Anna Cavazzini: „Ich wünsche mir, dass wir beim EU-Lieferkettengesetz so wenig Schlupflöcher wie möglich lassen”

Der EU-Rat hat sich im November 2022 zum EU-Lieferkettengesetz positioniert. Beifall gab es von Lobbyist*innen, Kritik von NGOs und Jurist*innen: Die Positionierung sei zu konservativ. Viel Kapitalismus, wenig Mensch. Im Mai 2023 soll sich auch das EU-Parlament positionieren – dann starten die Trilogverhandlungen. Wir haben Anna Cavazzini, Mitglied des Europäischen Parlaments, zur aktuellen Stimmungslage in der EU interviewt.

Titelbild EU-Lieferkettengesetz - pexels, Justice La Duke

In wenigen Wochen wird sich das EU-Parlament zum EU-Lieferkettengesetz positionieren. Der EU-Rat, der die Ansichten der Regierungen der EU-Mitgliedstaaten umfasst, hat seine Position bereits am 30. November 2023 veröffentlicht – eine teilweise konservative Perspektive, geprägt von wirtschaftlichen Interessen.

Ein verwässertes EU-Lieferkettengesetz, mitverschuldet durch die Bundesregierung?

Im Januar 2023 veröffentlichten Armin Paasch und Karolin Seitz ihre Recherche „Methode ,Copy & Paste’ – Wie deutsche Europaabgeordnete beim EU-Lieferkettengesetz  Forderungen der Wirtschaftslobby wörtlich übernehmen”, die offenlegt, dass auch die deutsche Bundesregierung an der Verwässerung des EU-Lieferkettengesetzes beteiligt ist. Die Recherche zeigt unter anderem, dass ein Großteil der Vorschläge der CDU und der EVP von Wirtschaftsverbänden übernommen wurden, „teilweise sogar wortwörtlich abgeschrieben”. (Anm. d. Red.: Armin Paasch arbeitet als Referent für Verantwortliches Wirtschaften bei der NGO Misereor. Karolin Seitz ist Leiterin des Programmbereichs Wirtschaft und Menschenrechte bei der NGO Global Policy Forum.)

Die Bundesregierung forderte, nach Intervention des FDP-geführten Bundesjustizministeriums, sogar ein gewaltiges Schlupfloch für Unternehmen – nämlich eine sogenannte „Safe Harbour“-Regelung für Unternehmen, „die bestimmte Zertifizierungen verwenden oder Branchenstandards umsetzen”, wie die Recherche offenlegt. Diese Unternehmen würden demnach nur für Schäden haften, „die sie vorsätzlich oder grob fahrlässig verursacht haben, nicht aber bei einfacher Fahrlässigkeit. Das Problem daran: Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit sind für Betroffene kaum zu belegen, zumal keine Beweiserleichterungen vorgesehen sind, die den Betroffenen den Zugang zu unternehmensinternen Unterlagen ermöglichen würden. Der Weg, über europäische Gerichte Schadensersatz zugesprochen zu bekommen, bliebe ihnen damit weiterhin versperrt”, heißt es im Dokument von Paasch und Seitz.

Anna Cavazzini, die seit 2019 Mitglied des Europäischen Parlament (MEP) ist, sieht die Position des EU-Rats kritisch. Als Verhandlungsführerin für das Lieferkettengesetz der Fraktion der Grünen/Freie Europäische Allianz im Handelsausschuss ist sie aktiv an den Verhandlungen innerhalb des Parlaments dabei, um im Mai dessen Position zum EU-Lieferkettengesetz zu präsentieren. „Natürlich entspricht die Position der deutschen Bundesregierung nicht genau meinen Vorstellungen, schließlich spiegelt sie einen politischen Kompromiss zwischen drei Parteien und nicht nur die Position der Grünen wider”, berichtet Cavazzini, die auch in Deutschland Mitglied der Partei Bündnis 90/Die Grünen ist. Aber es ist auch dank uns Grünen, dass die Bundesregierung nicht die komplette zivilrechtliche Haftung rausgenommen hat, wie einige es sich gewünscht hatten. Allerdings sehe ich eine Safe-Harbour-Regelung eher als kritisch, weil es immer wieder empirische Evidenz dafür gibt, dass es auch in Brancheninitiativen oder nach Zertifizierungen zu Verletzungen der Menschenrechte kommen kann.”

Anna Cavazzini ©Katharina Blenk

Cavazzini kann die Position des EU-Rats nicht komplett nachvollziehen. „Wenn ich mit Unternehmensvertreter*innen spreche, höre ich immer wieder, dass sie sich klare Regeln wünschen, was sie bei ihren Lieferketten beachten müssen. Genauso sagen Verbraucher*innen, dass sie sicher sein wollen, dass keine Menschenrechts- und Umweltverbrechen in ihren Produkten stecken.” Und genau das kann das EU-Lieferkettengesetz liefern: faire Wettbewerbsbedingungen durch die gleichen Regeln für Unternehmen im Binnenmarkt. „Das ist bei Konservativen aber anscheinend noch nicht angekommen, die vor einer bürokratischen Belastung für gebeutelte Unternehmen warnen und jede Gesetzgebung aus dem Bereich der Nachhaltigkeit am liebsten sofort auf Eis legen würden.” 

Einige Vertreter*innen der Wirtschaft und später auch mehrere Christdemokrat*innen im Europaparlament, die Kommission sowie die Bundesregierung hatten dazu aufgerufen, den Gesetzesvorschlag zum EU-Lieferkettengesetz komplett zurückzuziehen. Tatsächlich forderte MEP Markus Ferber, der die Fraktion der Europäischen Volkspartei (Christdemokraten) vertritt, sowie  die CSU in Deutschland, im Oktober 2022 eine komplette Ablehnung des EU-Lieferkettengesetzes. „Ich bin froh, dass dieser Aufruf keinen Nachhall finden konnte. Woher die FDP oder die CDU ihre Positionen bekommen, kann ich jedoch nicht einschätzen”, so Cavazzini. 

Das EU-Parlament plant konkrete Maßnahmen, um künftig mehr Widerstand gegen Lobbyist*innen zu leisten, erklärt Cavazzini: „Obwohl wir im Europaparlament das Thema Transparenz ernst nehmen und beispielsweise früher als der Bundestag ein Transparenzregister hatten, setzen wir Grüne uns stetig für eine Verbesserung der Strukturen und für noch mehr Offenheit und Nachvollziehbarkeit ein.” Europäische Bürger*innen hätten ein Recht darauf zu erfahren, wer die Gesetze mitgestaltet. „So fordern wir verschiedene Maßnahmen von der Verbesserung des Transparenzregisters hin zur Schaffung eines Ethikrats im Parlament und dem besseren Schutz von Whistleblower*innen. Leider ist die Umsetzung mit den anderen Parteien nicht immer so leicht, aber wir werden nicht locker lassen.”

Die Trilogverhandlungen zum EU-Lieferkettengesetz beginnen bald

Die Verhandlungen im Europaparlament befinden sich laut Cavazzini in den letzten Zügen. Es sieht dabei ganz danach aus, dass im Mai eine ambitionierte Parlamentsposition beschlossen wird. „Wichtig dabei ist mir, dass die neuen Regeln nicht nur für Großunternehmen gelten, sondern in Hochrisikosektoren auch für kleine und mittlere Unternehmen”, so die Politikerin. 

Sobald sich das Parlament und der Rat positioniert haben, fangen die Trilogverhandlungen der gesetzgebenden Institutionen der Europäischen Union an (Kommission, Parlament, Rat). Vertreter*innen der drei Institutionen kommem zusammen, um ihre Positionen zu diskutieren und Unterschiede zu überwinden, sowie die Feinheiten des Gesetzesvorschlags auszuarbeiten. Diese Verhandlungen können mehrere Runden dauern, bis eine Einigung erzielt wird. Wenn sich die drei Institutionen schließlich auf einen Gesetzgebungstext einigen, muss dieser vom Europäischen Parlament und vom Rat der Europäischen Union in einer endgültigen Abstimmung genehmigt werden, bevor er in Kraft tritt. Die Trilogverhandlungen sind somit ein wichtiger Bestandteil des Gesetzgebungsprozesses in der EU und sollen sicherstellen, dass die Interessen der verschiedenen Institutionen und Mitgliedsstaaten berücksichtigt werden und ein Kompromiss erzielt wird, der für alle akzeptabel ist. 

Anschließend erfolgt die Transposition, bei der die Mitgliedstaaten die Richtlinie innerhalb einer bestimmten Frist in nationales Recht umsetzen und integrieren müssen. Sobald die Mitgliedstaaten die erforderlichen Änderungen an ihrem nationalen Recht vorgenommen haben, müssen sie der EU-Kommission einen Bericht über ihre Transposition einreichen. Die EU-Kommission prüft dann, ob die Umsetzung der Direktive ordnungsgemäß erfolgt ist. Wenn die EU-Kommission feststellt, dass die Umsetzung nicht den Vorgaben entspricht, kann sie rechtliche Schritte gegen den Mitgliedstaat einleiten. Es ist daher wichtig, dass die Mitgliedstaaten die Umsetzung der EU-Direktive sorgfältig durchführen, um sicherzustellen, dass sie den Vorgaben entsprechen.

Der aktuelle Richtlinienvorschlag des EU-Lieferkettengesetzes greift nicht weit genug

Aktuell gilt der Richtlinienvorschlag der Kommission für bestimmte große EU- und Nicht-EU-Unternehmen, die die nachstehend aufgeführten Kriterien erfüllen:

  • EU-Unternehmen mit:
    • mehr als 500 Mitarbeitenden und einem weltweiten Nettoumsatz von mehr als 150 Millionen Euro; oder
    • mehr als 250 Mitarbeitenden und einem weltweiten Nettoumsatz von mehr als 40 Millionen Euro, vorausgesetzt, dass mindestens 50 Prozent dieses Nettoumsatzes in einem „risikoreichen“ Sektor erzielt wurden. Dazu gehören die Textil-, Bekleidungs- und Schuhindustrie, die Land- und Forstwirtschaft, die Fischerei, die Lebensmittelindustrie sowie die Rohstoffindustrie.
  • Nicht-EU-Unternehmen mit:
    • einem Nettoumsatz von mehr als 150 Millionen Euro in der EU; oder
    • einem Nettoumsatz zwischen 40 und 150 Millionen Euro, vorausgesetzt, dass mindestens 50 Prozent des weltweiten Nettoumsatzes in einem der oben genannten „risikoreichen“ Sektoren erzielt wurden.  

Kleine und mittelständische Unternehmen sind aktuell also ausgeschlossen. Rund 4.000 Nicht-EU-Unternehmen würden unter die oben genannten Kriterien fallen. „Symbolisch”, nannte die Juristin Diana Sanabria den Vorschlag im Interview mit Fashion Changers letztes Jahr. Zu wenige Unternehmen seien letztlich betroffen und das Gesetz daher wenig wirkungsvoll.

Die Position des EU-Rats vom November 2022 würde die Richtlinie noch unwirksamer machen. Die angenommene ausgehandelte Position des Rates spiegelt zwar viele der Anforderungen des Kommissionsvorschlags wider, enthält jedoch einige bemerkenswerte Änderungsvorschläge, darunter:

  • Geltungsbereich — Während die allgemeinen Größenschwellenwerte aus dem Kommissionsvorschlag beibehalten werden, hat der Rat eine Übergangsphase eingeführt. Das EU-LKG würde daher zunächst für Unternehmen mit mehr als 1.000 Mitarbeitenden und einem weltweiten Nettoumsatz von 300 Millionen Euro (oder Nicht-EU-Unternehmen mit 300 Millionen Euro Umsatz in der EU) gelten, bevor sie zu einem späteren Zeitpunkt für andere betroffene Unternehmen gelten würde.
  • Tätigkeitskette — Der Begriff „Wertschöpfungskette“ im Kommissionsvorschlag wurde im Standpunkt des Rates durch das Konzept „Tätigkeitskette“ ersetzt. Die Kette der Aktivitäten hat in diesem Zusammenhang eine engere Bedeutung als die Wertschöpfungskette, da sie sich auf die Lieferanten eines Unternehmens konzentriert und die Verwendung der Produkte des Unternehmens oder die Erbringung seiner Dienstleistungen vollständig auslässt. Dieses Konzept würde die Verpflichtungen für viele betroffene Unternehmen im Vergleich zum Kommissionsvorschlag erheblich reduzieren. Das würde auch bedeuten, dass Finanzinvestitionen, Waffenexporte oder die Verwendung von Produkten (wie etwa der Einsatz giftiger Pestizide) ausgelassen werden.
  • Ansatz für Finanzunternehmen – Im Gegensatz zum Kommissionsvorschlag würde der Standpunkt des Rates die Anwendbarkeit des EU-LKG auf Finanzdienstleistungen fakultativ machen, sodass die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung des EU-LKG in nationales Recht entscheiden könnten, ob Finanzdienstleistungen in den Anwendungsbereich fallen würden. Dies kam vor allem auf Druck seitens Italien, Spanien, der Slowakei und Frankreich. Das hätte zur Folge, dass Banken nicht für Menschenrechtsverletzungen haftbar gemacht werden könnten, die durch Geschäftsaktivitäten geschehen, die durch ihre Kredite finanziert werden. So würden die Banken, ihre Kund*innen und Geschäfte besser geschützt werden.
  • Übergangsplan – Die im Vorschlag der Kommission enthaltene Anforderung, einen auf 1,5℃ ausgerichteten Übergangsplan zu erstellen, wurde an die analogen Berichtsanforderungen in der Corporate Sustainability Reporting Directive (CSRD) der EU angepasst, einschließlich der (in der CSRD enthaltenen) Anforderung, das Engagement in kohle-, öl- und gasbezogenen Aktivitäten offenzulegen. Die Nichtumsetzung von Klimaplänen soll weiterhin nicht sanktioniert werden. Letzteres kam unter anderem auch von der Bundesregierung, wie der Recherche von Paasch und Seitz zu entnehmen ist.

Der Umweltausschuss fordert strengere Klimaregeln

Grund für Optimismus gibt es dennoch: Im Februar 2023 verabschiedeten die Abgeordneten des Umweltausschusses ihre Stellungnahme und forderten strengere Verpflichtungen zu Umwelt- und Klimaauswirkungen für Unternehmen, einschließlich Anforderungen zur Reduzierung ihrer CO2-Emissionen im Einklang mit geltendem EU-Recht. Dies ist begrüßenswert und richtungsweisend. „Auf meine Initiative hin hat auch der Handelsausschuss des Europaparlaments strengere Vorgaben zu Umwelt- und Klimasorgfaltspflichten beschlossen”, so Cavazzini. 

Unternehmerische Tätigkeit muss im Einklang mit der internationalen Umwelt- und Klimagesetzgebung stehen, was zu den Berichtspflichten für die Unternehmensführung gehören soll. „Insgesamt muss man aber feststellen, dass das internationale Recht in Bezug auf Menschenrechte und Arbeitsnormen weiter entwickelt ist, als im Umweltbereich, wo viele Verbrechen leider international noch nicht rechtlich verbrieft sind und geahndet werden können. Daher kann das Lieferkettengesetz hier leider noch nicht so präzise sein und so weit greifen wie bei den Menschenrechten. Ich freue mich aber, dass wir im Ausschuss eine Formulierung gefunden haben, die die Weiterentwicklung des internationalen Umweltrechts dann in der Zukunft auch ins Lieferkettengesetz übersetzt.”

Insgesamt ist Anna Cavazzini positiv eingestellt. Der EU Green Deal ist der Rahmen dieser Legislaturperiode in Brüssel: Der Schutz von Klima, Ressourcen und Biodiversität sind die Leitplanken der Gesetzgebung. „Das ist wirklich ein Grund für Optimismus! Von verpflichtenden Nachhaltigkeitsvorgaben für alle Produkte im Rahmen von Ökodesign bis zu neuen Regeln, die Produkte, die aus Entwaldung stammen, vom Binnenmarkt halten – viel konnten wir auf den Weg bringen und durchsetzen, für das wir Grüne uns schon lange einsetzen.  Jetzt gilt es, hier nicht nachzulassen und nicht vor der konservativen Lobby einzuknicken. Meine Botschaft: Zukunftsfähige Unternehmen und einen global wettbewerbsfähigen Binnenmarkt kann es nur im Rahmen unserer planetaren Grenzen geben.”

Das EU-Lieferkettengesetz und existenzsichernde Löhne

Das EU-Lieferkettengesetz äußert sich nicht zu existenzsichernden Löhnen. Unterschreibe jetzt die europäische BürgerinitiativeGood Clothes, Fair Pay”, die faire Löhne in der Textilindustrie fördert!



Danke für das Gespräch, Anna Cavazzini.

Anna Cavazzini ist deutsche Politikerin. Seit 2019 sitzt sie für BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN im Europaparlament und ist Vorsitzende des Ausschusses für Binnenmarkt und Verbraucherschutz sowie Grüne Verhandlungsführerin für das Lieferkettengesetz im Handelsausschuss. 

Titelbild: Justice La Duke via Pexels

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