Zerbombte Städte, Millionen an Vertriebenen und ganze Generationen, die in Flüchtlings-Camps aufwachsen. Das ist das Bild, das vielen Menschen durch den Kopf geht, wenn sie an Konfliktzonen denken.
Doch es gibt auch ein anderes Bild – eins, das inspiriert und Hoffnung gibt: traditionelle Mode, Kunst und Kultur, die durch Handwerker:innen und Textilarbeiter:innen vor Ort geschützt wird. Auch haben sich mittlerweile viele soziale Unternehmen in Krisengebieten niedergelassen haben. Handwerker:innen und Textilarbeiter:innen bekommen so oftmals eine Chance, trotz schwieriger Umstände weiterzuarbeiten und ihre Designs weltweit zu verkaufen. Denn innerhalb ihrer Heimat können sich viele Menschen diese Kunst und Kleidung nicht mehr leisten.
In Syrien zum Beispiel, wo der bewaffnete Konflikt schon zehn Jahre andauert, verdienen viele wegen der enormen Inflation nur noch um die 25 US-Dollar pro Monat. „Familien müssen sich gut überlegen, wo und wie sie ihr Geld ausgeben“, meint Nanar Hawach, Nahostwissenschaftler am Uppsala Datenkonfliktprogramm.
Deutschland gehört zu den fünf größten Waffenexporteuren weltweit. 2019 lag die Zahl der Genehmigung für Rüstungsexporte bei einem Rekordhoch von acht Milliarden Euro.
Wohin exportiert wird, ist nicht immer ganz klar. Manche Länder bleiben geheim. So wird vermutet, dass viele Kriegswaffen nach Jemen gelangen, wo aktuell ein Bürgerkrieg herrscht.
Beim Export von Waffen gilt es sowohl Menschenrechte, wie auch den Frieden, die Sicherheit und die Stabilität einer Region nicht zu gefährden. Beim Export in Kriegszonen verstößt Deutschland demnach gegen das humanitäre Völkerrecht.
Durch andauernde Konflikte geht Handwerkskunst zunehmend verloren
Aufgrund der andauernden Krise und der immensen Schäden, aber auch vieler Menschen, die aus ihrer Heimat fliehen, leidet die Handwerkskunst stark und geht über die Jahre zunehmend verloren. Viele Teile der Lieferketten werden durch den Konflikt jahrelang unterbrochen. Einige Landwirt:innen können ihre Baumwollfelder aufgrund der Umweltauswirkungen des Konflikts nicht mehr nutzen. Andere verlieren ihre Tiere und können daher keine Wolle mehr verkaufen. Ihre Existenz ist somit gefährdet.
Werkstätten, Märkte und Handelsrouten werden bombardiert und zerstört. Traditionelle Textilarbeiter:innen und lokale Handwerk:innen können so nicht mehr weiterarbeiten. Sie kämpfen mit der finanziellen Situation, da sie nicht genug Kund:innen haben.
„Manche Händler:innen versuchen deshalb Fast Fashion zu importieren. Diese ist leider erschwinglicher, als die Bekleidung, die sie selbst produzieren können. In Syrien wird außerdem momentan viel Baumwolle aus China und der Türkei importiert“, berichtet Nanar. Er ist selbst Syrer und kennt die Situation vor Ort.
„Es ist ein moralisches Dilemma für viele Handwerker:innen. Ihre Designs sind ein wesentlicher Bestandteil der Kultur ihres Heimatlandes. Sie werden als kulturelles Erbe verstanden. Und doch können sie ihrer Arbeit oft nicht mehr nachgehen. Um ihre Familie zu ernähren, tun sich einige Handwerker:innen und Textilarbeiter:innen zusammen und importieren deshalb Fast Fashion. Diese können sie dann zu erschwinglichen Preisen weiterverkaufen“, erklärt Nanar, der selbst über die Erhaltung des kulturellen Erbes in Syrien recherchiert.
Es ist ein kaputtes System: Das Fast-Fashion-Imperium profitiert sogar in Konfliktzonen. Außerdem ist der Baumwollexport aus China selbst konfliktbehaftet: Es wird vermutet, dass circa 20 Prozent der weltweiten Baumwollproduktion aus Zwangsarbeit stammt. Das würde bedeuten, dass etwa eine halbe Million an Uiguren und anderen Minderheiten in der westlichen Region Xinjiang zum Pflücken und Verarbeiten von Baumwolle gezwungen werden. Der Import jener Baumwolle aus China würde so quasi Zwangsarbeit unterstützen.
Mode als Widerstand
Auch in Krisengebieten kleiden sich die Menschen gerne schön. Mode kann eine Art Widerstand sein. So wie die Suffragettes Weiß trugen, um auf Demonstrationen eine zusammenhängende Identität zu präsentieren und gegen das Patriarchat zu stehen, so tragen Menschen in Krisengebieten zum Beispiel bunte Kleidung, um dem grauen Alltag und den zahlreichen Militäruniformen etwas entgegenzusetzen.
Die Belagerung der bosnischen Hauptstadt Sarajevo dauerte beispielsweise fast vier Jahre, von April 1992 bis Februar 1996. Es war die längste Belagerung des 20. Jahrhunderts. Trotz der täglichen Schrecken, gingen die Fotos modebewusster Frauen um die Welt.
Viele wollten damit zeigen, dass sie trotz der Umstände die Kraft und den Stolz haben weiterzumachen. Sie ließen sich vom Konflikt nicht unterkriegen. Mode dient hier als Vehikel für Empowerment.
Das kulturelle Erbe ist betroffen
Je länger ein Konflikt dauert, umso länger können viele Handwerker:innen nicht arbeiten. So gehen wertvolle Traditionen verloren, die einst von Generation zu Generation weitergegeben wurden. Das kulturelle Erbe eines Landes kann dadurch stark in Mitleidenschaft gezogen werden. Zum kulturellen Erben gehören nicht nur Museen und Architektur – es kann auch Textilkunst sein und die damit verbundenen Traditionen, Muster, Stickereien. Es ist ein wichtiges Element beim Aufbau kultureller Identitäten.
In Gaza zum Beispiel wurden die Stoffe traditionell aus Kamelhaar, Schafwolle oder Ziegenhaar gewonnen. Gefärbt wurden die Fäden mit lokalen Pflanzen. Einzelne Dörfer wurden so mit bestimmten Farben und Fäden in Verbindung gebracht. Die Farben wurden anschließend im Meer durch das Salzwasser stabilisiert, die Stoffe zum Trocknen auf den Sand gelegt. Doch das traditionelle Weben, Färben und Präservieren der Farben wurde langsam vergessen – nicht nur durch die Industrialisierung, sondern auch durch die militärische Besetzung von Gaza durch Israel.
Die wenigen Weber:innen, die heute noch in Gaza leben, sind mit außergewöhnlich schwierigen Umständen konfrontiert, da sie quasi komplett abgeschottet sind von der Welt: Die israelischen Militärkontrollpunkte lassen nur selten Importe oder Exporte von benötigten Materialien oder Ressourcen zu.
Wenn Traditionen nicht mehr länger am Leben gehalten werden, ist es schwierig diese wieder zurückzubringen. Es erfordert sehr viel Wissen, Zeit und Geduld. Deshalb ist es wichtig, langfristig in kulturelle Nachhaltigkeit zu investieren. In Bezug zur nachhaltigen Entwicklung bezieht sich der Begriff auf die Anerkennung und den Schutz kulturellen Erbes. Außerdem beinhaltet das Konzept die Weitergabe oder Unterstützung der Weitergabe von traditionellem Textilwissen und kulturellen Ausdrucksformen an zukünftige Generationen. Dies wird besonders durch die Integration traditioneller Handwerkskunst in zeitgenössische Mode erlangt.
Welche Rolle spielen Brands und Organisationen vor Ort?
Seit Jahren engagieren sich Organisationen, soziale Unternehmen und Brands in Konfliktzonen, um Handwerker:innen und Textilarbeiter:innen die Möglichkeit zu geben, trotz schwieriger Umstände weiterzuarbeiten. Manche stellen ganze Kollektionen mit Textilarbeiter:innen vor Ort her, andere bieten den Handwerk:innen eine Plattform, um ihre Designs im globalen Norden zu verkaufen.
Der Handwerkssektor ist, nach der Agrarwirtschaft, der zweitgrößte Arbeitgeber im globalen Süden. Internationaler Handel mit Kunsthandwerk wird mittlerweile auf über 32 Milliarden US-Dollar pro Jahr geschätzt. Dabei stammen 65 Prozent der Handwerksexporte aus sogenannten Schwellenländern. Auch Krisengebiete befinden sich größtenteils im globalen Süden. Somit spielt auch dort der Handel mit Handwerk und traditionellen Textilien eine große Rolle.
Afghanistan bedeutet nicht nur Konflikt
Viele Unternehmen sind besonders in Afghanistan tätig. Das Land kennt den Kriegszustand seit den späten 70er Jahren. Viele Teile sind heute immer noch von den Taliban besetzt – einer Terrorgruppe, die seit den 90er Jahren systematisch auf Zivilist:innen zielt. Malala Yousafzai ist wohl eine ihrer bekanntesten Überlebenden. Als junge Aktivistin, die sich für die Bildung von Mädchen einsetzte, wurde sie 2012 – mit 15 Jahren – in ihrem Heimatland Pakistan von Mitgliedern der Taliban angeschossen.
Ganze Generationen kennen Afghanistan nur als Krisengebiet. Aufgrund der Dauer gewisser Kriege neigen wir dazu, zu vergessen, wie manche Länder vorher ausgesehen haben. Die afghanisch-deutschen Schwestern Hila und Wana Limar setzen sich deshalb dafür ein, eine inspirierende Perspektive Afghanistans zu fördern. Deswegen gründeten sie Ende 2020 ihr Schmucklabel Sevar Studios und knüpfen so an die jahrhundertelange Tradition des Goldschmiedens an.
Die Ohrringe werden mit natürlichen Materialien von lokalen Handwerker:innen hergestellt. Anschließend werden sie mit recyceltem Gold aus Deutschland beschichtet. Auf ihrem Instagram-Account erklären sie, wie und von wem die Schmuckstücke angefertigt werden. Mit dem Verkauf der Ohrringe und dessen Erlös sollen Frauen in Afghanistan weiter ausgebildet werden und so später selbst Schmuck herstellen.
Ein anderes Label, das hauptsächlich in Afghanistan produziert, ist Zarif. Es wurde 2005 von Zolaykha Sherzad gegründet, die das Land mit ihrer Familie verlassen hat, als sie selbst noch ein Kind war. Jetzt hilft sie lokale Gemeinschaften wirtschaftlich und sozial zu stärken. Zarif ist ein Netzwerk bestehend aus Weber:innen, Schneider:innen und Sticker:innen, die gemeinsam Kleidung herstellen, indem sie traditionelle afghanische Seide und Stoffe mit westlichen, geradlinigen Schnitten kombinieren. Die Textilarbeiter:innen besticken beispielsweise simpel geschnittene Jacken mit Blumen oder Früchten, die Fruchtbarkeit darstellen sollen. Ganz beliebt sind auch Muster, die zum Schutz gegen das böse Auge dienen sollen.
Auch das Modelabel Zazi Vintage arbeitet mit Familien in Afghanistan zusammen und teilt ihre Geschichten der alten Seidenstraße auf Instagram mit der ganzen Welt. Einige der Familien, mit denen sie zusammenarbeiten, sammeln und handeln seit Generationen mit (Vintage-) Stoffen. Viele davon sind sogenannte Suzani – mit Stickereien verzierte Baumwoll- oder Seidenstoffe, die ursprünglich von Nomadenstämmen in zentralasiatischen Ländern hergestellt wurden. Aufgrund ihrer schönen Dekoration und feinen Handwerkskunst sind sie hochsammelbar und werden heute noch sehr geschätzt.
Die Stoffe wurden auf der Seidenstraße transportiert, die mit knapp 6.400 Kilometer die längste Handelsroute der Welt war. Das Netzwerk aus Straßen verband Asien mit Afrika und Europa, und führte so über Hochgebirge, Steppen und Wüsten. Dementsprechend dauerte der Transport von Seide – von Asien nach Europa – fast zwei Jahre. So geriet die Seidenstraße durch den neuen, schnelleren Seetransport langsam in Vergessenheit.
Unternehmen bieten den Handwerker:innen und Textilarbeiter:innen eine Plattform
Die E-Commerce-Plattform Ishkar, die eher als soziales Unternehmen fungiert, arbeitet in Krisengebieten im Jemen, Sudan, Mali oder auch dem Irak. Hierbei verbindet das Unternehmen visuelles Design und Kunst, um die Geschichten der Handwerker:innen und Textilarbeiter:innen respektvoll zu erzählen. Auf ihrer Website erklären sie, dass sie sich mit Partnern aus der ganzen Welt zusammengeschlossen haben, um Handelswege wiederherzustellen.
So empowern sie Menschen vor Ort, ihrer Leidenschaft und Kunst nachzugehen – trotz Krise, Inflation und unterbrochenen Lieferketten. Dies ist jedoch nicht immer einfach, denn Krisengebiete können manchmal unberechenbar sein. Ishkar musste beispielsweise Waren teilweise über einen US-Militärflugplatz importieren, nachdem politische Spannungen zwischen Afghanistan und Pakistan zu Grenzschließungen geführt hatten.
„Unternehmen müssen sich auch bewusst sein, dass westliche Wirtschaftssanktionen eine wichtige Rolle spielen. Es ist nicht immer einfach, Handwerker:innen oder Textilarbeiter:innen in Krisengebieten zu bezahlen. Es kann manchmal vorkommen, dass Banken einzelne Unternehmen beschuldigen, Terrororganisationen zu finanzieren“, erklärt Nanar.
Artisan and Fox ist eine ähnliche Plattform und arbeitet mit Handwerker:innen, Künstler:innen und Textilarbeiter:innen weltweit zusammen. Sie sind unter anderem auch in Mexiko aktiv, wo seit 2006 ein Kampf um Drogen und Macht herrscht. Dieser wird oft als ein Konflikt geringerer Intensität bezeichnet und betrifft die mexikanische Regierung, das Militär und verschiedene Drogenkartelle.
Das Unternehmen unterstützt hier Handwerker:innen wie Antonio, der mit sieben Jahren das Weben lernte. Auch bieten sie einer Frauengruppe aus Oaxaca die Möglichkeit, ihre handgemachten Taschen zu verkaufen.
Viele der Partnerschaften sind nur durch Organisationen möglich, die schon seit Jahrzehnten in den Krisenländern aktiv sind und die Situation bestens kennen. Dazu gehört beispielsweise die Turquoise Mountain Foundation, die sich vor allem in Afghanistan, Myanmar und Jordanien für kleine Unternehmen einsetzt. Dort unterstützen sie eine neue Generation von Handwerker:innen und versuchen so einzigartige Kulturen und Traditionen zu bewahren.
Myanmars Textilindustrie ist rasant gewachsen in den letzten Jahren. Viele wissen jedoch nicht, dass in diesem Land der längste Bürgerkrieg der Welt herrscht und sich nun bereits über sieben Jahrzehnte erstreckt. Dazu kommen zahlreiche Proteste, die Anfang 2021 gegen den Militärputsch begannen. Hier spielen Arbeiter:innen und Gewerkschaftsführer:innen aus der Bekleidungsindustrie eine große Rolle. Sie haben beispielsweise Streiks durchgeführt, um die Wirtschaft zu lähmen und Druck auf das Militär auszuüben.
Eine der Partnerinnen von Turquoise Mountain, Pi Hram Hliang, ist Weberin und lebt in einem kleinen Dorf in Myanmar. Ihr Heimatland produziert heute hauptsächlich für Fast-Fashion-Unternehmen. Deshalb ist sie dankbar, dass sie sich mit der Organisation für die traditionelle Seidenweberei einsetzen kann. Gemeinsam versuchen sie, diese in der Bekleidungsindustrie wieder aufzugreifen.
Auch die Ethical Fashion Initiative ist tatkräftig in Ländern wie Afghanistan und Mali. Es ist ein Programm, das vom Internationalen Handelszentrum ins Leben gerufen wurde und nun auch von der Europäischen Union unterstützt wird. Es verbindet marginalisierte Handwerker:innengemeinschaften an abgelegenen Orten mit globalen Lifestyle-Marken, wie beispielsweise Zazi Vintage. Somit erhalten lokale Handwerker:innen und Textilarbeiter:innen Zugang zum internationalen Markt, und schaffen so auch neue Arbeitsplätze.
Die UN-Flüchtlingsagentur, UNHCR, hat 2018 das Netzwerk Made51 gegründet. Dieses verbindet Labels und soziale Unternehmen mit Handwerker:innen oder Textilarbeiter:innen, die aus ihrem Heimatland fliehen mussten. Die meisten Länder, die Flüchtlinge aufnehmen, befinden sich nicht im globalen Norden, sondern im globalen Süden. Oft sind es die unmittelbaren Nachbarländer, die die Menschen aufnehmen.
Libanon zum Beispiel, selbst ein politisch instabiles Land, hat mehr als eineinhalb Million syrischer Flüchtlinge aufgenommen. Hier ist Made51 sehr aktiv und bietet den Menschen die Chance, sich weiterzubilden und weiterzuarbeiten.
Kulturelle Nachhaltigkeit fördern
Solche Initiativen sind wichtig, denn ohne sie würden zahlreiche Menschen ihrer Leidenschaft, ihrer Kunst und ihrem Talent nicht nachgehen können. Sie zeigen, wie empowernd Mode sein kann und dass es dabei auch immer um kulturelle Identität geht.
Hierbei spielt kulturelle Nachhaltigkeit eine wichtige Rolle. Soziale Unternehmen und Organisationen bieten die Chance auf eine friedliche Umgebung, in der Handwerker:innen und Textilarbeiter:innen zusammenkommen und ihre Heimat langsam wieder aufbauen können. Auf diese Art bekommen sie die Möglichkeit, trotz schwieriger Umstände, traditionelles Textilwissen und die damit verbundene Handwerkskunst an zukünftige Generationen weiterzugeben.
Wollt ihr mehr über Handwerkskunst in Konfliktzonen und kulturelle Nachhaltigkeit wissen? Dann lasst es uns gerne in den Kommentaren wissen!
Collage: © Vreni Jäckle
2 Antworten auf „Handwerkskunst in Konfliktzonen: Mode als kulturelles Erbe“
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