„Das EU-Lieferkettengesetz würde nur knapp ein Prozent der Unternehmen erfassen – das ist fast schon symbolisch”

Die Verhandlungen zum EU-Lieferkettengesetz werden derzeit von zahlreichen Krisen überschattet. Im Gespräch erzählt uns die Juristin Diana Sanabria, wie der aktuelle Stand aussieht, inwiefern sich das EU Due Diligence Law vom deutschen Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz unterscheiden würde und warum Frauen und Whistleblower*innen stärker geschützt werden müssen.

Unterstütze jetzt die Kampagne #yesEUcan und Justice is Everybody’s Business für ein stärkeres EU-Lieferkettengesetz.

Im Februar dieses Jahres stellte die Europäische Kommission ihren Vorschlag für ein EU-Gesetz vor, das große Unternehmen verpflichtet, ihre Investitionen und Lieferketten zu überprüfen, um Menschenrechts- und Umweltrisiken und -auswirkungen innerhalb und außerhalb der EU zu identifizieren, zu verhindern und anzugehen. Nach Angaben der Europäischen Kommission, erhalten Verbraucher*innen mehr Transparenz, während Unternehmen von größerer Rechtssicherheit profitieren und unlauteren Wettbewerb vermeiden. Aber ist das tatsächlich so? Immerhin enthält der Vorschlag gefährliche Schlupflöcher, die Gerechtigkeit nicht garantieren werden. 

Kann eine Richtlinie, die nur knapp ein Prozent der in Europa ansässigen Unternehmen decken würde, den dringend nötigen Systemwandel vorantreiben? Wächst der Druck auf Unternehmen wirklich oder machen wir uns alle nur was vor? Wir haben bei der Juristin Diana Sanabria nachgefragt. Sie beschäftigt sich intensiv mit unternehmerischen Sorgfaltspflichten, sei es in Deutschland oder auf EU-Ebene, und erklärt, was sich mit der Richtlinie wirklich ändern würde.

Diana, die Verhandlungen zum EU Due Diligence Law laufen. Warum ist ein solches Gesetz auf EU-Ebene längst überfällig?

Diana Sanabria: „Generell versteht man unter dem Lieferkettengesetz die Regulierung der unternehmerischen Sorgfaltspflichten. Dabei geht es nicht nur um die Achtung von Menschenrechten entlang der Lieferkette, sondern auch um den Schutz der Umwelt. Es ist ein wichtiger rechtlicher Schritt, denn Unternehmen kommen diesen Sorgfaltspflichten in der Regel nicht freiwillig nach. 

In Europa ist es so, dass Unternehmen Arbeits- und Menschenrechte achten müssen – ansonsten gibt es verschiedene Wege zum Schutz dieser Rechte, die Betroffene oder der Staat selbst aktivieren können, wie etwa im Fall der zivilrechtlichen Haftung beim Vorenthalten von Löhnen. Entlang der Lieferkette sieht es aber anders aus. Durch ihre Länge und Komplexität ist es überwiegend den ärmeren Staaten unmöglich, alles im Auge zu behalten, und diese große Lücke wird von Unternehmen ausgenutzt. Viele multinationale Firmen haben aber ihren Sitz in Europa. Damit wir den Missständen entlang der Lieferketten, die durch europäische Unternehmen zustande kommen, ein Ende bereiten können, benötigen wir Engagement seitens jener Unternehmen und das schafft man nur durch Regulierung

Bislang wurden Menschenrechte so interpretiert, dass der Staat dafür verantwortlich ist. Aber Unternehmen spielen seit einigen Jahrzehnten zunehmend eine wichtige Rolle und haben im Alltag teilweise mehr mit Menschenrechten zu tun als eine Behörde selbst. Beim Lieferkettengesetz geht es darum, dass wir die Menschen entlang der Lieferkette nicht länger ausbeuten. Es geht aber auch darum, dass Unternehmen, die es wirklich ernst meinen mit ihrem Sozial- und Umweltengagement, keinen Wettbewerbsnachteil haben. Nachhaltiger zu produzieren kann nämlich teurer und aufwendiger sein und für kleine Fabriken im Globalen Süden lohnt sich dieser Aufwand aktuell auch nicht immer. Ein Lieferkettengesetz schafft gleiche Wettbewerbsbedingungen für alle Unternehmen.

Petitionen für ein stärkeres EU-Lieferkettengesetz

Keine Ausbeutung mehr, keine Umweltzerstörung mehr, keine ungerechten Geschäftspraktiken europäischer Unternehmen. Das sind die Forderungen der Kampagne „Justice is Everbody’s Business“, die am 6. September 2022 von über 100 zivilgesellschaftlichen und gewerkschaftlichen Organisationen gestartet wurde. Sie fordern die EU auf, ein strenges Sorgfaltspflichtgesetz zu erlassen, das Umwelt- und Menschenrechtsverletzungen wirksam verhindert und Unternehmen dafür zur Rechenschaft zieht.

Ähnliche Forderungen hat auch die Kampagne #yesEUcan der Initiative Lieferkettengesetz. Damit Ausbeutung, Vertreibung und Umweltzerstörung nicht länger an der Tagesordnung sind, braucht es ein starkes EU-Lieferkettengesetz.

Außerdem verlangt die EU-Petition „Good Clothes Fair Play” EU-Gesetze, die Unternehmen, die Bekleidung, Textilien und Schuhe innerhalb der EU verkaufen, dazu verpflichten, Maßnahmen für existenzsichernde Löhne in ihren Lieferketten sicherzustellen.

Und warum ist das Lieferkettengesetz gerade für die Textil- und Bekleidungsindustrie von großer Bedeutung?

Laut den OECD-Leitlinien für die Erfüllung der Sorgfaltspflicht in der Bekleidungs- und Schuhwarenindustrie gilt der Textilsektor als ein Hochrisikosektor für Menschenrechte und Umwelt. Hier gibt es besonders viele Ausbeutungsbetriebe – sogenannte Sweatshops –, in denen zahlreiche Risiken lauern. Zum einen reichen die Löhne oft nicht aus, um grundlegende Lebenskosten zu decken – die Kampagne für Saubere Kleidung spricht von Hungerlöhnen. 

Zum anderen ist auch die Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz gefährdet. Wie oft haben wir nun schon über Brände in Fabriken gelesen oder gehört, dass Gebäude gar einstürzen? Textilbeschäftigte arbeiten zudem unter extremen Bedingungen, hohen Temperaturen und sind toxischen Chemikalien ausgesetzt. Darüber hinaus sind besonders Frauen – die etwa 80 Prozent der Textilarbeiter*innen ausmachen – sexueller Gewalt am Arbeitsplatz ausgesetzt. 

Neben den sozialen Komponenten sind die Klima- und Umweltfaktoren auch nicht zu unterschätzen. Die Bekleidungsindustrie verbraucht nicht nur sehr viel Wasser, sondern auch, je nach Studie, zwischen drei bis zehn Prozent der weltweiten CO₂-Emissionen. Und die Chemikalien, die bei der Produktion eingesetzt werden, werden in Flüsse abgeleitet und verseuchen das lokale Trinkwasser. Daraus folgen nicht nur Konsequenzen für die Bewohner*innen, sondern das ganze Ökosystem. 

Bei Flaschen gibt es zum Beispiel ein relativ effizientes Pfandsystem, in der Modeindustrie gibt es so etwas nicht. Deshalb können Unternehmen hier auch unendlich viel produzieren: Sie müssen sich nicht um den Müll kümmern. Ich mag es, diese Faktoren hervorzuheben, weil sich viele Menschen immer noch keine Gedanken machen.” 

Das deutsche Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz tritt im Januar 2023 in Kraft. Inwiefern unterscheidet sich der Richtlinienvorschlag der EU?

Wenn ein Unternehmen seiner Sorgfaltspflicht nicht nachkommt, geht der Vorschlag für das EU-Lieferkettengesetz einen Schritt weiter als das deutsche Lieferkettensorgfaltspflichtgesetz. Demnach sind nicht nur behördliche Sanktionen in Form von Bußgeldern vorgesehen – der Vorschlag sieht auch eine Sonderregelung der zivilrechtlichen Haftung vor. Das ist besonders wichtig, denn es ermöglicht Betroffenen aus dem Globalen Süden gegen das europäische Unternehmen gerichtlich vorzugehen – und das in einem europäischen Land.

Dennoch bleibt Klagen erst einmal sehr schwierig, da keine Beweiserleichterungen vorgesehen ist. Betroffene müssen nachweisen, dass das Unternehmen jene Sorgfaltspflichten tatsächlich verletzt hat und wie. In vielen Fällen ist das aber nicht möglich, denn es handelt sich um interne Informationen, auf die Arbeiter*innen keinen Zugang haben. Da soll der Vorschlag für das EU-Lieferkettengesetz verbessert werden, um faire Regeln zu schaffen.

Zusätzlich sind auch beim EU-Lieferkettengesetz die Sorgfaltspflichten auf sogenannte ,etablierte Geschäftsbeziehungen eingeschränkt. Das gilt aber nicht nur für die unmittelbaren Zulieferer, sondern für die ganze Lieferkette. Trotzdem macht der Begriff ,etablierte Geschäftsbeziehungen’ die Sache etwas kompliziert. Ab wann sind Geschäftsbeziehungen zum Beispiel dauerhaft? Damit fangen die ersten Streitigkeiten schon an.

Gilt die Beziehung schon als dauerhaft, wenn ich der Fabrik einen einzigen Auftrag pro Semester gebe, dafür aber regelmäßig? Oder umgehe ich die Dauerhaftigkeit, indem ich mit meinen Aufträgen von einer Fabrik zur nächsten springe – ein sogenanntes ,supplier hopping’? Wenn der Begriff bleibt, kann es sein, dass Unternehmen solche dauerhaften Beziehungen in Zukunft vermeiden. Das ist natürlich verheerend für Produzenten, denn eine nachhaltige Produktion braucht stabile Beziehungen.”

Du hast gerade über die sozialen Komponenten gesprochen. Gibt es bezüglich Klima auch Unterschiede?

Die Liste der zu beachtenden Menschenrechte und Umweltstandards ist auf EU-Ebene umfangreicher. Dem Richtlinienvorschlag zufolge müssen Unternehmen einen Plan zur Einhaltung der 1,5 Grad-Grenzen – nach dem Pariser Abkommen – erstellen. Wenn sie dem jedoch nicht nachkommen können, passiert nichts. Auch das sollte geändert werden: Die Achtung des Klimas soll Teil der Sorgfaltspflichten sein.

Was ist der Anwendungsbereich des EU-Lieferkettengesetzes? Welche Unternehmen werden erfasst?

Obwohl das EU-Lieferkettengesetz zunächst umfangreicher erscheint, als das deutsche, würde es nur ein Prozent der in Europa ansässigen Unternehmen decken. Das ist viel zu wenig – fast schon symbolisch. KMUs sind erst mal nicht betroffen, auch wenn sie in einer Hochrisikobranche wie der Bekleidungsindustrie tätig sind. Das ergibt natürlich keinen Sinn, denn auch KMUs haben teilweise riesige Umsätze und daher einen großen Hebel, wenn es um Menschenrechts- und Umweltstandards geht.

Der Vorschlag für ein EU-Lieferkettengesetz könnte also weit mehr Unternehmen decken. Aktuell erfasst er zwei Gruppen: Zum einen umfasst er Unternehmen mit mindestens 500 Beschäftigen und einem jährlichen Umsatz von mehr als 150 Millionen Euro Umsatz. Zum anderen umfasst er Unternehmen mit mehr als 250 Beschäftigten und einem jährlichen Umsatz von mehr als 40 Millionen Euro, wenn im abgeschlossenen Finanzjahr mehr als die Hälfte des Umsatzes in einem oder mehreren Hochrisikosektoren erzielt wurde – also der Textil- und Lederindustrie, Agrarwirtschaft oder Rohstoffindustrie. Die Aufzählung dieser Kriterien sollte alternativ statt kumulativ sein.

Es ist tragisch, dass der Richtlinienvorschlag andere Hochrisikosektoren nicht beachtet, wie etwa die Schifffahrt, Logistik, Finanzen oder Auditing. Die Liste der Hochrisikosektoren soll auf jeden Fall erweitert werden.”

Du hast gerade wichtige Kritiken geäußert. Gibt es noch andere Stellen, an denen der EU-Vorschlag stärker ausholen könnte?

Der Vorschlag sieht viel Compliance vor, sprich: Ein Unternehmen muss nachweisen können, dass es seinen Sorgfaltspflichten nachkommt – zum Beispiel durch vertragliche Zusicherungen. Vertragliche Zusicherungen sind nötig, denn die Verträge werden die Sorgfaltspflichten berücksichtigen müssen. Aber die Kosten und Risiken dürfen auf die Zulieferer durch einseitige Weitergabeklauseln nicht abgewälzt werden. Die Prävention von Menschenrechtsverletzungen hat auch mit den Einkaufspraktiken zu tun. Ein Unternehmen kann mit seinem Zulieferer durch einen Vertrag abmachen, dass dieser existenzsichernde Löhne zahlt, aber mit welchem Geld wird er es dies wohl machen, wenn das Unternehmen für den Auftrag einen Preis zahlt, der nur für Hungerlöhne reicht? 

Ich verstehe, dass es schwierig ist, einen messbaren Standard für die Prävention von Verletzung der Sorgfaltspflichten ausfindig zu machen. Es geht doch aber nicht nur um Compliance, sondern um die Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen realer Menschen. Das müssen Unternehmen, aber auch Politiker*innen, verstehen.”

Wie sieht es mit dem Beschwerdemechanismus aus? Ist das deiner Meinung nach effizient genug?

Unternehmen müssen auf die Beschwerden reagieren – was sehr gut ist –, aber sie müssen Stakeholder nicht unbedingt beteiligen. Das heißt, dass sie Betroffenen oder Gewerkschaften keine Rückmeldung über Maßnahmen zum Schutz der Arbeitsrechte geben müssen – das wäre aber durchaus sinnvoll. Auch der Schutz von Whistleblower*innen kann stärker sein. Arbeiter*innen, die über Missstände berichten, dürften nicht entlassen werden. Das könnte man schon bei der Pflicht zur Einrichtung eines Beschwerdeverfahrens berücksichtigen, um die Beschwerdeführende vor Repressalien effektiv zu schützen.”

Wie geht es aktuell mit den Verhandlungen weiter?

Das Besondere an der EU ist die sogenannte Co-Legislation: Sowohl die Kommission, als auch das Parlament und der Rat müssen sich einigen. Die EU-Kommission hat den Richtlinienvorschlag im Februar 2022 veröffentlicht. Im September 2022 soll jetzt erst mal die Debatte in den zuständigen Ausschüssen im Parlament anfangen. Hier gibt es auf jeden Fall Diskussionsbedarf, da es viele unterschiedliche Interessen gibt – seitens der Lobbyist*innen, der Zivilbevölkerung, der Politik.

Auch der Rat muss sich mit dem Vorschlag beschäftigen. Doch auf dieser Ebene kann man weiterhin mit Verspätungen rechnen, weil sich manche EU-Staaten immer noch nicht zum Vorschlag geäußert haben. Die Bundesregierung hat mittlerweile Unterstützung für den Vorschlag angekündigt.

Ein weiterer wichtiger Punkt: Im Frühling 2024 ist die Europawahl und ab Oktober 2023 wird diese wohl die Priorität sein, mit den ganzen Wahlkämpfen und Vorbereitungen. Meines Erachtens könnte die Zeit knapp werden, um diese Richtlinie sinnvoll abzuschließen.”

Haben Konsument*innen hier überhaupt einen Hebel?

Es gibt drei Handlungsebenen – die individuelle, gesellschaftliche und politische. Und obwohl man als Individuum weniger Wirkung hat, ist diese Ebene dennoch nicht zu unterschätzen. Natürlich ist es wichtig, kritisch zu sein und zu bleiben und weniger zu konsumieren. Auf der Plattform fashionchecker.org, einem Projekt der Clean Clothes Campaign, kann man sich beispielsweise informieren, wie transparent Unternehmen sind und ob sie existenzsichernde Löhne zahlen. 

Ich kann nur wärmstens empfehlen, sich zu beteiligen – sei es Kampagnen von NGOs auf Social Media zu unterstützen, bei Unternehmen nachzufragen, oder Petitionen zu unterschreiben. Gerade laufen zwei wichtige Kampagnen: #yesEUcan von der Initiative Lieferkettengesetz und Justice is Everybody’s Business von einem breiten europäischen NGO-Bündnis.”

Danke, dass du deine Expertise mit uns teilst, Diana.

Über Diana Sanabria

Diana Sanabria, LL.M., ist Juristin und arbeitet als Referentin für Weltwirtschaft beim Zentrum für Mission und Ökumene – Nordkirche weltweit. Im Rahmen ihrer Arbeit engagiert sie sich als Mitglied des Bundesvorstandes der Kampagne für Saubere Kleidung für verbindliche unternehmerische Sorgfaltspflichten. Dabei unterstützt die Arbeit der Clean Clothes Campaign und der Initiative Lieferkettengesetz. Außerdem ist sie als Dozentin für Wirtschaft und Menschenrechte an Universitäten tätig.

Mit Diana haben wir zudem über das deutsche Lieferkettensorgfaltspflichtgesetz gesprochen. Sie erklärt, was es bedeutet, wenn das Gesetz im Januar 2023 in Kraft tritt. Das ganze Interview kommt im Oktober 2022.

Porträt © Christiane Wenn

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