In diesem Deep Dive zum Thema Blockchain und Transparenz gibt es Input von:
- Ariane Piper, Landeskoordinatorin bei Fashion Revolution Germany
- Paula Kühn, Co-Gründerin von the kindkind
- Chandra Prakash Jha, Gründer von Fashion For Biodiversity Solutions
- Transparenz ≠ Nachhaltigkeit.
- Blockchain-basierte Lösungen erleichtern lediglich die Offenlegung von Daten. Der wirkliche Wandel muss von den Unternehmen selbst kommen, unabhängig von Tools wie Blockchain.
- Es ist schwierig, von (radikaler oder allgemeiner) Transparenz zu sprechen, wenn jedes Unternehmen selbst entscheiden kann, welche Daten es veröffentlicht und welche nicht.
- Indexe wie der Higg Index oder der Fashion Revolution Index können problematisch sein, da sich ihre Methodik zu Greenwashing eignet.
Informationen, die anhand von Blockchain-basierten Lösungen gespeichert werden, sollen Konsument*innen die Möglichkeit geben, den gesamten Lebenszyklus eines Kleidungsstücks nachzuvollziehen, indem sie einfach einen QR-Code scannen. Es ist von (radikaler) Transparenz die Rede, die die Textil- und Bekleidungsindustrie revolutionieren soll. Aber inwiefern stimmt das?
Informationen, die anhand von Blockchain-basierten Lösungen gespeichert werden, sollen Konsument*innen die Möglichkeit geben, den gesamten Lebenszyklus eines Kleidungsstücks nachzuvollziehen, indem sie einfach einen QR-Code scannen. Es ist von (radikaler) Transparenz die Rede, die die Textil- und Bekleidungsindustrie revolutionieren soll. Aber inwiefern stimmt das?
Von radikaler Transparenz und Dateninterpretation
Vor einigen Wochen durfte ich den Vortrag einer Freundin hören, die ihre Masterarbeit zum Begriff Empowerment schrieb. Was das Konzept beinhaltet, wollte sie anhand der Textilbranche herausfinden. So reiste sie für drei Monate in den Laos, um in einem kleinen, abgelegenen Dorf die letzten Wochen eines Projekts einer bekannten NGO zu verfolgen und die Resultate zu analysieren. Die Frauen im Dorf bekamen einen kleinen Kredit, damit sie sich ihr eigenes kleines Nähatelier einrichten konnten. Ziel war unter anderem, dass sie dadurch finanziell unabhängiger von ihrem Ehemann werden. Die NGO kam zu dem Schluss, dass das Pilotprojekt ein voller Erfolg war: Die Frauen nähten fast jeden Tag und verkauften ihre Kleidung auf dem Markt. Sie wurden also mit jedem Tag unabhängiger.
Meine Freundin war jedoch skeptisch: Ja, die Frauen schienen unabhängig, wurden aber dennoch nicht ernst(er) genommen – weder von ihren Ehemännern, noch von der Gesellschaft. Nähen wurde als „Frauenarbeit” wahrgenommen, die mit der „mühevollen und anstrengenden” Arbeit der Ehemänner auf dem Feld nicht zu vergleichen war, auch in finanzieller Hinsicht. Zudem mussten die Frauen natürlich weiterhin 24/7 nicht entlohnte Care-Arbeit leisten. Eine Entlastung kam nicht infrage. Von einem Erfolg konnte also eigentlich nicht die Rede sein.
Projekte wie diese zeigen, wie verzerrt Daten sein können und wie schwierig es ist, aussagekräftige Komponenten ausfindig zu machen. Wie können Frauen, wie die im Laos oder Arbeiter*innen in einer Textilfabrik in Bangladesch, die Shirts für ein deutsches Label nähen, besser geschützt werden? Was bedeutet Schutz und wie wird er gemessen?
Transparenz gewinnt an Bedeutung
Laut einer Studie von McKinsey & Company aus dem Jahr 2020 ist es für Marken unerlässlich, Vertrauen und Transparenz bei ihren Kund*innen aufzubauen, da 75 Prozent von ihnen dies als wichtigen Kauffaktor betrachten. Aber was genau beinhaltet Transparenz, wenn ein Unternehmen, das auf dem Papier existenzsichernde Löhne zahlt, gleichzeitig aber versucht, Gewerkschafter*innen zu unterdrücken? Oder wenn ein Unternehmen zwar fair produziert, gleichzeitig aber queer-feindlich ist?
Wie definieren wir Transparenz?
Die Skandale in der Textil- und Bekleidungsindustrie überschlagen sich. Sei es die Waldrodung für Sneakers von Nike und Adidas oder die zahlreichen Arbeitsrechtsverletzungen bei Ultra-Fast-Fashion-Unternehmen wie Shein und Boohoo – immer wieder werden Missstände entlang der globalen Lieferketten aufgedeckt. Demnach wird auch der Druck, seitens Kund*innen und Aufsichtsbehörden immer größer, die eigenen Wertschöpfungsketten transparenter offenzulegen.
Aber fangen wir ganz vorne an: Wie definieren wir Transparenz? Transparenz bedeutet, dass alle Informationen über jeden Produktionsschritt öffentlich verfügbar gemacht werden – damit Kund*innen informierte Kaufentscheidungen treffen und Unternehmen zur Rechenschaft gezogen werden können, wenn sie Menschenrechte verletzen oder die Umwelt zerstören. Transparente Unternehmen veröffentlichen also alle Informationen darüber, wie, wo und von wem ein Produkt hergestellt wurde.
Laut Fashion Revolution beinhaltet Transparenz die Offenlegung von Informationen, die es Menschen ermöglicht, Entscheidungsträger*innen zur Rechenschaft zu ziehen. Transparenz ist aber nicht gleichzusetzen mit Nachhaltigkeit. Sie beinhaltet lediglich die Angabe von Informationen, die es Kund*innen ermöglichen, nachhaltigere Entscheidungen zu treffen. Marken können mit ihrer Hilfe auch die eigenen Umweltauswirkungen messen und reduzieren.
„Transparenz ist für uns der erste Schritt, um sich intensiv und ehrlich mit der eigenen Wertschöpfungskette auseinanderzusetzen”, erklärt Ariane Piper, Landeskoordinatorin bei Fashion Revolution Germany. „Nur wenn Unternehmen wissen, wo und wie sie produzieren, können sie die Produktionsbedingungen verbessern. Das heißt aber im Umkehrschluss nicht, dass ein Unternehmen, das sehr transparent ist, auch hohe soziale und ökologische Auflagen erfüllt.”
Ist radikale Transparenz realistisch?
Erinnert ihr euch an das Modelabel Everlane, das vor einigen Jahren bekannt wurde, indem es mit „radikaler Transparenz“ warb? Im Jahr 2020 wurde es dann allerdings stark kritisiert (unter anderem von Vogue und Good on You) und verlor an Glaubwürdigkeit, da es keine Hinweise auf einen existenzsichernden Lohn oder ein System gab, um Textilabfälle zu minimieren.
„Transparenz wird ähnlich wie das Wort Nachhaltigkeit für Marketingziele genutzt”, berichtet Ariane Piper von Fashion Revolution Germany. Sie kritisiert, dass Unternehmen nicht wirklich mit Sanktionen zu rechnen haben, wenn sie ihren Marketingversprechen nicht gerecht werden. „Wer Begriffe wie ,radikale Transparenz’ für Marketingzwecke nutzt, sollte auch alle Informationen zugänglich machen.” Tatsächlich sei es aber so, dass gerade große Unternehmen häufig nicht mehr den Überblick über ihre Lieferketten haben und Aufträge meistens ausgelagert und an Unterhändler weitergegeben werden.
Radikale Transparenz durch Blockchain?
Können Blockchain-basierte Plattformen also wahrhaftige, radikale Transparenz bieten? „Es stimmt, dass die Transaktionen auf der Blockchain öffentlich einsehbar sind, dennoch kommt es darauf an, welche Transaktionen hierfür genutzt werden”, erklärt Paula Kühn, Blockchain-Expertin und Co-Gründerin von the kindkind, einer phygitalen Textilagentur. (Anm. d. Red.: Phygital steht für die Verbindung von physischen und digitalen Inhalten.)
Wenn es sich um digitale Zertifikate oder Sammlerstücke – zum Beispiel in Form von NFTs – handele, sei der digitale Vertrag dafür auf der Blockchain unwiderruflich und transparent verankert. Das ,Was’ kann dabei aber alles Mögliche sein: ein Zertifikat, ein Kunstwerk oder ein komplexer Datensatz für ein Produkt. Der digitale Vertrag verweist lediglich auf diesen Gegenstand – sei er physisch oder digital.
In Hinblick auf eine Lieferkette können hier also der Zeitpunkt – dieser wird automatisch gespeichert – und die Art des Zertifikats oder weitere Daten vom gesamten Ökosystem hinterlegt und eingesehen werden, auch von Kund*innen. „Es gibt Unternehmen, die dadurch Vertrauen zu ihren Kund*innen aufbauen wollen. Blockchain ist hier aber nur ein kleiner Teil der Lösung. Wenn man das System also mit fehlerhaften Informationen füttert, kommen auch Fehler heraus“, so Kühn. Die Technologie macht demnach nur dann Sinn, wenn sich alle Akteure untereinander vertrauen und sich auf ein Wertesystem geeinigt haben.
Halten wir fest: Blockchain-Lösungen können helfen, die gesamte Lieferkette und ihre Informationen zu erfassen und darzustellen. Sie werden von Unternehmen zur Darstellung ihrer Lieferanten- und Produktdatenbanken genutzt, um sich einen Überblick über das gesamte Lieferantennetzwerk zu verschaffen und ihre Lieferketten besser zu visualisieren und zurückzuverfolgen. „Alle Zertifikate und Audit-Berichte sind so auf einen Blick einsehbar. Und das nicht nur für die Unternehmen, sondern nach Hinterlegung auf einem dezentralen Datensatz auch für Kund*innen. Diese Offenlegung führt nicht nur zu mehr Vertrauen, es bietet Konsument*innen zudem die Chance, Kritik und Verbesserungsvorschläge zu äußern. So können sie beispielsweise einsehen, wo welcher Produktionsschritt unter welchen sozialen und ökologischen Bedingungen stattfindet – sofern diese Informationen einsehbar sind.”
Dieser Wandel müsse laut Kühn allerdings von dem Unternehmen selbst ausgehen – die Blockchain erleichtert lediglich die Nachforschung auf Wahrheit und Echtheit. „Wenn sich ein gesamtes Netzwerk gemeinsam entscheidet zu lügen und falsche Informationen zu hinterlegen, weil es beispielsweise wirtschaftlich sinnvoller ist, gestaltet sich die Wahrheitsfindung als schwierig. Hat das gesamte Peer-to-Peer-Netzwerk aber die gleichen Anreize, kann ein solches Netzwerk sehr gut funktionieren, um Validierungsabläufe zu beschleunigen, da sich das Netzwerk selbst reguliert.”
Blockchain & beyond: Welche Daten werden offengelegt?
Welche Daten offengelegt werden, hängt natürlich von Unternehmen zu Unternehmen und von Plattform zu Plattform ab. Grundsätzlich kann man aber sagen, dass die meisten Unternehmen, wenn sie Daten veröffentlichen, diese vor allem auf Umweltaspekte (Stichwort: CO₂-Emissionen) reduzieren. Nach einem holistischen Nachhaltigkeitsansatz sucht man in den meisten Fällen vergeblich. So werden soziale Faktoren wie Geschlechtergerechtigkeit oder die Zahlung existenzsichernder Löhne komplett außer Acht gelassen.
Hier versucht der Fashion Revolution Index (FTI) anzusetzen und hat in diesem Jahr 250 der weltweit größten Modemarken und Einzelhändler überprüft und danach eingestuft, welche Informationen sie über ihre Sozial- und Umweltrichtlinien, -praktiken und -auswirkungen in ihren Betrieben und ihrer Lieferkette offenlegen. Laut Fashion Revolution ist der Index ein Tool, um die weltweit größten Modemarken dazu zu bewegen, ihre sozialen und ökologischen Bemühungen transparenter zu machen. Dabei orientiert sich der FTI an dem, was die Unternehmen auf ihren Webseiten und in ihren CSR-Berichten veröffentlichen.
Dieses Jahr erhielten die überprüften Marken eine durchschnittliche Gesamtpunktzahl von nur 24 Prozent – ein Prozent mehr als im vergangenen Jahr. 96 Prozent der überprüften Marken gaben zudem keine Auskunft darüber, wie viele Arbeitnehmer*innen einen existenzsichernden Lohn gezahlt bekommen. Umweltaspekte werden hier aber scheinbar deutlich ernster genommen als die sozialen: 46 Prozent der Unternehmen veröffentlichen Ziele zu nachhaltigen Materialien und benutzen dabei häufig Buzzwords wie Circularity. Doch nur 37 Prozent der Marken geben Auskunft darüber, was ein nachhaltiges Material wirklich ausmacht. Und gerade einmal 15 Prozent legen offen, wie viel sie jährlich produzieren. Dabei sollte das Produktionsvolumen (und dessen Reduktion!) ganz weit oben auf der Liste stehen.
Im Bericht „The Great Greenwashing Machine: The Use and Misuse of Sustainability Metrics in Fashion” von Veronica Bates Kassatly und Dorothée Baumann-Pauly (herausgegeben von der NGO Eco Age und der Genfer Universität) werden verallgemeinernde Aussagen scharf kritisiert, insbesondere sogenannte Lebenszyklusanalysen (Life Cycle Assessments). „Pauschale Aussagen wie ‚[Life Cycle Assessments] haben sich bewährt‘ oder ,[Life Cycle Assessments] haben sich gezeigt‘ sind unwissenschaftlich”, erklären die Autorinnen. „Dies ist derzeit besonders relevant, da der [Textilsektor] von der Verwendung von Handelsindizen und Ökobilanzen dominiert wird. Viele Informationen verbergen sich hinter Paywalls und bieten keine Transparenz hinsichtlich der verwendeten Methoden und Grenzen oder der Unabhängigkeit und Robustheit der zugrunde liegenden Daten.” (Anm. d. Red.: Dieser Teil wurde aus dem Englischen übersetzt.)
Und genau hier liegt die Krux: Wie können wir von radikaler Transparenz sprechen, wenn jedes Unternehmen selbst entscheidet, ob und welche Daten es veröffentlicht? Ohne vereinbarte Standards, an die sich alle Unternehmen gleichermaßen halten müssen, bleibt die Textil- und Bekleidungsindustrie undurchsichtig.
Risse in der Transparenz- und Nachhaltigkeitsbemühungen: Fashion Revolution Index und Higg-Index
Warum musste Fynn Kliemann den Deutschen Nachhaltigkeitspreis zurückgeben, den er für seine scheinbar nachhaltigen Masken bekommen hat? Die relativ simple Antwort: Die Jury hinter dem Deutschen Nachhaltigkeitspreis hatte die von Kliemann angegebenen Daten nicht verifiziert. Und so ist das auch beim FTI. In der Vergangenheit haben einige Marken ihre Platzierung im FTI verwendet, um Greenwashing zu rechtfertigen, indem sie behaupteten, nachhaltig zu sein, weil sie zu den transparentesten Unternehmen gehörten. So auch der schwedische Fast-Fashion-Gigant H&M.
Aber auch hier gilt: Transparenz ≠ Nachhaltigkeit. „H&M ist ein gutes Beispiel, dass der FTI richtig verstanden werden muss”, so Ariane Piper von Fashion Revolution. „Das Unternehmen arbeitet tatsächlich sehr transparent und veröffentlicht viele Informationen, daher hat es es sehr weit nach vorn im Ranking gebracht”, erklärt Piper. „Dieser Platz bedeutet aber nicht automatisch, dass H&M besonders hohe nachhaltige Kriterien einhält, es hat lediglich eine transparentere Arbeitsweise. Wir verstehen, dass dies für einige Verbraucher*innen und die Öffentlichkeit nicht eindeutig ist und begrüßen kritische Stimmen dazu, welche die Komplexität der Textilindustrie in den Fokus rücken und auch die Grenzen des FTI zeigen.”
Die Methodik des FTI wurde aufgrund der Kritik verbessert, ist aber immer noch anfällig für Greenwashing. Die Änderungen umfassen beispielsweise die Verlagerung des Fokus von Richtlinien und Verpflichtungen auf Umsetzung und Ergebnisse jener Richtlinien und Verpflichtungen. Aber reichen derartige Anpassungen? Natürlich ist kein Index perfekt, aber sollten wir nicht auch hinterfragen, wie sich solche Indexe überhaupt für Greenwashing eignen?
Wie komplex das Problem ist, zeigt auch die Kontroverse rund um den Higg-Index. Der Higg Materials Sustainability Index (Higg MSI), der von der Sustainable Apparel Coalition (SAC), einer branchenweiten Gruppe führender Bekleidungs- und Schuhmarken, Einzelhändler, Hersteller und Nichtregierungsorganisationen, entwickelt wurde, gehörte einst zu einem führenden Umweltbewertungstool in der Modebranche. Mitte Juni dieses Jahres warnte die norwegische Verbraucher*innenbehörde H&M sowie die norwegische Marke Norrøna davor, die Higg-MSI-Daten für Marketingaussagen über ihre Produkte zu verwenden. Denn die auf dem Higg basierten Nachhaltigkeitsnachweise können laut Verbraucher*innenbehörde leicht als irreführend angesehen werden, da sie zum Teil auf veralteten Forschungsdaten beruhen. Die New York Times kritisierte, dass der Index synthetische Materialien aus fossilen Brennstoffen gegenüber natürlichen bevorzugt. Dieser Faktor wird von Marken verwendet, um die Verwendung von synthetischen Fasern zu rechtfertigen.
Wie kann es sein, dass synthetische Materialien besser abschneiden als Naturfasern? Dafür muss man mal wieder die Methodik dahinter verstehen. Veronica Bates Kassatly und Dorothée Baumann-Pauly erklären in ihrem Bericht „The Great Greenwashing Machine: The Use and Misuse of Sustainability Metrics in Fashion”, dass der Higg Index „cradle to gate” (auf Deutsch „von der Wiege bis zum Tor”) und nicht „cradle to grave” (auf Deutsch „von der Wie bis zur Bahre”) behandelt. Das macht einen bedeutenden Unterschied, denn bei „cradle to gate” wird nur die eigentliche Produktion bewertet. Bei „cradle to grave” schaut man sich das Produkt jedoch von der Produktion und Entwicklung bis zur Entsorgung beziehungsweise Rückführung an. Anhand der Cradle-to-Gate-Methodik schneidet Polyester beispielsweise besser ab als Wolle, da die Produktion davon teilweise weniger CO₂ verbraucht.
Die norwegische Verbraucher*innenbehörde und die niederländische Behörde für Verbraucher*innen und Märkte reagierten daraufhin auf die zahlreichen Kritiken. Sie haben erst vor wenigen Wochen gemeinsam Leitlinien verfasst und fordern die SAC auf, die Behauptungen vom Higg MSI besser zu untermauern, eine unabhängige Überprüfung der Daten und Methoden durch Dritte anzustreben und regelmäßig Daten zu überprüfen, die möglicherweise veraltet oder nicht für den Vergleich bestimmt sind. Behauptungen über die Umweltauswirkungen eines Produkts sollten auch in einen Kontext gestellt werden, wobei die Grenzen des Umfangs der Daten klar erklärt und den Verbraucher*innen präsentiert werden sollten, heißt es in dem Dokument.
Der erste Schritt in Richtung Verantwortung
Transparenz ist der erste Schritt in Richtung Verantwortung, damit die Textil- und Bekleidungsindustrie ethischer und nachhaltiger wird. Das zeigen auch das deutsche Lieferkettensorgfaltspflichtgesetz, das EU-Lieferkettengesetz und die EU-Textilstrategie. Für Marken und Einzelhändler, die den Druck verspüren, transparenter zu werden und offenzulegen, woher sie ihre Waren beziehen, liegt der Reiz der Blockchain auf der Hand: Theoretisch bietet sie eine verifizierte Aufzeichnung der Geschichte eines Kleidungsstücks in jedem Schritt seiner Produktion.
„Meiner Meinung nach kann Blockchain Marken in größerem Maßstab helfen, ihre Lieferkette und ihre Auswirkungen zu verstehen”, erklärt Chandra Prakash Jha, Gründer von Fashion For Biodiversity Solutions. Die Geheimhaltung der Lieferkette ist für viele Marken jedoch immer noch sehr wichtig. „Blockchain verspricht aber auch viele Vorteile, zum Beispiel, dass eingegebene Daten nicht gefälscht oder manipuliert werden können – eine große Erleichterung im Supply-Chain-Management, um Transparenz zu schaffen. Doch die monströse Herausforderung ist die Korrektheit oder die legitime Dateneingabe in der Blockchain. Gibt es ein Cross-Proofing-Verfahren? Bei Baumwollentkörnungen werden beispielsweise immer wieder mehrfach falsche oder gefälschte Daten über das Baumwollfeld oder die Baumwollmenge festgestellt. Blockchain kann Daten sicher halten, aber Transparenz hängt immer noch von der Moral des Dateneingabeprozesses ab. Meiner Meinung nach kann Blockchain allein keine radikale Transparenz in textilen Lieferketten bringen.”
Begrenzte (radikale) Transparenz durch Blockchain
Die im Entstehen begriffene Technologie steht also aktuell noch vor einigen Herausforderungen und Einschränkungen. Supply-Chain-Daten sind nicht immer sichtbar, verfügbar oder vertrauenswürdig und genau hier liegt die große Lücke in Sachen Nachhaltigkeitsstrategie: Die Industrie kann nicht offenlegen, was sie nicht weiß. Es kann daher sinnvoller sein, dass Modeunternehmen die Rückverfolgung von Materialien zu bestimmten Lieferanten oder Herstellungsvorgänge zu bestimmten Einrichtungen priorisieren, da dies Daten liefert, auf die zuvor nicht zugegriffen werden konnte.
„In diesem Zusammenhang spielt nicht die Technologie die erste Geige, sondern die vom Menschen festgelegten Regeln und Gesetze”, so Paula Kühn von thekindkind. „Erst wenn diese global universal sind, können uns die Technologien dabei helfen, letztere zu verfolgen.” Ob Transparenz zum neuen Status Quo wird, hängt also nicht von Blockchain oder anderen Transparenzmechanismen ab, sondern von der Modebranche selbst. Diese muss sowohl willig als auch imstande sein, alle Informationen entlang der Lieferkette zu veröffentlichen. Tech-Lösungen wie Blockchain sind letztlich nur ein Mittel zum Zweck.
Titelbild: Thought Catalog via Unsplash