Intersektionale Nachhaltigkeit: Es reicht nicht, dass du dich nur für das Klima einsetzt

Am 22. April 2022 ist Earth Day. Wenn du dich nur darauf konzentrierst, CO2 zu sparen, machst du etwas falsch. So geht es besser.

Illustration zum Thema Intersektionale Nachhaltigkeit: Grüne Blätter und Vögel um eine Erde, die von einer Hand gehalten wird

Starten wir mit dem Offensichtlichen: Die Klimakrise ist die aktuell größte Bedrohung der Menschheit. Wir müssen all unsere Energie in die Lösung(en) dieses Problems stecken. Ansonsten wird die Erde für unsere Enkelkinder und deren Kinder ein deutlich unbequemerer Ort sein als heute für uns. 

Das ist der Tenor, mit dem die Demonstrationen von Fridays for Future und damit auch die öffentliche Auseinandersetzung mit den Themen Umwelt- und Klimaschutz in den letzten Jahren Fahrt aufnahmen. „Wir sind hier, wir sind laut, weil ihr unsere Zukunft klaut!“ 

Dieses Narrativ ist sehr anschlussfähig und hat einen großen Wahrheitsgehalt – wenn du weiß bist und es dir heute einigermaßen gut geht. Denn nur dann kann dir die Zukunft als etwas erscheinen, das durch die Klimakrise zum ersten Mal bedroht ist. Dass die größte für dich wahrnehmbare Gefahr ausgerechnet dort lauert, sagt viel darüber aus, mit welchen Problemen du dich bisher nicht beschäftigen musstest. Deine Gegenwart ist sicher, deine Vergangenheit war es ebenfalls. 

Was ist Intersektionalität?

Intersektionalität beschreibt die Überschneidung von unterschiedlichen Diskriminierungsformen in einer Person. Eine Schwarze, mehrgewichtige Frau wird diskriminiert, weil sie Schwarz (Rassismus), mehrgewichtig (Fettfeindlichkeit) und eine Frau (Misogynie) ist. Zusammen verstärken sich die unterschiedlichen Diskriminierungsformen und bilden eigenständige Diskriminierungserfahrungen. Geprägt wurde der Begriff von der US-amerikanischen Juristin Kimberlé Crenshaw in den 80er Jahren. 

Das ist ein Privileg, das in den vergangenen Jahren immer wieder vor allem von BiPoC (Black, Indigenous and People of Color) und anderen marginalisierten Gruppen angesprochen wurde. Bis sich in den öffentlichen Auftritten vieler Klima-Aktivist*innen etwas änderte und Begriffe wie Klima-Gerechtigkeit Einzug in Reden fanden, dauerte es allerdings eine Weile. Das hängt auch damit zusammen, wer Zugang zu den entsprechenden Gruppen hatte – und wer nicht. Viel zitiert wurde die Erhebung vom Institut für Prostest- und Bewegungsforschung, die 2019 zu dem Schluss kam, dass es sich bei den Demonstrant*innen überwiegend um gebildete, weiße junge Menschen aus der Mittelschicht handelt. 

Auch jetzt tun sich noch viele aktivistische Gruppierungen schwer, sich nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch für rassifizierte und anders marginalisierte Personen zu öffnen. Als Antwort auf die ausschließende Homogenität in weißen Klimaschutzgruppen hat sich in Deutschland unter anderem das Black Earth Kollektiv gegründet, in dem ansonsten nicht stark gehörte Perspektiven einen Raum bekommen. 

Politik: Auch hier trifft der Hammer den Nagel

Allerdings ist bei aller berechtigten Kritik an aktivistischen Gruppierungen ein anderes Feld nicht außer acht zu lassen – das, in dem am Ende die Entscheidungen getroffen werden. Auch hier sehen die Sitzreihen vor allem weiß und cis-männlich aus. Vielfalt in der Politik? Davon ist Deutschland sehr weit entfernt

Doch Repräsentation allein würde das Problem nicht lösen, das ja vor allem auch in den offenen Türen politischer Entscheidungsträger*innen für Lobbyorganisationen besteht. So wurde, nachdem die Zivilgesellschaft über zwei Jahre Druck ausübte, kürzlich endlich ein Lieferkettengesetz beschlossen – aber ein zahnloses. Die Einhaltung der Menschenrechte innerhalb von Lieferketten ging der Wirtschaftslobby entschieden zu weit, sodass sie das Gesetz unter Mitarbeit von Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier torpedierte.

Verantwortlich sind Unternehmen (zunächst ab 3000 Beschäftigte, später ab 1000 Beschäftigte) jetzt nur noch für ihren direkten Vertragspartner. Das ist das erste Glied der Kette – was sich dahinter abspielt, wird erst relevant, wenn Menschenrechtsverletzungen belastbar nachgewiesen werden können. Aus der Opposition wird das als eine „Aufforderung zum Wegschauen“ interpretiert. 

Dass über dieses Mindestmaß an Verantwortung für Menschenrechte so lange und erbittert gestritten wurde, dass für eine Weile nicht einmal diese zahnlose Version des Lieferkettengesetzes möglich erschien, zeigt, dass die wahren Prioritäten der deutschen Regierung am Ende nicht bei den Menschen fernab der nationalen Grenzen, sondern vor allem beim Geld und der Möglichkeit, wiedergewählt zu werden, liegen. 

Das Lieferkettengesetz ist ein Beispiel von vielen, das die Eigenzentriertheit der deutschen Politik beschreibt. Der Wohlstand Deutschlands gründet – wie der aller westlichen Industrienationen – auf kolonialistischen Praktiken, die sich bis heute fortsetzen. Ambitionen, daran etwas zu ändern, sind trotz aller Betonung von Frieden und Freiheit als Grundwerte der EU spärlich gesät. 

Das spiegelt sich auch in der aktuellen Klimapolitik wider, die sich erfolgreich um Einschränkungsaufforderungen gegenüber der Bevölkerung und wirksame Auflagen gegenüber Unternehmen herum manövriert. Doch ohne beides wird es nicht gehen können – auch wenn selbst ökologisch ausgerichtete Parteien das Gegenteil versprechen.

Der Grüne Kapitalismus wird nicht die Lösung sein. Unter anderem, weil mit diesem Weg die Probleme, die viele Menschen effektiv an der Mitarbeit hindern, die Klimakrise zu stoppen, nicht angetastet werden. Rassismus, Klassismus, Ableismus, Queer-Feindlichkeit und andere Diskriminierungsformen werden weiterhin einen Großteil der Ressourcen zahlreicher Menschen beanspruchen – Energie, die für den Einsatz für das Klima fehlt. Und solange die Rohstoffe für die neuen Technologien, die uns das Klimawunder bescheren sollen, in Ländern des Globalen Südens gewonnen und koloniale Strukturen aufrechterhalten werden, wird das gute Leben auch in dieser Utopie nur für die wenigsten Bewohner*innen dieses Planeten möglich sein. 

Eine grobe Nachzeichnung der Zusammenhänge

„There is no such thing as a single-issue struggle, because we do not live single-issue lives”, fasste die Schwarze Aktivistin und Schriftstellerin Audre Lorde 1982 in einer Rede zusammen. Grob übersetzt bedeutet das: „Es gibt keinen Kampf, der nur ein einziges Problem bekämpft, denn auch im Leben sind Probleme nicht voneinander isoliert.”

Wie der Kampf für das Klima zusammenhängt mit: 

  • Klassismus: Menschen mit wenig Geld tragen sowohl national wie global betrachtet am wenigsten zur Klimakrise bei. Doch sie gehören zu denjenigen, die am stärksten unter ihren Folgen und den Klimafolgenanpassungen leiden (werden). Politische Maßnahmen zur Reduktion der Emissionen müssen daher immer auch die soziale Komponente innerhalb der Gesellschaft mitdenken. Internationale Verpflichtungen müssen insbesondere von den reichen Staaten, welche mit Abstand am meisten zur globalen Erhitzung beitragen (und historisch beigetragen haben) eingehalten und möglichst übertroffen werden. 
  • Rassismus: Der Reichtum des Globalen Nordens beruht auf jahrhundertelanger Ausbeutung des Globalen Südens und rassifizierter Menschen im Globalen Norden. Ohne Kolonialismus hätte die Industrialisierung und mit ihr der massenhafte und anhaltende Ausstoß klimawirksamer Emissionen nicht stattfinden können. Je reicher Einzelpersonen und Länder, desto größer ihr Beitrag zur Verschärfung der Klimakrise. Trotzdem hält sich das Scheinargument von der sogenannten „Überbevölkerung“ hartnäckig: Häufig wird so getan, als würde eine Geburtenreduktion allein das Klimaproblem lösen. Gemeint sind vor allem damit die Bevölkerungen des Globalen Südens – also die Personen, die am wenigsten CO2 emittieren. 
  • Heteronormativität / Misogynie: Kapitalismus und die Ausbeutung von Menschen mit Uterus gehen (obgleich auch in vorherigen Gesellschaftsformen vorhanden, so doch verstärkt) Hand in Hand. Auffällig ist die Zuordnung des „Klima-Themas“ zu überwiegend weiblich gelesenen Personen – eine zusätzliche Care-Aufgabe, die un- oder unterbezahlt verrichtet wird. Denn in den hohen und gut vergüteten Positionen sitzen nach wie vor: cis Männer. Das bringt uns dazu, darüber nachzudenken, inwiefern Care-Arbeit und Weiblichkeit voneinander entkoppelt werden können – und den Raum für Perspektiven zu öffnen, die über das heteronormative Schema hinausgehen. 

Viele Lebensbereiche und Probleme sind gerade in einer globalisierten Welt miteinander verknüpft – wir können das eine nicht vom anderen trennen, ohne noch mehr Schaden anzurichten. Generationen von Schwarzen und indigenen Aktivist*innen war das lange vor dem Aufkommen der aktuellen Klima-Debatte bewusst. 

Intersektionale Kämpfe waren schon vorher da

Alle kennen Greta Thunberg, aber wer hat schon etwas von Autumn Peltier gehört? Die Angehörige der First Nation Wiikwemkoong aus Kanada bewegt sich ebenfalls auf internationalem Parkett und sprach 2019 beispielsweise im Hauptquartier der UN zum Thema sauberes Wasser. Bereits 2015 war sie auf der Children’s Climate Conference zugegen – ein Jahr später nahm sie Premierminister Justin Trudeau für seine “gebrochenen Versprechen” in die Verantwortung. 

Die ugandische Klima-Aktivistin Vanessa Nakate ist bereits bekannter – unter anderem auch, weil sie auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos von der Associated Press (AP) aus einem Gruppenfoto herausgeschnitten wurde. Übrig blieben nur weiße Klima-Aktivistinnen. Eine klare Aussage dazu, wie Klima-Aktivist*innen in der weißen Öffentlichkeit auszusehen haben. Dabei ist Nakates Engagement bemerkenswerter als das ihrer weißen Kolleg*innen: Im Gegensatz zu ihnen, die bisher noch nicht mit Partnerschaften im Globalen Süden von sich reden gemacht haben, sucht Nakate gezielt die Zusammenarbeit mit Aktivist*innen aus den westlichen Industrienationen und baut ihre Netzwerke – von einer ganz anderen Startposition aus – auf internationaler Ebene aus. 

In dem Zusammenhang ist auch spannend, welches Bild wir heute von Klima-Aktivismus haben: Wer wird als engagiert fürs Klima wahrgenommen? Wer im Bioladen einkauft, auf Demonstrationen geht und grün wählt? Auch das ist eine sehr privilegierte Definition und setzt voraus, dass es so etwas wie Bioläden in Reichweite und Zeit und Kraft für energieraubende Aktivitäten wie Demonstrationen gibt. Wer den ganzen Tag care- und in unterbezahlten Jobs arbeitet, hat womöglich andere Prioritäten und Möglichkeiten. Wer sich nicht leisten kann, dem Unterricht fern zu bleiben, weil der versäumte Stoff nicht mit der Unterstützung der Eltern nachgeholt werden kann, für die*den sind Streiks keine Option. 

Doch selbst wenn wir bei der Demonstrations-Definition bleiben: Auch bei diesem Thema waren BiPoC mit großem Abstand als erste auf den Straßen und haben den Kampf gegen Multimilliarden-Dollar-Konzerne und eine untätige Politik am erbittertsten geführt – unter anderem, weil Umweltzerstörung und Klimawandel ihre Lebensgrundlagen sehr konkret bedrohten und bedrohen. Sowohl in den USA als auch in Deutschland ist vor allem die Schwarze und indigene Bevölkerung überproportional stark von Umwelt- und Klimaauswirkungen betroffen, obwohl sie den geringsten Teil zu beidem beitragen. 

In den 1980ern entstand die Umweltgerechtigkeitsbewegung (Environmental Justice Bewegung), die Vorläuferin der Klimagerechtigkeits-Bewegung (Climate Justice Movement). Sie weist auf die Verbindung von Rassismus und der Disposition von Umweltzerstörung sowie Klimawandelauswirkungen hin. Als Startpunkt wird oft der Widerstand der Schwarzen Bevölkerung in Warren County, USA, gegen die Errichtung einer Mülldeponie mit vergifteter Erde im Jahr 1982 genannt. Er stammte aus illegalen Straßenabfällen und sollte in der überwiegend von Schwarzen bevölkerten Gemeinde gelagert werden. Ein Massenprotest erhob sich, infolgedessen mehr als 500 Aktivist*innen inhaftiert wurden. Die Deponie wurde trotz des Widerstandes der lokalen Bevölkerung errichtet. 

Gegenwehr von BiPoC gegen umweltrassistische Maßnahmen und Umstände hatte es zwar auch im Vorfeld gegeben. In den frühen 1960er Jahren kämpften lateinamerikanische Landarbeiter für Rechte am Arbeitsplatz, einschließlich des Schutzes vor schädlichen Pestiziden auf den Feldern des kalifornischen San Joaquin Valley. 1967 gingen afroamerikanische Studenten in Houston auf die Straße, um gegen eine städtische Mülldeponie in ihrer Gemeinde zu protestieren. 1968 kämpften die Bewohner von West Harlem in New York City erfolglos gegen eine Kläranlage in ihrer Gemeinde. Daher führen einige Quellen den Beginn der Umweltgerechtigkeits-Bewegung mit der Entstehung der Bürgerrechts-Bewegung zusammen. Doch der Kampf in Warren County erhielt das erste Mal nationale Aufmerksamkeit. Ein Damm war gebrochen. 

Inoffiziell gibt es diesen Widerstand jedoch bereits seit über 500 Jahren: Seit dem Beginn des Kolonialismus setzen sich Schwarze und indigene Menschen gegen Landraub, Versklavung und die aufgezwungene europäische Lebensweise zur Wehr. Da Gebiete unter indigener Verwaltung am nachhaltigsten und klimafreundlichsten bewirtschaftet werden, gelten Indigene heute als die besten Naturschützer*innen und als eine der Schlüsselstellen in der Abmilderung der Klimakrise

Der Kampf für die Umwelt war für einige Gruppen bereits in den Anfängen eng verzahnt mit dem Kampf für soziale Gerechtigkeit und ein menschenwürdiges Leben – aus schlichter Notwendigkeit. Dabei mussten und müssen ihre Mitglieder unter Umständen deutlich höhere Risiken eingehen als demonstrierende weiße Aktivist*innen in Deutschland: Verhaftungen wegen angeblicher Verschwörung gegen den Staat oder “Störung der öffentlichen Ordnung” sind in einigen Ländern keine Seltenheit und besonders junge Mädchen und Frauen haben zusätzlich mit patriarchalen Widerständen zu kämpfen. Eine steigende Anzahl an Aktivist*innen – insbesondere Indigene und People of Color – bezahlen ihren Einsatz für die Zukunft mit dem Leben: Mehr als 331 von ihnen wurden im letzten Jahr ermordet (2019 lag die Zahl bei 212). 

Intersektionalität: der Kampf für das Leben

Der Aufstand gegen die Zerstörung von Leben wird heute auf der ganzen Welt geführt. Black Lives Matter macht auf die rassistische und kolonialistische Dimension aufmerksam, Ni Una Menos („Nicht eine mehr“) in Südamerika bringt den Kampf um die Leben von FLINTA+ ein, indigene Gemeinden kämpfen gegen Infrastrukturprojekte, Staudämme und Landraub. Allein gemein ist der Widerstand gegen eine Lebensform, die extrahiert und zerstört: Leben von BiPoC, Leben von FLINTA+, Umwelt und Klima. 

Medial stehen trotzdem weiße Klima-Aktivist*innen aus dem Globalen Norden im Zentrum der Aufmerksamkeit – das Problem ist also auch in den Redaktionen zu suchen. „Wir sprechen, aber wir werden nicht gehört“, fasst die Bauingenieurin und Klima-Aktivistin Ineza Umuhoza Grace aus Ruanda zusammen und spricht damit stellvertretend für eine Vielzahl an Menschen und unterschiedlichen Gruppierungen, die von dem Bild der weißen, engagierten Jugend abweichen. 

Für Menschen wie Autumn Peltier oder Vanessa Nakate und Ineza Umuhoza Grace geht es nicht nur darum, dass ihre Kinder und Kindeskinder eine gute Zukunft erleben dürfen. Ihnen geht es darum, die Verhältnisse ihrer Mitmenschen, die jetzt bereits am stärksten von den ersten Auswirkungen der Klimakrise betroffen sind, obwohl sie am wenigsten zur Erderhitzung beitragen, zu verbessern. Dazu müssen sie und ihre Verbündeten die Systeme kritisieren und demontieren, die überhaupt in die aktuelle Misere geführt haben. Das sind: Kapitalismus, Patriarchat und weiße Vorherrschaft (White Supremacy). „Wenn du als Indigene geboren wirst, wirst du als Aktivistin geboren“, sagt Hindou Oumaru Ibrahim, eine Aktivistin aus dem Tschad, die kürzlich auf dem Klimagipfel des US-Präsidenten sprach. „Du kämpfst jeden Tag um dein Land, deine Art zu leben, gegen die Zerstörung der Umwelt.“

Der Kampf für die Umwelt und das Klima bettet sich hier in ganz andere Voraussetzungen ein – es geht nicht nur um die Zukunft, sondern auch um Gegenwart und Vergangenheit. 

So machen wir es besser

Das sind nur einige der vielen Zusammenhänge und Überschneidungen, die beim Einsatz für das Klima mitgedacht werden sollten. Zusätzliche Überlegungen lassen sich zu den Themen Antisemitismus, Ableismus und anderen Diskriminierungsformen anstellen (und müssen besprochen werden). Generell gilt: Solange diese Unterdrückungsmechanismen existieren, ist auch neben dem Einsatz für das Klima der Einsatz für die Beendigung von Ungerechtigkeiten unerlässlich. Vor allem aus ethischer Überzeugung (die sich von selbst versteht), aber auch aus strategischen Überlegungen: Mehr Menschen, die nicht jeden Tag für die bloße Anerkennung ihrer Existenz kämpfen müssen, haben mehr Kapazitäten, um sich für die gute Zukunft für alle einzusetzen. 

Zwar können wir uns darauf einigen, dass wenige Reiche global wie national für den derzeitigen Zustand verantwortlich sind. Doch wenn die Zeit eines gezeigt hat, dann, dass die meisten dieser Einzelpersonen ebenso wie Unternehmen und viele Politiker*innen wenig Interesse daran haben, ihren Lebensstil von allein zu ändern. Es bedarf dem Druck der Vielen – und dafür brauchen alle einander. 

Es ist okay, Schwerpunkte in dem eigenen Leben und der aktivistischen Arbeit zu setzen, doch das Sichtfeld sollte stets geöffnet bleiben. Fragen, die wir uns – je nach Möglichkeiten und Position – stellen können und sollten, sind beispielsweise: 

  • Übergehe ich Personen mit meinen Forderungen? Blende ich zum Beispiel aus, dass es sehr viel Zeit kostet, Secondhand zu kaufen und Biolebensmittel genauso wie der regelmäßige Einkauf im Unverpacktladen nicht für alle leistbar ist? 
  • Glaube ich, dass das Klima für alle Menschen die erste Priorität ist? Warum? 
  • Wie viel Bedeutung messe ich individuellen Alltagsentscheidungen bei? 
  • Sind mein Denken und meine Räume offen für marginalisierte Menschen? 
  • Falls dem so ist – sind marginalisierte Personen anwesend? Wie viele? Wie können es mehr werden? 
  • Was kann ich tun, damit nicht nur ich gehört werde? Kann ich Macht und Bühne teilen?
  • Wie viel weiß ich über Diskriminierungsformen und ihre systemischen Verflechtungen? Wie kann ich mehr lernen? 

Was bedeutet das für die Fashion-Industrie?

Als Industriezweig, der wie jeder andere den Logiken des kapitalistischen Marktes unterliegt, steckt die Fashion-Industrie bis zum Hals in den beschriebenen Mechanismen. Insbesondere das koloniale Erbe wiegt schwer: Undurchsichtige Lieferketten, in den Globalen Süden ausgelagerte Produktionen aufgrund der günstigen Arbeitskräfte, Menschenrechtsverletzungen, die im Fast- und Ultra-Fast-Fashion-Bereich an der Tagesordnung sind, Zerstörung lokaler Textilindustrie, gestohlene Muster indigener Gemeinden, die von großen Ketten kopiert und für wenig Geld in den eigenen Katalog aufgenommen werden… Die Liste ist endlos. 

Sie zeugt von den vielen, bisher nicht aufgearbeiteten Problemen der Vergangenheit. Das Machtgefälle ist auch heute eindeutig: Wenige reiche, oft weiße Personen, kontrollieren die Platzhirsche der Modeindustrie, diktieren Preise und im großen Umfang auch die Arbeitsbedingungen. 

Gleichzeitig scheint sich – basierend auf dieser Ausbeutung – die Mode für Menschen im Globalen Norden demokratisiert zu haben. Doch das ist eine Illusion: Wie frei kann eine Wahl für Kleidung aus minderwertigen Stoffen mit giftigen Rückständen und kurzer Haltbarkeit sein – in einem Karussell, das sich in den letzten beiden Jahrzehnten in schwindelerregender Geschwindigkeit zu drehen begonnen hat? Klassenunterschiede werden nicht durch Konsum überwunden. Das Gute – lange Haltbare, Hochwertige, kunstvoll Gefertigte, bleibt nach wie vor denen vorbehalten, die es sich leisten können und wollen. Es werden immer weniger. 

Und dennoch (oder gerade deswegen) haben wir im Globalen Norden ein Problem mit einem Überkonsum, der nicht sein müsste und schädlich ist für Menschen und Klima. Der allerdings bewusst herbeigeführt und befeuert wird – der Verdacht liegt nahe: Um den Menschen ein Gefühl von Macht und Autonomie zu vermitteln, das allzu langes Nachdenken über die Geschehnisse hinter dem schönen Schein verhindert. 

Sich dem aufgrund besseren Wissens zu widersetzen, erfordert Zeit, Kraft – und Geld. Einsetzen sollten wir uns daher nicht nur dafür, dass Kleidung bewusster und weniger gekauft wird. Sondern auch für die Etablierung eines fairen Secondhandsystems, das nicht am Ende zum Nachteil osteuropäischer FLINTA+ gereicht, die unsere nicht mehr gewollten Stücke für einen lächerlichen Lohn sortieren müssen. 

Wir sollten uns dafür einsetzen – und entsprechende Labels und politische Vorhaben unterstützen –, nachhaltige und fair produzierte Mode für alle zugänglich zu machen: für mehrgewichtige und dicke Menschen, für Menschen mit Behinderungen, für Menschen, die sich keiner Geschlechtsperformance zuordnen oder aus religiösen Gründen in einem bestimmten Stil kleiden möchten, für Menschen, die nicht viel Geld haben. 

Die Verflechtungen sind vielfältig und können in einem kurzen Artikel nur in Ansätzen angerissen werden – dennoch sollte deutlich geworden sein, wie eng die Forderung nach einer nachhaltigeren Welt mit anderen gesellschaftspolitischen Anliegen verbunden ist. Der bloße Fokus auf das Klima mag insbesondere für den Einstieg in das Thema verständlich sein, sollte allerdings nicht der einzige bleiben, wenn wir wirkliche Veränderung wollen. Nur die Privilegierten dieser Welt werden genau diese nicht ändern – denn für sie ist sie schon gut so wie sie ist.

Collage © Vreni Jäckle
Dieser Artikel wurde 2021 veröffentlicht und im Zusammenhang des diesjährigen Earth Day aktualisiert.

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