerin Irina Dzhus zu einem festen Bestandteil von Identität: „In der Vergangenheit habe ich mich nicht auf meine eigene Identität als Ukrainerin und die Herkunft meiner Marke konzentriert – für mich waren diese Dinge so offensichtlich, dass sie nicht kommuniziert werden mussten”, erzählt sie. Am 24. Februar 2022 habe sich schließlich alles geändert. „Als es mir meine mentale Verfassung erlaubte, wieder kreativ zu sein, wurde mir klar, wie wichtig es war, unsere Identität – die ukrainische Identität – mit der Welt zu teilen und sie in unsere Selbstdarstellung auf persönlicher und beruflicher Ebene einzubeziehen.” 

Immer wieder erlebt die Designerin widersprüchliche Gefühle: „Einerseits scheint es falsch, sich auf Mode zu konzentrieren, wenn so viele Menschen durch ununterbrochene Angriffe sterben. Andererseits ist Design ein mächtiges Kommunikationstool nach außen. Meiner Meinung nach besteht die Mission ukrainischer Künstler*innen aktuell darin, durch ihre kreative Arbeit auf die Tragödie unserer Nation aufmerksam zu machen.”

Dzhus, die mit ihrem gleichnamigen Label seit Kriegsbeginn einen erheblichen Rückgang an Bestellungen erlebt hat, musste den Sitz ihres Unternehmens nach Polen verlegen. „Die Designprozesse finden nun in der EU statt. Gleichzeitig geben wir unser Bestes, um unsere Produktion in der Ukraine aktiv fortzusetzen. Es ist wichtig, unseren Kunsthandwerker*innen, die trotz zahlreicher Hindernisse im Land geblieben sind, weiterhin Arbeitsplätze zu bieten.”

Immer noch ein Gefühlschaos

„Unsere Emotionen bewegen sich oft innerhalb von Minuten von völliger Leere und Verzweiflung zu voller Aufregung und Motivation”, berichtet Lilia Litkovskaya, Gründerin des Labels Litkovska. „Ich bin sehr froh, mein Team zu haben, das trotz der schlimmen Umstände Wunder vollbringt. Sie sind meine Held*innen. Jede*r Ukrainer*in ist es.” 

Der Umsatz des Womenswear-Labels brach zu Beginn des Krieges völlig ein. „Unsere Kundinnen mussten fliehen. Erst vor Kurzem fingen Ukrainerinnen aus dem Ausland wieder an, online bei uns zu shoppen.” Litkovskaya erzählt uns von Stromausfällen, logistischen Komplikationen und Teammitgliedern, die gleichzeitig mehrere Positionen besetzen müssen. „Vor allem aber besteht die Gefahr, jederzeit von Raketen getroffen zu werden. Ich finde es jedoch erschreckend, dass wir dies nach knapp einem Jahr Krieg gar nicht mehr als Risiko betrachten.”

Die Designerin ist dankbar, dass sie immer noch in Kyiv produzieren kann. „Ich bin stolz, dass wir das Etikett ,From Warzone with Peace’ hinzufügen können.” Mittlerweile ist ihre Brand Litkovska global vertreten und wird beispielsweise von Selfridges in London und Dover Street Market in Japan verkauft. Litkovskaya organisierte bereits zu Beginn des Krieges zahlreiche Demonstrationen, die sogar von der Pariser Modewoche unterstützt wurden. „Mode ist die internationale Sprache und ich habe Mode immer als Kultur verstanden. Meine Wahrnehmung davon hat sich nicht verändert, vielleicht sogar intensiviert und erweitert. Mode wurde vor allem während des Krieges für mich zu einem lauten Mikrofon, um meine Botschaften weltweit zu übermitteln.” 

Ein gemeinsames Ziel verbindet

„In der Ukraine zu leben, bedeutet aktuell, ständig Angst zu haben, vor dem, was morgen passieren wird”, schreibt Taras Kuzniak, Mitgründerin der Schmuckmarke Bruá. Vor dem Krieg machten sie und ihr Team Arbeits- und Produktionspläne für etwa ein Jahr, mittlerweile planen sie maximal eine Woche im Voraus. Die Herausforderungen häufen sich: ausfallende Elektrizität, Telefon- und Internetverbindungsprobleme, Vertriebsprobleme, logistische Schwierigkeiten, Inflation. „Wenn der Luftalarm ausgelöst wird oder es kein Licht gibt, schalten wir den Generator ein und arbeiten weiter an der Produktionslinie.” (Anm. d. Red.: Ein Luftalarm ist ein bei Luftangriffen ausgelöster Alarm.) Die Post würde während des Luftalarms nicht arbeiten, doch die Bestellungen der Kund*innen müssten fertig produziert werden. „Unter solchen Umständen zu leben und weiterzumachen – zu arbeiten, zu lieben, zu träumen – ist nur möglich, weil wir alle ein gemeinsames Ziel haben: unser Geschäft weiterzuführen, Arbeitsplätze zu schaffen und etwas Sinnvolles zu kreieren.”

© PR, Bruá

Als Designer*in würde man ständig irgendwo anders nach Inspiration suchen, doch der Krieg lehrte Kuzniak, Dinge anders anzugehen. „Ich träumte von anderen Ländern und deren Kulturen, die mich lockten und verzauberten. Meine jüngste Erkenntnis war, dass alles, wonach ich suchte, hier war – direkt vor meiner Nase.” 

Bereits vor dem Krieg hätte das Schmucklabel internationalen Kund*innen aus aller Welt gehabt. Kuzniak und ihr Team seien überrascht gewesen, dass Menschen auch nach der Invasion weiterhin Bestellungen aufgaben und Worte der Unterstützung austauschten. „Manche Kund*innen haben gar nicht damit gerechnet, ihre Bestellungen zu erhalten, sondern wollten uns mit Spenden unterstützen.” Sie sei von der internationalen Solidarität tief beeindruckt. „Ich ermutige Menschen, nicht aus Mitleid bei ukrainischen Unternehmen zu kaufen, sondern weil sie uns und unser Kunsthandwerk unterstützen und dies mit der Welt teilen möchten.”

Zwischen Hoffnung und Verzweiflung – dem Leid und Verlust, aber auch  kleinen, alltäglichen Freuden – geht das Leben weiter. Für Millionen von Ukrainer*innen bleibt am Ende nur eines: Resilienz.  

Wollt ihr ukrainische Modeschaffenden unterstützen? Dafür gibt es zahlreiche Möglichkeiten, etwa durch Geldspenden, Bestellungen bei den Brands oder euren Support auf Social Media. Wenn ihr selbst Unternehmer*in seid, könnt ihr zudem mit ukrainischen Talenten zusammenarbeiten – mit Models, Künstler*innen, Stylist*innen.

Und so könnt ihr alle Ukrainer*innen weiterhin unterstützen:
  • Wenn ihr könnt, spendet. Vertrauensvolle Vereine sind unter anderem die UNO-Flüchtlingshilfe und die Kindernothilfe.
  • In Deutschland können Menschen auf der Seite Gastfreundschaft für die Ukraine eine Unterkunft für Geflüchtete anbieten.
  • Unzählige Vereine suchen nach ehrenamtlicher Unterstützung. #leavenoonebehind hat diese Seite erstellt, auf der du dich registrieren kannst, wenn du helfen möchtest. 
  • Die Initiative Krisenchat bietet kostenlose psychologische Beratungen per Chat an und sucht nach Psycholog*innen, die Russisch und Ukrainisch sprechen.

An dieser Stelle möchten wir gerne noch einmal betonen: #standwithukraine schließt nicht aus, sich mit ALLEN Menschen solidarisch zu zeigen, die unter diesem Krieg leiden. In Deutschland gibt es seit Kriegsbeginn Berichte von Straftaten, die sich gegen russischsprachige Menschen richten. Auch hier ist weiterhin eine solidarische Zivilgesellschaft gefragt. Solidarität mit allen, die unter diesem Krieg leiden – unabhängig von Nationalität und ganz besonders immer mit jeden, die Mehrfachdiskriminierungen aushalten müssen.



Titelbild-Collage: © Ines Bahr / PR, DZHUS, Foto: Ines Bahr @inesbahr_photograph / © PR, Dzhus / © PR, Bruá

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