Beatrace Angut Oola: „Die Dekolonisierung der Mode ist eine kritische Auseinandersetzung mit der Branche”

Die Dekolonisierung der Mode gewinnt zunehmend an Bedeutung. Doch was braucht es, um Machtverhältnisse aktiv zu verändern und wie lässt sich Mode überhaupt dekonstruieren? Darüber spricht Beatrace Angut Oola auf der bevorstehenden Fashion Changers Konferenz. Hier gibt sie einen ersten Einblick, was hinter dem Konzept der Dekolonisierung der Mode steckt.

Die Modebranche ist ein Spiegel der Gesellschaft. Historisch gesehen ist sie daher nicht nur ein Ausdruck von Stil und Individualität, sondern auch von Machtverhältnissen und kultureller Dominanz. Die Notwendigkeit, diese kolonialen Strukturen zu erkennen und aktiv zu dekonstruieren, ist zentral für die Schaffung einer gerechten und inklusiven Modeindustrie.

Beatrace Angut Oola, Gründerin der Plattform Fashion Africa Now, setzt sich bereits seit Jahren für die Dekolonisierung in der Mode ein. Mit ihrem Engagement möchte sie die Sichtbarkeit Schwarzer Menschen in der Modeindustrie erhöhen. In unserem Gespräch erzählt sie von den Herausforderungen und Möglichkeiten dieses Wandels und wie sich die Bewegung in der DACH-Region entwickelt.

Beatrace, du bist Fürsprecherin für Dekolonisierung. Wie definierst du das Konzept?

„Für mich ist die Dekolonisierung der Mode eine tiefe und kritische Auseinandersetzung mit der Branche. Es geht darum, bestehende, oft kolonial geprägte Denkweisen und stereotype Darstellungen in Frage zu stellen und zu verändern. Besonders wichtig ist dabei, dass weiße Modeschaffende sich ihrer eigenen Rolle und Position bewusst werden. Das Konzept der Critical Whiteness spielt hier eine große Rolle, denn es fordert eine kritische Reflexion des eigenen Weißseins und der damit verbundenen Privilegien und Strukturen. Ein echter Wandel kann aber nur erfolgen, wenn die Perspektiven und Stimmen von BIPoC integriert und gehört werden. Ohne diese Perspektiven bleibt das Bild unvollständig und die Dekolonisierung der Mode nur ein leeres Versprechen.“

Warum ist die Modebranche kolonialisiert?

Die Kolonialisierung der Modebranche manifestiert sich auf verschiedenen Ebenen:

  • Die Praxis der Aneignung traditioneller Designs und Handwerkskunst kolonialisierter Länder durch die Kolonialmächte setzt sich heute fort in Form von kultureller Aneignung: Dominierende Kulturen nutzen Elemente aus marginalisierten Kulturen für die Mode, oft ohne angemessene Anerkennung oder Verständnis für deren kulturelle Bedeutung.
  • Die Modeindustrie hat eine lange Geschichte der Ausbeutung von Ressourcen und Arbeitskräften in kolonisierten Ländern. Von Baumwollplantagen, die durch Ausbeutung  versklavter Menschen bewirtschaftet wurden, bis zu modernen Sweatshops, perpetuiert die Modebranche globale Ungleichheiten, die in der Kolonialzeit begründet wurden.
  • Menschen aus kolonisierten Ländern und deren Nachkommen erleben in der Modebranche oft Unterrepräsentation und Stereotypisierung. Das ist sowohl in unternehmerischen Führungspositionen als auch in der medialen Darstellung zu beobachten. Werden sie repräsentiert, dann geschieht dies oft durch stereotypisierte und eindimensionale Darstellungen.
  • Die globale Marktdominanz und Konsumkultur ist überwiegend von Marken und Designer*innen aus ehemaligen Kolonialmächten geprägt. Diese Dominanz verstärkt eine Konsumkultur, die häufig die Wertschätzung für die Vielfalt der Kulturen und die Nachhaltigkeit der Produktion vernachlässigt.
  • Altkleiderexporte aus westlichen Ländern in afrikanische Länder können die lokale Textilindustrie beeinträchtigen, Umweltschäden verursachen und Probleme wie niedrige Preise, Mülldeponierung und schlechte Arbeitsbedingungen mit sich bringen – ähnlich den Auswirkungen der kolonialen Vergangenheit.

Warum ist die Einbeziehung der BIPoC-Perspektive in den Prozess der Dekolonisierung so wesentlich?

„Die Einbeziehung der BIPoC-Perspektive ist von entscheidender Bedeutung, weil das Wort ‚Dekolonisieren’ oft metaphorisch verwendet wird, um Veränderungen in Bereichen wie Design, Mode und Musik anzudeuten. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass in dem Wort ‚dekolonisieren’ auch das Wort ‚kolonisieren’ steckt, was auf die historischen Ereignisse der Kolonisierung verweist. Diese Ereignisse werden oft übersehen oder als irrelevant betrachtet.” 

Kannst du ein Beispiel für die problematische Nutzung des Begriffs der Dekolonisierung nennen?

„Heutzutage behaupten Institutionen, die selbst an der Kolonisierung beteiligt waren – denken wir an Museen und die Raubkunst –, sie würden sich dekolonisieren. Das erscheint mir widersprüchlich. Ohne die aktive Beteiligung und Sichtweise der von Kolonialismus betroffenen Gemeinschaften – also der BIPoC –, fehlt uns ein wesentliches Verständnis dafür, was ‚Dekolonisierung’ wirklich bedeutet und wie sie erreicht werden kann.“

Du selbst verwendest oft den Begriff Deconstructing Fashion”. Was unterscheidet dieses Konzept von Decolonizing Fashion”?

Deconstructing Fashion’ bezieht sich auf konkrete Handlungen und Veränderungen, die auf einer bereits erfolgten Sensibilisierung aufbauen. Nachdem eine kritische Auseinandersetzung mit der Mode stattgefunden hat, geht es darum, den nächsten Schritt zu machen und gesellschaftlichen Wandel zu fördern. Deconstructing’ bedeutet, nicht mehr tragbare Strukturen zu erkennen und diese nicht nur zu hinterfragen, sondern auch aktiv zu verändern. Wir bauen neue, gerechtere Strukturen auf und integrieren dabei auch die von BIPoC geleiteten Strukturen.” 

Was ist das Ziel dieses Konzepts? 

„Das Ziel von Deconstructing’ ist es, eine gleichberechtigte Teilhabe zu erreichen und diese in einer neuen, gerechten Grundlage zu verankern. Im Gegensatz zu Decolonizing’, das oft mit der kulturellen Aneignung in Verbindung gebracht wird, steht Deconstructing’ für eine Kultur der Wertschätzung und des Respekts. Es geht um ein Umdenken in der Art, wie wir Wirtschaft betreiben und wie wir die kulturelle Vielfalt in der Modeindustrie repräsentieren und wertschätzen.“

Wie hat sich der Prozess der Dekolonisierung in der Modebranche in den letzten Jahren entwickelt?

„Die Dekolonisierung der Mode hat besonders im akademischen Bereich an Dynamik gewonnen. Doch trotz dieses Fortschritts erreicht das Konzept noch immer nur eine spezifische Gruppe von Menschen. Es bewegt sich sehr langsam hin zum gesellschaftlichen Mainstream, was zeigt, dass noch viel Arbeit vor uns liegt. Umfassende Konzepte wie Critical Whiteness und White Fragility sind entscheidend für diesen Prozess, müssen aber noch fest in unserem Verständnis und Handeln verankert werden.“

„‚Deconstructing’ bedeutet, nicht mehr tragbare Strukturen zu erkennen und diese nicht nur zu hinterfragen, sondern auch aktiv zu verändern.“
Beatrace Angut Oola, Gründerin von Fashion Africa Now

Was ist für diesen Prozess wichtig? 

„Zuhören ist wichtig, BIPoC den nötigen Raum zu geben und als weiße Person die eigene rassistische Prägung zu erkennen und anzuerkennen. Diese Anerkennung ist grundlegend. Ohne sie ist es schwierig, echte Fortschritte zu machen. Wir müssen uns auch bewusst sein, dass wir alle irgendwie geprägt sind, wie ich selbst bei meinen Reisen nach Ghana oder Uganda feststelle. Dort sind die Menschen immer noch kolonial geprägt. In den Schulen wird die ehemals koloniale Sprache gesprochen und gilt in vielen Ländern immer noch als Amtssprache. Die Herausforderung besteht darin, sich der eigenen Abwehrhaltung zu stellen, sie zu überwinden und sich für den Lernprozess zu öffnen.“

Begegnet dir diese Abwehrhaltung in Unternehmen in der DACH-Region? 

„Ja, tatsächlich begegne ich dieser Haltung häufig. Viele Unternehmen scheinen nicht bereit zu sein, ihre eigenen Machtstrukturen und die damit verbundenen Privilegien zu hinterfragen. Es mangelt an Bildungsangeboten, die über den akademischen Kontext hinausgehen und der breiten Gesellschaft zugänglich sind, um ein tieferes Verständnis für diese komplexen Themen zu schaffen. Oft fehlt es an grundlegendem Zugang zu dieser wichtigen Bildung.”

Glossar
  • BIPoC steht für „Black, Indigenous, People of Color“. Der Begriff beschreibt Menschen afrikanischer, indigener und anderer nicht-weißer Herkunft. Er zielt darauf ab, die einzigartigen Erfahrungen und Geschichten dieser Gruppen innerhalb von Diskursen über Rassismus und soziale Ungleichheit anzuerkennen. 
  • White Fragility ist ein Begriff, den die amerikanische Soziologin Robin DiAngelo prägte. Er beschreibt die Schwierigkeit oder Unfähigkeit weißer Menschen, rassismuskritische Diskussionen zu ertragen oder daran teilzunehmen, oft begleitet von Reaktionen wie Wut, Abwehrhaltung oder Schweigen. Der Begriff soll erklären, wie die mangelnde Auseinandersetzung mit eigenen Privilegien und Rassismus zu einer Verstärkung bestehender rassistischer Strukturen führen kann. 
  • Critical Whiteness (Kritische Weißseinsforschung) ist ein akademisches Feld, das sich mit der Analyse und Dekonstruktion von Weißsein und dessen Rolle in der Aufrechterhaltung von Rassismus und sozialer Ungleichheit befasst. Ziel der Critical Whiteness Studies ist es, oft unsichtbare Strukturen, Privilegien und Normen zu untersuchen, die Weißsein als Norm etablieren und aufrechterhalten. Es geht darum, bewusst zu machen, wie Weißsein etwa in gesellschaftlichen Strukturen, Kultur und Bildung verankert ist und wie dies zur Marginalisierung und Unterdrückung von BIPoC beiträgt.

Welche Best-Practice-Beispiele zeigen, wie Unternehmen aktiv an der Dekolonisierung der Modebranche und der Förderung von Diversität arbeiten?

Ein gutes Beispiel ist die Marke Wildling. Sie haben den Mut bewiesen, sich dem Thema zu stellen und mit Fashion Africa Now und dem Modelabel Nkwo zusammenzuarbeiten. Obwohl die Zusammenarbeit für die Community von Wildling herausfordernd war und auch negative Reaktionen hervorrief, war es ein wichtiger Schritt. Es verdeutlicht, dass der Weg zu einer authentischen und tiefgehenden Auseinandersetzung mit diesen Themen anspruchsvoll ist, aber genau diesen Weg müssen wir beschreiten.

Ein anderes, interessantes Beispiel, das ich kürzlich gesehen habe, ist die Reaktion der Düsseldorfer Brand LFDY auf die Situation in Kenia. Ihre überproduzierte Ware landete dort ohne Handelsrechte und statt sofort rechtliche Schritte einzuleiten, entschied sich die Marke, den Händler aus Nairobi zu treffen und kennenzulernen. Sie integrierten ihn und seine Freund*innen in die Planung ihrer Sommerkollektion. Das zeigt eine gewisse Bereitschaft zur Zusammenarbeit und zum Verständnis der lokalen Kontexte. LFDY unterstützt sogar die Gründung einer eigenen Marke für junge Kreative vor Ort, was einen positiven Beitrag zur Dekolonisierung in der Modeindustrie leistet.”

Vielen Dank für das Gespräch, Beatrace. 

Mehr zu Dekolonisierung & Mode auf der Fashion Changers Konferenz

Du willst mehr zum Thema wissen? Dann bist du bei uns richtig. Denn: Beatrace Angut Oola wird auf der Fashion Changers Konferenz 2024 einen Vortrag zum Thema „Deconstructing Fashion“ halten.

Dieser Programmpunkt orientiert sich an den SDGs 10 „Weniger Ungleichheiten“ und 17 „Partnerschaften zur Erreichung der Ziele“ der 17 Ziele für Nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen.

Über Beatrace Angut Oola

Beatrace Angut Oola zählt zu den globalen Pionierinnen der African-Fashion-Bewegung. Sie arbeitet als freie interdisziplinäre Kuratorin und Creative Consultant mit einem Fokus auf Fashion Installationen und Editorial sowie als Gastdozentin an der Hochschule für Künste in Bremen. Außerdem berät sie mit ihrer Kreativagentur (APYA) Unternehmen und kulturelle Institutionen. Seit 2010 arbeitet sie in der Kultur- und Kreativbranche und fördert die Sichtbarkeit für zeitgenössische Modedesigner*Innen afrikanischer Herkunft. 2016 gründete Beatrace Angut Oola die interdisziplinäre Plattform Fashion Africa Now, für die sie 2022 als Kultur-und Kreativpilotin ausgezeichnet wurde. 2023 folgte die Nominierung der Top 10 Culture for Impact List vom United Nations Museum. Fashion Africa Now dient sowohl als Brückenschlag afrikanischer Kreativer nach Deutschland/Europa als auch als Zugang für deutsche Kreativschaffende und Unternehmen.

Dieser Artikel wurde erstmals im Februar 2024 von Medina Imsirovic geschrieben und auf fashionchangers.de veröffentlicht und im Juli 2024 von der Fashion Changers Redaktion eingekürzt.

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