„Was wäre gewesen, wenn die [Arbeiter*innen], die in einer der Textilfirmen im Rana Plaza-Gebäude in Dhaka / Bangladesch arbeiteten, im April des Jahres 2013 über frei gewählte betriebliche Interessenvertretungen verfügt hätten?“, fragt Dr. Sabine Ferenschild in einer ihrer Recherchearbeiten für das Südwind-Institut. „Wäre die Sicherheit der Beschäftigten wichtiger gewesen als das Geschäftsinteresse der Firmeninhaber?“
Mit ihr unterhalte ich mich über Vereinigungsfreiheit, warum Gewerkschaften in der Textilindustrie so wichtig sind und warum der Weg zur sozialen Gerechtigkeit noch ein langer ist.
Medina: Dr. Ferenschild, sie beschäftigten sich seit Jahren mit Gewerkschaften in der Textilbranche. Was genau beinhaltet die Vereinigungsfreiheit denn?
Dr. Sabine Ferenschild: „Die Vereinigungsfreiheit beinhaltet das Recht von Beschäftigten, Organisationen ihrer Wahl zu gründen beziehungsweise diesen beizutreten. Wenn Mitarbeiter*innen in einem Betrieb merken, dass sie bestimmte Interessen von ihrem*ihrer Arbeitgeber*in nicht bewilligt bekommen oder bestimmte Missstände unternehmensintern nicht behoben werden, können sie sich auf Betriebsebene organisieren und einer überbetrieblichen Gewerkschaft beitreten.“
Warum sind Gewerkschaften vor allem in der Textilbranche so wichtig?
„Kurz und vereinfacht gesagt: ohne Gewerkschaften keine guten Löhne. Wir merken immer wieder, dass da, wo Gewerkschaften oder Betriebsräte existieren, die Löhne höher sind, als dort, wo die Beschäftigten komplett unorganisiert sind. Höhere Löhne sind womöglich der wichtigste Vorteil, den Beschäftigte dadurch haben. Aber auch andere Bedingungen sind erfahrungsgemäß besser in Betrieben, in denen Arbeiter*innen sich für die eigenen Interessen einsetzen können, zum Beispiel die Einhaltung von Arbeitszeitgesetzen, Mutterschutz oder Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz.“
Das Recht auf Vereinigungsfreiheit und Kollektivverhandlungen gehört zu den zentralen internationalen Arbeitsrechten. Es ist in den Übereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO – International Labour Organisation) Nr. 87 und Nr. 98 aus den Jahren 1948 beziehungsweise 1948 festgehalten.
Diese zwei Übereinkommen zählen zu den Menschenrechten bei der Arbeit, den sogenannten Kernarbeitsnormen, zu denen außerdem noch das Verbot von Zwangsarbeit, Kinderarbeit und Diskriminierung am Arbeitsplatz gehören.
Grundsätzlich können die Mitgliedsstaaten der ILO souverän entscheiden, welche der ILO-Übereinkommen sie ratifizieren und in nationales Recht übertragen. Für die Kernarbeitsnormen aber gilt, dass sie in allen Mitgliedsstaaten unabhängig von der Ratifizierung der einzelnen Kernarbeitsnormen gelten.
Wie kann man sich die Arbeit solcher Gewerkschaften hinter den Kulissen vorstellen?
„Auf Betriebsebene ist der Verhandlungspartner erst mal der*die Arbeitgeber*in – also das Management des Unternehmens oder der*die Besitzer*in. Hier können Beschäftigte der Gewerkschaft beitreten oder sie gründen, wenn es noch keine gibt. In manchen Ländern gibt es für eine solche Gewerkschaftsgründung auf Betriebsebene aber Hürden, wie zum Beispiel einen Mindestorganisierungsgrad. In Bangladesch zum Beispiel muss eine Neugründung von mindestens 20 Prozent der Beschäftigten des Betriebs unterstützt werden. Das ist eine sehr hohe Hürde.
Aber auch betriebsübergreifend sind Gewerkschaften aktiv – zum Beispiel in Mindestlohnkommissionen. In solchen Kommissionen finden meist sogenannte dreigliedrige Verhandlungen statt. Das sind die Gewerkschaften als Vertretungen der Arbeitnehmenden, die Arbeitgeber*innenorganisation als Vertretungen der Unternehmer*innen, und die Regierung als Vertretung der Politik. Diese Parteien handeln dann gemeinsam Empfehlungen für die jeweils gültigen Mindestlöhne aus, die die Regierung dann in Gesetze fassen muss – oder sollte.“
Was hat sich denn in den letzten Jahren durch Gewerkschaften verändert?
„Grundsätzlich muss man sagen, dass die internationale Gewerkschaftsbewegung seit ihren Anfängen im 19. Jahrhundert zum Aufbau nationalen Arbeitsrechts und nationaler Sozialsysteme beigetragen hat. Durch ihre Kämpfe in Form von Streiks und Demonstrationen, durch ihre Mitarbeit in Kommissionen und Tarifverhandlungen hat sie entscheidend dazu beigetragen, Mindestlöhne, Arbeitsschutz, das Verbot von Kinder- und Zwangsarbeit und von Diskriminierung gesetzlich zu verankern. In Bangladesch waren nationale und internationale Gewerkschaften entscheidend am Aufbau des Bangladesch Accords, einem Sicherheitsprogramm für Textilfabriken, beteiligt. In Pakistan kämpfen aktuell die nationale Gewerkschaftsföderation und die Heimarbeiterinnengewerkschaft um eine deutliche Anhebung des nationalen Mindestlohns.
Aber trotz aller Erfolge und anhaltender Kämpfe: Wenn man den globalen Rechtsindex des internationalen Gewerkschaftsbundes anschaut, hat sich in den letzten Jahren nicht genug verbessert. Recht und Realität klaffen zu weit auseinander. Der globale Rechtsindex untersucht Arbeitnehmer*innenrechte in knapp 150 Ländern weltweit.
Hier finden sich regelmäßig Länder, in denen Textilien produziert werden, mit den schlechtesten Bewertungen wieder, das bedeutet, dass dort Arbeitsrechte eklatant verletzt werden. Bangladesch gehört laut diesem Index zu den zehn schlimmsten Ländern für erwerbstätige Menschen, aber auch Myanmar und die Türkei – alles wichtige Produktionsländer der Textilbranche. Zu den Rechten, die in diesen Ländern verletzt werden, gehören das Recht auf Vereinigungsfreiheit und auf Kollektivverhandlungen.”
Was droht Arbeiter*innen, wenn sie Gewerkschaften beitreten?
„Ein besonders großes Problem ist, dass nicht nur Gewerkschaftsmitglieder, sondern auch Gewerkschaftsfunktionär*innen von Entlassungen und Verfolgungen bedroht sind. So werden sie in ihrem Recht zu Vereinigungsfreiheit behindert. Das haben wir vor allem auch während der Pandemie gemerkt. Textile Lieferketten sind zusammengebrochen, viele Menschen sind entlassen worden, Aufträge wurden storniert, Bestellungen nicht bezahlt. Egal, ob Bangladesch, China, Indonesien – vor allem gewerkschaftlich organisierte Menschen gehörten zu denen, die entlassen wurden.“
Wie können Gewerkschaften Minderheiten schützen?
„Für den Schutz von Minderheitenrechten ist meiner Meinung nach die Selbstorganisierung der Beschäftigten elementar. Und da überwiegen als Organisationsform die Gewerkschaften, die sich im umfassenden Sinne für Arbeitsrechte einsetzen. Es ist zwar oft so, dass sich Gewerkschaften in ihrer alltäglichen Arbeit auf die Arbeitsrechte der Mehrheit der Beschäftigten, sprich: Löhne oder Arbeitszeiten, konzentrieren. So gesehen werden die Rechte von Minderheiten oft weniger thematisiert. Deswegen ist es wichtig, auch in Gewerkschaften Schulungen zu Minderheitenrechten durchzuführen. Das können Minderheiten wie die LGBTQIA+-Community sein oder Migrant*innen, die in manchen Ländern sogar davon ausgeschlossen sind, Gewerkschaften beizutreten.
Hier könnten Subkomitees in den Gewerkschaften helfen, die sich noch mal spezifisch einzelnen Minderheitengruppen widmen. Ich sehe hier aber auch eine politische Aufgabe von Gewerkschaftsdachverbänden, die sich offener aufstellen und politische Rahmenarbeit leisten müssen, um auch in Gesellschaften, die vielleicht nicht so offen für die Rechte von Minderheiten sind, Bewusstseinsbildung zu betreiben.“
Wie kann das deutsche beziehungsweise das EU-Lieferkettengesetz Gewerkschaftler*innen schützen?
„Die Berichtspflicht nach dem deutschen Lieferkettengesetz (und der Berichtspflicht, die nach dem EU-Lieferkettengesetz zu erwarten ist), kann dazu führen, dass Auftraggeber die Situation in ihren Zulieferbetrieben erstmals genauer betrachten. Dabei sollten sie feststellen, ob es Betriebsgewerkschaften bei ihren Zulieferern gibt und wie viele Beschäftigte gewerkschaftlich organisiert sind. Wenn es keine Gewerkschaften gibt, ist das ein Hinweis darauf, dass die Vereinigungsfreiheit gefährdet sein kann. Ich hoffe, dass Auftraggeber solche Situationen dann analysieren: Was hindert die Beschäftigten daran, sich zu organisieren? Herrscht in der Fabrik etwa ein gewerkschaftsfeindliches Klima? Gibt es Angehörige von Minderheiten in meinen Zulieferbetrieben, die ein besonderes Diskriminierungs-Risiko haben?“
Wie können NGOs wie die Clean Clothes Campaign helfen?
„NGOs können Hinweise an das BAFA weitergeben, also dem Amt, das für die Umsetzung des Lieferkettengesetzes verantwortlich ist. Diese Hinweise sind in der Regel Veröffentlichungen. Wir können über unsere Expertise und unser Wissen, das wir von unseren Partnern im Globalen Süden erlangen, Hinweise auf menschenrechtliche Risiken in der Lieferkette deutscher oder europäischer Unternehmen in Deutschland bekannt machen. So können wir sowohl die Unternehmen selbst als auch das BAFA über Missstände informieren.
Sobald diese klare Hinweise auf Verstöße gegen das Lieferkettengesetz haben, sind sie verpflichtet, diesen nachzugehen. NGOs können Menschen aber auch bei Beschwerden unterstützen. Im Kontext des Clean-Clothes-Campaign-Netzwerks werden Süd-Partner*innen über das Lieferkettengesetz und seine Möglichkeiten informiert und geschult, um über diese Kontakte in Zukunft gegebenenfalls solche Beschwerdeverfahren unterstützen zu können.
Haben Konsumierende hier letztlich einen Hebel?
„Vereinigungsfreiheit ist ein Thema, das von Endkonsumierenden weit weg ist. Aber sie können sich an Kampagnen beteiligen, politisch aktiv werden, sich selbst in Gewerkschaften organisieren. Wir ermutigen Beschäftigte im Globalen Süden Gewerkschaften zu gründen und diesen beizutreten, aber das Gleiche sollten wir auch hier tun. Hier geht der Organisierungsgrad immer weiter zurück – es scheint, als hätten jüngere Menschen den Nutzen von Gewerkschaften noch nicht eingesehen. Doch auch hier sind Mindestlöhne beispielsweise noch nicht existenzsichernd.
Es gilt also mutig zu sein, den Dialog zu suchen und sich die Frage zu stellen: Wo kann ich mich an meinem eigenen Arbeitsplatz für Verbesserung einsetzen? Aber auch: Wie sehen die Lieferketten des Unternehmens, bei dem ich arbeite, konkret aus? Kann das Management mir darüber Auskunft geben? Letztlich geht es nicht nur um den Konsum, sondern um das politische und gewerkschaftliche Engagement zur Schaffung menschenwürdiger Arbeitsbedingungen.”
Danke für das aufschlussreiche Gespräch, Dr. Ferenschild.
Titelbild: Scott Umstattd via Unsplash
Dr. Sabine Ferenschild ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am SÜDWIND Institut für Ökonomie und Ökumene in Bonn, das für gerechte Wirtschaftsbeziehungen arbeitet. Sie befasst sich dort mit den Themen Frauen und Weltwirtschaft – hier insbesondere mit den Arbeitsbedingungen für Frauen entlang der Lieferkette der Textil- und Bekleidungsindustrie in Ländern des globalen Südens. Sie vertritt SÜDWIND beim Textilbündnis und in der Kampagne für Saubere Kleidung.
Nach dem Studium der Psychologie, Sozialwissenschaften und katholischen Theologie an der Universität Münster und der Promotion in Sozialwissenschaften an der Universität Paderborn war Dr. Sabine Ferenschild für die Katholische Arbeitnehmerbewegung in Aachen sowie für das Ökumenische Netz Rhein Mosel Saar tätig. 2011 nahm sie ihre Tätigkeit für SÜDWIND auf.